&&lg=0 &&___A4A5A6_Z0___halb16zu9_Z16___T3A7_Z-1___SVGHTML_Z0 &&am Wera Figner &&fa {{Nacht über Russland}} &&fe Lebenserinnerungen &&ak=1 Malik {{[Malik]}} -Verlag, Berlin Einzige von der Verfasserin autorisierte Übersetzung aus dem Russischen 1926 &&sw03 &&nsr &&am {{Inhalt}} &&gv &&nsr &&al &&lg=x &&ll=0 &&x &&g0="Vorwort_zur_deutschen_Ausgabe" Vorwort zur deutschen Ausgabe &&SGLogo &&fz1 &&fzs=1 &&ax In meiner Jugend – es war noch die Zeit der Leibeigenschaft – herrschten rauhe Sitten, und ich kann nicht sagen, daß ich eine leichte Kindheit gehabt hätte. Mein Vater war ein strenger, despotischer, aufbrausender Mann, und meine[[Besitz]] Mutter vermochte mit ihrem weichen Charakter nicht gegen ihn aufzukommen. Zärtliche Liebe fanden wir Kinder nur bei unserer alten Kinderfrau, die bereits von meinem Großvater aus der Leibeigenschaft entlassen worden war. Der Beruf meines Vaters brachte es mit sich, daß ich die sechs ersten Jahre meines Lebens in völliger Einsamkeit, im Walde, zubrachte: rings um unser Haus gab es weithin keine menschliche Behausung, keine Siedelung. Im Jahre 1858 zogen wir zu unserem Großvater aufs Gut; auch dort hatten wir keine Gutsnachbarn, die Dorfkinder aber standen mit denen der Gutsherrschaft in keiner Verbindung. Ich war elf Jahre alt, als man mich in das staatliche Mädchenpensionat, ins »Institut« nach Kasan {{[Kasan]}} brachte; sechs Jahre blieb ich dort und kam im Laufe dieser Zeit nur viermal, während der Sommerferien, für sechs Wochen zu den Eltern aufs Gut. Das war eben die Regel. So konnte ich bis zu meinem siebzehnten Jahre alle Vorstellungen über das reale Leben und über die Menschen nur aus Erzählungen und Romanen schöpfen, die mir meine[[Besitz]] Mutter während der Ferien zu lesen gab. In der Schule war ich immer die Erste: ich hatte gute Fähigkeiten und liebte von Kind an zu lesen und zu lernen. Aber an wirklichem Wissen bot das Institut nur sehr wenig; man hielt uns nicht zum Lesen an und gab uns auch keine Bücher. Niemand kümmerte sich um unsere geistige Entwicklung. Als ich dreizehn Jahre alt war, und man uns in der Schule das Neue Testament zum Lernen gab, schöpfte ich alle höheren sittlichen Vorstellungen aus den Evangelien. Ich legte mir diese Vorstellungen aber selber zurecht und nicht dank dem Priester, der uns unterrichtete. Ich bin nie religiös gewesen. Insofern war das Leben im Institut gut, als es – wir waren 150 Mädchen verschiedenen Alters – in mir das Gefühl für Kameradschaft entwickelte, wie das ja immer beim Zusammenleben unter gleichen Verhältnissen zu sein pflegt. Nach Abschluß der Schuljahre kehrte ich zu meinen[[Besitz]] Eltern aufs Gut zurück in die weltverlorene Einsamkeit; der einzige Gast, der uns häufiger besuchte, war mein Onkel mütterlicherseits – der Friedensrichter Kuprijanow {{[Kuprijanow]}}. Zeitschriftenlektüre und Unterhaltungen mit meinem Onkel erweckten in mir den Wunsch, nach einer nützlichen Tätigkeit zu suchen; ich entschloß mich, in die Schweiz zu reisen, mich an der Universität Zürich immatrikulieren zu lassen, um dann später als Ärztin auf dem Lande zu arbeiten; damals hatten bereits zwei Russinnen die medizinische Fakultät absolviert. In der Schweiz (1872) schloß ich mich einem Kreis junger Studentinnen an, damals studierten über hundert russische Frauen in Zürich. Eine ganze Welt neuer Ideen öffnete sich mir: ich lernte Lassalles {{[Lassall]}} Lehre und Wirken kennen, auch die Theorien der französischen Sozialisten, die Arbeiterbewegung, die Internationale und die Geschichte der Revolutionen der westeuropäischen Länder. Dieses alles, wovon ich bislang nichts gewußt hatte, erweiterte meinen[[Besitz]] geistigen Horizont, nahm mich ganz gefangen, und so wurde ich Sozialistin und Revolutionärin. Wir hatten uns zu einem revolutionären Kreis vereinigt und beschlossen, nach Rußland zurückzukehren und uns mit der Propaganda der neuen Ideen unter den Arbeitern und Bauern zu befassen. Zehn oder elf Mitglieder unseres Kreises kehrten bald darauf in die Heimat zurück, wo sie sich als einfache Arbeiterinnen in Fabriken anstellen ließen und dort eine weitgehende revolutionäre Tätigkeit entfalteten. Sie[[1]] wurden aber bald verhaftet, vor Gericht gestellt und nach Sibirien verbannt. Unter ihnen befand sich meine[[Besitz]] Schwester Lydia {{[Lydia]}}. Im Dezember 1875 verließ auch ich die Universität, schloß mich in Petersburg mit anderen Revolutionären zusammen und wurde im Herbst Mitglied einer großen geheimen Gesellschaft »Land und Freiheit«. Ziel dieser Gesellschaft war, das ganze Land dem Volk zu geben, das Mittel, um zu diesem Ziele zu gelangen – die Revolution, zu der wir, in Dörfern verstreut lebend, die Bauern vorbereiten und organisieren wollten. Der Boden dafür schien da zu sein. Nach den schweren Mißerfolgen des Krimkrieges, die die ganze Rückständigkeit Rußlands an den Tag brachten, bestieg, nach dem Tode seines Vaters Nikolaus {{I}}., Alexander {{II}}. im Jahre 1855 den Thron; er schickte sich an, eine Reihe von Reformen durchzuführen, die unser Land erneuern und es zu neuem Leben erwecken sollten. Die wichtigste dieser Reformen war die Bauernbefreiung im Jahre 1861. Die Bauern erhielten Freiheit der Person und einen Teil des Landes der Gutsbesitzer, deren Leibeigene sie gewesen waren. Diese Reform befriedigte die Bauern jedoch nicht; sie hatten erwartet, gleichzeitig mit der persönlichen Freiheit auch das ganze im Besitz der Gutsbesitzer befindliche Land zu bekommen; doch da der Bauer nur einen winzigen Bruchteil erhalten hatte, wollte er nicht glauben, daß ihm die wirkliche Freiheit gegeben sei, und er meinte, es müßte ihm eine andere Freiheit gegeben werden, die das ganze Land dem Volke zuteilen würde. Von jeher waren die Volksmassen davon überzeugt gewesen, daß das Land niemand gehöre, daß es »Gottes Land« sei, und daß der natürliche Besitzer dieses Landes nur der sein könne, der es auch bearbeite. Diese Auffassung geht wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte des russischen Volkes, und seit der Bauernbefreiung gehörte die Losung »Das Land – dem Volke« in jedes revolutionäre Programm. Auf diesen Hoffnungen basierte auch die revolutionäre Bewegung meiner Zeit. Sie[[1]] hallten in der Revolution des Jahres 1905 wider und wurden erst in der Revolution 1917,18 Wirklichkeit. &&x Zunächst ließ ich mich im Gouvernement Samara {{[Samara]}} nieder, dann – zusammen mit meiner Schwester Eugenie {{[Eugenie]}} – im Gouvernement Saratow {{[Saratow]}}, wo ich einem Landkrankenhaus des Semstwo {{[Semstwo]}} vorstand. Hier sah ich überall furchtbare Armut, völlige Unbildung und ängstliche Niedergeschlagenheit. Die Bauern waren unfähig, ihre legalsten Rechte zu vertreten und sich zur gemeinschaftlichen Verteidigung ihrer Interessen aufzuschwingen. Das kulturelle Niveau der Bevölkerung war so niedrig, daß an eine revolutionäre Propaganda gar nicht zu denken war. Wir waren hier lediglich darauf bedacht, durch unsere Arbeit das Bildungsniveau zu heben. Meine[[Besitz]] Schwester Eugenie gründete eine unentgeltliche Schule, da es ringsum für die 30 000 Kopf zählende Bevölkerung keine einzige Schule gab; ich meinerseits leistete ärztliche Hilfe und habe im Verlauf von zehn Monaten fünftausend Kranke behandelt; in unserer freien Zeit kamen wir nicht etwa mit Gutsbesitzern, nicht mit dem Priester und den kleinen ländlichen Machthabern, sondern mit den Bauern zusammen, deren geistiges Niveau wir durch Gespräche und Lektüre »legaler« Bücher zu heben suchten. Aber im despotischen Staat erregte jede uneigennützige Arbeit am Volke, jede Annäherung intelligenter Menschen an das Volk Verdacht und erschien der Regierung gefährlich und verbrecherisch. Wir wurden von Spitzeln verfolgt und denunziert. Die Bauern wurden mit Drohungen terrorisiert: man würde sie, wenn sie mit uns fernerhin Umgang suchten, nach Sibirien verschicken. Schließlich sahen wir uns im Frühjahr 1879 gezwungen, fortzuziehen. Es hatte keinen Zweck, länger zu bleiben, man hätte uns ja doch nach Sibirien verbannt. Und so erging es nicht uns allein, sondern auch den anderen Genossen, die sich in derselben Lage befanden. Sechs Jahre schon wütete in Rußland die Reaktion. Die zu Beginn der Regierung Alexanders {{II}}. durchgeführten Reformen wurden bereits beschnitten, die Presse war von der Zensur geknebelt, die Gerichtsbarkeit durch administrativen Druck verzerrt worden; die Jugend wurde für den leisesten Versuch, sich korporative Rechte zu sichern, aus den Universitäten gejagt. Die Gefängnisse waren überfüllt; ein politischer Prozeß jagte den anderen; Zuchthaus und Verbannung wurden Zahlloser Schicksal. Keinerlei organisierte Kulturunternehmungen wurden geduldet; die Menschen wurden verfolgt, Haussuchungen und Polizeiaufsicht waren an der Tagesordnung, desgleichen Deportationen ohne vorheriges Urteil, nicht etwa für Taten, sondern für die Gesinnung, für sogenannte »politische Unzuverlässigkeit«, d. h. für ein gemutmaßtes ablehnendes Verhalten zur inneren Politik der Regierung. Diese Repressalien waren schließlich unerträglich; die Stimmung der jugendlichen Intelligenz wurde mehr und mehr der Regierung und dem Polizeiregime feindlich: man empfand die Notwendigkeit, zu kämpfen, Widerstand zu leisten. Diese Stimmung führte zu politischen Morden, zu bewaffnetem Widerstand bei Verhaftungen, zu gewaltsamer Gefangenenbefreiung. Im Jahre 1878 brachte jeder Monat neue aufregende Nachrichten über Ermordung von Spionen und Lockspitzeln, von Staatsanwälten und Gendarmen, die durch besondere Grausamkeit sich ausgezeichnet oder durch politische Repressalien und Prozesse ihre Karriere zu fördern gesucht hatten. Die Folge davon war, daß die Einmütigkeit in der Gesellschaft »Land und Freiheit« zu schwinden begann: ein Teil der Mitglieder wollte die Arbeit unter den Bauern fortsetzen, andere wieder, die stürmischer und unternehmender waren, hielten dies unter den gegebenen Verhältnissen für fruchtlos. Diese Verhältnisse mußten geändert, die Hindernisse, die im Wege lagen, mußten beseitigt werden. Zu diesem Zweck muß der Absolutismus bekämpft, er muß gebrochen und die politische Freiheit errungen werden, wie sie alle westeuropäischen Völker haben. Die Anhänger dieser Richtung, zu der auch ich gehörte, gründeten eine neue revolutionäre Partei – den »Volks-Willen« (»Narodnaja Wolja« {{[Narodnaja Wolja]}}). Ihr Ziel war – Niederwerfung der Selbstherrschaft; an Stelle des Willens eines einzelnen wollten wir den Willen des Volkes setzen. Die Partei sollte alle Unzufriedenen, ohne Unterschied der Klassen, die damals in Rußland noch nicht differenziert wurden, zusammenfassen. Eine allgemeine, gegen die Regierung gerichtete Verschwörung, die sich auf die Organisation der Offiziere des Landheeres und der Marine stützte, sollte ihren Händen die Macht entreißen, einen Umsturz bewirken, um alsdann eine Republik zu gründen, die konstituierende Versammlung einzuberufen und das ganze Land den Werktätigen zu übergeben. (Seit 1905 wurde das »Sozialisierung des Landes« genannt.) Es war das historische Verdienst des »Volks-Willens«, das Problem der Eroberung der politischen Freiheit in dieser Schärfe aufgerollt zu haben. In den siebziger Jahren stand die russische revolutionäre Bewegung stark unter dem Einfluß der Bewegungen in Westeuropa. Dort aber, in den romanischen Ländern, suggerierte die Enttäuschung des französischen Proletariats nach der Unterdrückung der Revolution des Jahres 1848 und Bakunins {{[Bakunin]}} anarchistische Propaganda der Arbeiterklasse die Zwecklosigkeit ihrer Teilnahme am politischen Leben des Staates. Die politische Freiheit hatte die Arbeiterklasse Europas nicht vom wirtschaftlichen Joch befreit, und darum war man bei uns der Meinung, die russischen Revolutionäre müßten ganz direkt auf einen wirtschaftlichen Umsturz hinarbeiten, da eben dieser Umsturz ganz von selbst die politische Freiheit im Gefolge haben würde. Hiervon ausgehend, trugen die russischen Sozialisten die Propaganda gleichsam mit nackten Händen in die Volksmassen: weder hatten sie Rede-, noch Versammlungs- und Verbandsfreiheit, deren sich ihre westeuropäischen Brüder längst schon erfreuten. So lagen die Dinge vor Gründung des »Volks-Willens«. Bittere, zehnjährige Erfahrung, die der russischen revolutionären Jugend tausend Opfer kostete, trug endlich dazu bei, daß man zu der Erkenntnis durchdrang, der Sturz des Zarismus sei die erste und vornehmste Aufgabe des ganzen denkenden Rußland. Mit dem Beispiel des Kampfes gegen den Absolutismus voranzugehen und um den Preis des eigenen Lebens in die Gemüter die Idee dieses Kampfes einzuhämmern, war die Aufgabe, die sich der »Volks-Wille« stellte. Er ist dieser Aufgabe gerecht geworden. Nach seinem beispiellos hartnäckigen Kampf wurde die Forderung politischer Freiheit zu einem festen Bestandteil aller sozialistischen Parteien Rußlands. Der Widerhall der Kämpfe, die der »Volks-Wille« führte, hielt die Gemüter noch lange in Bann, und erst um die Mitte der neunziger Jahre, als sich die wirtschaftlichen Bedingungen Rußlands änderten, und es nicht mehr reiner Agrarstaat war, sondern bedeutende Fortschritte auf industriellem Gebiete gemacht und eine hinreichend starke industrielle Arbeiterklasse sich gebildet hatte, änderte die revolutionäre Bewegung ihren Kurs in der Richtung des sozialdemokratischen Programms, und damit hatte der »Volks-Wille« seine Rolle ausgespielt, die indessen teilweise seit dem Jahre 1900 von der Partei der »Sozial-Revolutionäre« fortgeführt wurde. &&x Seit Begründung des Verbandes »Volks-Wille« stand ein »Vollzugskomitee« an seiner Spitze, das sich aus jenen zusammensetzte, die an der revolutionären Bewegung der vergangenen Periode teilgenommen hatten. Mit Scheljabow {{[Scheljabow]}}, Perowskaja {{[Perowskaja]}}, Morosow {{[Morosow]}}, Kwatkowski {{[Kwatkowski]}} u. a. gehörte auch ich diesem Vollzugskomitee an. Indem das Vollzugskomitee der absoluten Monarchie den Krieg erklärte, erklärte es ihn gleichzeitig dem absoluten Monarchen, der über ein nach vielen Millionen zählendes Volk herrschte, die Verantwortung für dessen Geschick auf sich allein nahm und seine wirtschaftlichen und geistigen Kräfte nicht zu freier Entfaltung kommen ließ. Das Vollzugskomitee sorgte nicht nur für Mehrung und Organisation der Kräfte, sondern es beschloß auch, mit den ihm zu Gebote stehenden Kräften sogleich den Kampf gegen den mächtigen Monarchen, der über den sechsten Teil des Erdenrunds herrschte, aufzunehmen. Im Laufe von drei Jahren erschütterte das Vollzugskomitee mit seinen Terrorakten ganz Rußland und konzentrierte die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den Kampf der kleinen Gruppe gegen den Kaiser. In diesem Zeitraum organisierte das Komitee sieben Attentate auf Alexander {{II}}., von denen vier nicht zustande kamen: 1879 einen Anschlag auf den kaiserlichen Zug bei Moskau; 1880 erfolgte die Explosion im Winterpalais {{[Winterpalais]}} in Petersburg und am 13. März 1881 fiel der Kaiser, von einer Bombe zerrissen, die – gemäß dem Spruch des Vollzugskomitees – von einem Parteimitglied geworfen worden war. Hierauf wurde die Partei, infolge Verrats durch einige Mitglieder, vernichtet [Fußnote: Von 1879 bis 1884 wurden gegen zwanzig Mitglieder vor Gericht gestellt, zehn wurden hingerichtet, weitere zum Tode Verurteilte wurden begnadigt und in die Kasematten der Festung Schlüsselburg geworfen; die übrigen wurden nach Sibirien verbannt.]. 1884 machte man mir den Prozeß, und ich wurde nach Schlüsselburg geschafft. In meinen[[Besitz]] Erinnerungen habe ich die Entstehung und das Programm der Gesellschaft »Land und Freiheit«, die Spaltung innerhalb der Gesellschaft und die Bildung der Partei »Volks-Wille«, die dramatische Geschichte und den Untergang des Vollzugskomitees, schließlich auch die Geschichte meiner zwanzigjährigen Gefangenschaft in der Festung Schlüsselburg geschildert. Als ich im Jahre 1904 aus Schlüsselburg wieder in die Peter-Paulsfestung und bald darauf freikam, durchlebte ich eine überaus heftige Erschütterung, – ich konnte das gewöhnliche Menschenleben nicht mehr ertragen. Indessen hatte man mich in das Gouvernement Archangelsk {{[Archangelsk]}} schaffen lassen, in die schwierigsten Lebensverhältnisse, in Kälte und Einsamkeit. Meine[[Besitz]] Nerven waren vollkommen zerrüttet, ich mußte ins Ausland reisen, um meine[[Besitz]] Gesundheit wieder herzustellen; den Auslandspaß bekam ich aber erst im November 1906. Meine[[Besitz]] Erlebnisse während der zwei ersten Jahre meiner Freiheit sind in meinem Buche »Nach Schlüsselburg« beschrieben. Im Ausland bin ich etwa acht Jahre geblieben. Sobald meine[[Besitz]] Gesundheit sich etwas gebessert hatte, suchte ich mich der sozialrevolutionären Partei anzuschließen. Doch sollte ich bald ganz auf Politik verzichten. Die 22 jährige Abwesenheit aus dem Leben machte es mir unmöglich, mit einem Schritt die Evolution politischer Parteien, revolutionärer Sitten und Verhältnisse einzuholen. Ich fühlte mich fremd, abgesondert und nutzlos in ganz neuen Verhältnissen. So arbeitete ich auf anderem Gebiet. Ich begründete in Paris ein Hilfskomitee für die zu Zwangsarbeit Verurteilten. Und drei Jahre lang agitierte ich mit Erfolg gegen die Grausamkeiten in russischen Gefängnissen. Über 100 000 Franken wurden gesammelt; in England, Belgien und der Schweiz wurden von mir Vorlesungen über Gefängnisse gehalten. Meine[[Besitz]] Broschüre darüber wurde ins Französische, Deutsche, Italienische und Rumänische übersetzt. Unsere Regierung machte dieser Agitation und Hilfe ein Ende. Ihre Maßregeln haben die Übergabe des Geldes in Gefängnisse ganz abgeschafft. So mußte ich meine[[Besitz]] Kräfte anders einsetzen. Ich begann meine[[Besitz]] Memoiren zu schreiben. Als der Krieg ausbrach, eilte ich nach meinem Vaterlande zurück. Doch wurde ich an der Grenze verhaftet und in Nishni Nowgorod {{[Nishni Nowgorod]}} unter Polizeiaufsicht gestellt. Dort arbeitete ich in einem Volksbildungsverein bis ich endlich im Dezember 1916 nach Petersburg umziehen konnte. Dort habe ich als Augenzeugin die Februarrevolution erlebt. Ich wurde zur Vorsitzenden des Amnestiertenkomitees gewählt; während acht Monaten organisierte ich neben andern Arbeiten die Hilfe für mehr als 4000 gewesene »Politische«. Die Oktoberrevolution und unser Bürgerkrieg brachten mir viel Leiden, da ich derartige soziale Erschütterungen nicht erwartet hatte. Ich dachte, es müsse noch eine gewisse Zeit der nötigen politischen Erziehung unseres Volkes vorangehen. In meiner Jugend hatte das Studium der französischen Revolution von 1789 zwar einen bestimmenden Einfluß auf mich ausgeübt; doch lag über jener Revolution in vergangenen Zeiten, in der sich die politischen Parteien gegenseitig zerfraßen, der Schleier eines Jahrhunderts und so ließ sie keinen Vergleich zu mit dem Schauspiel, mit den Kämpfen, die sich jetzt vor meinen[[Besitz]] Augen abspielten. Heute, nachdem die Wogen der Revolution in ihre Ufer zurückgetreten sind, suche ich auf kulturellem Gebiet nützlich zu sein. Neben literarischer Arbeit und der Hilfeleistung für die Opfer unseres Bürgerkrieges betätige ich mich seit vier Jahren als Vorsitzende des Kropotkin {{[Kropotkin]}} -Komitees, das unter den ungünstigsten Umständen verstanden hat, ein schönes Kropotkin-Museum zu schaffen. Zugleich bin ich bemüht, Bildungs- und Erziehungsanstalten auf dem Lande zu unterstützen. &&ar Moskau, am 13. Mai 1926 Wera Figner &&nsr &&am &&x &&g0="ERSTER_TEIL:_Freiheit_oder_Tod" &&fa Erster Teil Freiheit oder Tod &&g1="Zu_Hause" Zu Hause &&fe &&ax Ich bin am 24. Juni 1852 im Kasaner {{[Kasan]}} Gouvernement geboren. Mein Vater entstammte dem dortigen Adel. Meine[[Besitz]] Mutter war die Tochter des Bezirksrichters Kuprijanow {{[Kuprijanow]}}, der es verstanden hatte, zu seinen Lebzeiten sein ganzes großes Vermögen zu verschwenden. Obgleich er über 6000 Desjatinen {{[Desjatinen]}} Land besaß, waren nach seinem Tode seine Vermögensverhältnisse in einer derartigen Verwirrung, daß seine Erben es vorzogen, auf die Erbschaft ganz zu verzichten, denn die Schulden, die er hinterließ, waren so groß, daß man sie nicht einmal annähernd feststellen konnte. Mein Vater, Nikolai {{[Nikolai]}} Alexandrowitsch {{[Alexandrowitsch]}} Figner, war in der Forstschule erzogen und diente nach Beendigung seines Studiums als Förster. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft quittierte er den Dienst und wurde Friedensrichter. Wir waren sechs Kinder im Hause; zwei weitere Geschwister waren früh verstorben. Meine[[Besitz]] Eltern waren sehr energische, tüchtige und arbeitsfreudige Menschen. Wir verdanken ihnen in dieser Beziehung eine gute Erbschaft. Ich – die Älteste – beteiligte mich an der revolutionären Bewegung während einer ihrer berühmtesten Perioden. Ich wurde zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslänglicher Gefangenschaft in der Schlüsselburg begnadigt. Meine[[Besitz]] Schwester Lydia {{[Lydia]}} war Mitglied der revolutionären Organisation, die die sozialistische Propaganda unter den Fabrikarbeitern betrieb, und wurde dann später gemeinsam mit Bardina {{[Bardina]}} und Peter Alexejewitsch {{[Alexejewitsch]}} in den Prozeß der »Fünfzig« verwickelt. Es ist dies der bekannte Prozeß, der seinerzeit einen so tiefen Eindruck auf die Jugend und den liberalen Teil der russischen Gesellschaft gemacht hat. Das Urteil lautete auf Zwangsarbeit, die der Senat dann in Ansiedlung in Sibirien unter Verlust aller Bürger- und Vermögensrechte verwandelte. Mein Bruder Peter war Bergwerksingenieur im Ural und stand an der Spitze eines der größten Berg- und Hüttenwerke des Urals. Mein Bruder Nikolai hatte eine glänzende künstlerische Laufbahn; er wurde ein berühmter Sänger und war der erste, der in Rußland die Kunst des Sängers mit der des Schauspielers verband. Meine[[Besitz]] Schwester Eugenie {{[Eugenie]}} wurde angeklagt wegen Teilnahme an der Verschwörung im Prozeß Kwatkowski {{[Kwatkowski]}} – es handelte sich um das Attentat auf den Winterpalast im Jahre 1880. Auch sie wurde zum Verluste aller Rechte und Verbannung nach Sibirien verurteilt. Meine[[Besitz]] jüngste Schwester Olga {{[Olga]}}, ein sehr begabter und energischer Mensch, nahm wenig Anteil an der revolutionären Bewegung; sie heiratete den Arzt Florowski {{[Florowski]}}, dem sie nach Sibirien in die Verbannung folgte, und hat sich dort gemeinsam mit ihm viel der Kultur- und Aufklärungsarbeit gewidmet. Wir wurden äußerst streng erzogen; der Vater war heftig, streng und despotisch, die Mutter gut, sanft, aber machtlos. Sie[[1]] wagte es nie, uns zu liebkosen, geschweige denn, uns je vor dem Vater in Schutz zu nehmen. Meines Vaters Richtschnur in der Erziehung war: eiserne Disziplin und absolute Unterwerfung. Woher er den militärischen Geist hatte, weiß ich wahrhaftig nicht. Es war vielleicht der damals alles beherrschende Geist Nikolaus {{I}}., der seiner Erziehung und seiner Persönlichkeit das Gepräge aufgedrückt hatte. Wir Kinder aber mußten sehr darunter leiden. Pünktlich zur Minute mußten wir aufstehen und ebenso zur Minute schlafen gehen. Immer dieselbe Kleidung, dieselbe Frisur … nach jeder Mahlzeit sich bekreuzigen und den Eltern danken; bei Tisch durfte kein Wort gesprochen werden; widerspruchslos mußte alles gegessen werden, gleichgültig, ob es zu viel oder zu wenig war. Wir sollten lernen, nicht wählerisch zu sein. Tee[[Variante1]] bekamen wir nie, wir mußten immer Milch trinken und schwarzes Brot essen. Wir sollten unseren Magen nicht verwöhnen. Ebenso mußten wir ohne ein Wort der Klage Kälte ertragen. Nichts durften wir ohne Erlaubnis anrühren, besonders ja nicht Vaters Sachen; wenn das Unglück geschah, daß man etwas zerschlug oder auch nur an den unrichtigen Platz stellte, dann erstreckte sich der väterliche Zorn über das ganze Haus. Und dann setzte die Strafe ein: man mußte im Winkel stehen, wurde an den Ohren gezogen oder bekam Schläge mit dem Lederriemen, der immer dazu in Vaters Arbeitszimmer hing. Er strafte grausam, unbarmherzig. Wenn die Brüder gezüchtigt wurden, dann litten wir alle mit. Auch nicht die geringste Kleinigkeit blieb ungestraft. Wir durften nichts vor dem Vater verheimlichen – unerbittlich forderte er die strengste Wahrheit von uns, und die Mutter ging mit ihrem Beispiel darin voran. Wenn auch blutenden Herzens, da sie die Folgen kannte, so verheimlichte sie doch nie auch nur das geringste Vergehen vor dem Vater. Und diese Strenge erstreckte sich sogar auf Unvorsichtigkeiten im Spiel. Wenn wir uns irgendwie weh getan hatten, so kam noch zu dem natürlichen Schmerz die moralische und physische Mißhandlung des Vaters hinzu. Uns Mädchen schlug er nicht mehr, seitdem er mich einmal als sechsjähriges Kind während einer stürmischen Überfahrt über die Wolga fast zum Krüppel geschlagen hatte. Aber wenn er uns auch seitdem nicht mehr schlug, so fühlten wir uns doch nicht erleichtert: wir fürchteten ihn mehr als das Feuer; sein kalter, durchdringender Blick genügte, um uns das Blut in den Adern gerinnen zu lassen. Und mitten in dieser tödlichen, seelenlosen Kasernenatmosphäre war ein einziger heller Punkt: unser Trost und unsere Freude, unsere alte Wärterin. Rings um uns hatte niemand das geringste Verständnis für den kindlichen Charakter, die kindlichen Bedürfnisse. Keinerlei Nachsicht Kinderschwächen gegenüber, nichts als Unbarmherzigkeit und Härte. Nur im Zimmer der Wärterin, wohin der Vater nie kam, nur mit ihr allein fühlten wir uns wir selbst; wir fühlten uns als Menschen, Kinder und Herren, vor allem aber als geliebte und verwöhnte Kinder. Dieses Zimmer war für uns gewissermaßen ein Heiligtum, wo der Gekränkte und Erniedrigte sich wieder aufrichten konnte. Hier konnte man all sein Kinderleid enthüllen und Zärtlichkeit und Mitgefühl finden. Wie gut tat es, sich auf dem Schoße der Wärterin zu verbergen, sein Leid auszuweinen und die Tränen von ihren Küssen trocknen zu lassen! Die gütige, treue Seele! Wie einsam hätten wir ohne sie gelebt! Hier war eine Welt voll Wärme und Zärtlichkeit, ungehemmten Frohsinns, Liebe und Ergebenheit. &&x Allgemein fand man mich als Kind schön. Die Eltern behandelten uns Kinder gleichmäßig und machten keinerlei Unterschied zwischen uns. Im Gegensatz zu ihnen überschütteten mich die Freunde und Bekannten, die unser Haus besuchten, mit Liebkosungen und kleinen Geschenken und freuten sich an meinem Geplauder. Dieser stete Umgang mit Erwachsenen trug viel zu meiner frühen Entwicklung bei und veranlaßte mich, frühzeitig über mich selbst und über die Beziehungen der Menschen zu mir nachzudenken. Gedanken entstanden, die sonst dem Alter, in welchem ich mich damals befand, nicht eigen sind. Wir fuhren oft zu Besuch zu meiner Tante, die unweit von uns wohnte. Dort traf ich häufig einen Freund von ihr, der mich während unserer gemeinsamen Spiele seine »Frau« nannte; ich nannte ihn meinen[[Besitz]] »Mann«. Später, als ich sieben Jahre alt war, kam ein Brief von ihm an meine[[Besitz]] Tante, die ihn laut vorlas. Er teilte ihr seine Verheiratung mit. Ich war tödlich verletzt; wie wagte er es, zu heiraten, während er mich seine Frau genannt hatte! Das war einfach Verrat, den er an mir begangen hatte. Denn ich glaubte tatsächlich, er sei mit mir verbunden. Doch ich verbiß meinen[[Besitz]] Schmerz; ein innerer Instinkt sagte mir, daß ich ihn den Erwachsenen nicht zeigen dürfe. Warum ich es nicht durfte, begriff ich nicht; ich fühlte einfach, daß ich Schweigen müsse, und schwieg. Etwas in derselben Art ereignete sich noch einmal später, als ich neun Jahre alt war. Die Männer mit ihren übertriebenen Aufmerksamkeiten entwickelten in mir die Ansprüche einer Frau, während wieder andere unbewußt mich dazu drängten, den Erfolg im Leben zu suchen. In der Nähe der Stadt, etwa fünf Kilometer von ihr entfernt, lebten auf einem großen, schönen Gute zwei alte Schwestern, frühere Weltdamen, die ihr ganzes Leben in Petersburg verbracht hatten; erst im Alter hatten sie sich zurückgezogen und füllten nun ihre Tage und Nächte mit Kartenspiel aus. Aus der ganzen Umgegend kamen ununterbrochen Gäste, die gleich ihnen den »grünen Tisch« liebten. Die jüngere dieser Schwestern hatte erfahren, daß ich zu meiner Erziehung nach Petersburg in das Smolny {{[Smolny]}} -Institut kommen sollte. Sobald sie mich erblickte, mußte ich mich ihr gegenüber setzen, und sie begann, mir von dem Institut zu erzählen und mein künftiges Schicksal auszumalen. »Sieh zu, daß du immer gut lernst,« prägte sie mir immer wieder ein. »Du mußt unbedingt erste Schülerin sein. Sobald du die erste bist, bekommst du ein goldenes Ordensband als Auszeichnung. Die Großfürsten und sogar der Zar besuchen das Institut. Wenn du das Ordensband hast, dann fällst du auf und wirst Hofdame. Dann wirst du am Hofe leben, auf Hofbällen tanzen usw..« Bis dahin hatte ich außer dem Wald und dem Dorf, in dem ich meine[[Besitz]] Kindheit verlebt hatte, nichts gesehen. Ich lauschte darum den Erzählungen des alten Fräuleins wie Kinder den Märchen aus »Tausend und einer Nacht«. In jenen Jahren las uns die Mutter manchmal etwas vor, einmal, zum Beispiel, aus einem alten Geschichtsbuch eine Erzählung aus dem Leben der alten Moskauer Zaren. Es hieß dort, daß, sobald der Zar heiraten wollte, man im ganzen Lande den Befehl erließ, der Adel solle seine erwachsenen Töchter nach Moskau bringen. Dort am Hofe mußten sie sich alle versammeln, und der Zar wählte sich eine von ihnen, die Schönste, zur Frau. Sicherlich, dachte ich, werde ich auch nach Moskau kommen, sobald der Zar wird heiraten wollen. Ich sah noch keinen Unterschied zwischen der Vergangenheit und Gegenwart. »Von allen Mädchen wird er vielleicht mich wählen! Ich werde Zarin! … Meine[[Besitz]] Wärterin wird dann in Silber und Gold gehüllt sein, und ich – in Brillanten und Rubinen.« Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich tatsächlich in das Smolny-Institut eingetreten wäre; aber es kam nicht dazu. Statt dessen kam ich in das Kasaner Institut, wo gerade zu jener Zeit die Erziehungsmethode eine erfreuliche Änderung erfahren hatte. Und so verloren sich in dieser fast klösterlichen Umgebung, ohne irgendwelchen Einfluß von außen, von selbst die kindlichen Phantasien von Hofglanz und goldenen Kronen. Übrigens hat das spätere Leben auf ganz eigenartige Weise die kindlichen Träume erfüllt. Ich erhielt, wenn auch kein Zarentum, so doch einen »Königsthron«. In Schlüsselburg, wo wir unter all den Männern nur zwei Frauen waren – Wolkenstein und ich –, nannten uns die Kameraden, um die Armut unseres Lebens etwas zu verschönern, »Königinnen«. Ich trug aber nicht den Purpurmantel mit weißem Hermelin, sondern den grauen Sträflingskittel mit dem gelben Flecken auf dem Rücken … Ich war ein lebhaftes, begabtes Kind, voll Heiterkeit und Frohsinn. Übermütig und schelmisch, liebte ich es, meine[[Besitz]] Geschwister zu necken. Oft fanden Ringkämpfe zwischen uns statt, und wenn man mich hindern wollte, an ihnen teilzunehmen, geriet ich in Zorn, warf mich zu Boden und schlug mit Händen und Füßen um mich. Natürlich geschah das nie vor den Augen des Vaters, sondern immer im Zimmer der Wärterin. Mit der Puppe mochte ich nicht spielen, Lesen und Schreiben erlernte ich ohne Anstrengung, doch weiß ich nicht mehr genau, in welchem Alter. Bis zu meinem Eintritt in das Institut hatte uns die Mutter wenig Zeit gewidmet. Später, in der Periode meines geistigen Wachstums, verdanke ich ihr viel. Ich glaube, in den ersten Jahren waren es die öfteren Schwangerschaften, Geburten und das Stillen der Kinder, die sie daran hinderten. Ich war schon zehn Jahre alt, als meine[[Besitz]] jüngste Schwester Olga geboren wurde, und in dem kurzen Zeitraum von zehn Jahren war es die sechste Geburt. Was Wunder, wenn wir nur die vom Vater uns auferlegte Disziplin kannten; diese Disziplin aber streifte nur unser äußeres Leben. Am stärksten empfanden wir sie bei den unvermeidlichen gemeinsamen Mahlzeiten. In der übrigen Zeit waren wir uns selbst überlassen. Soweit die Mutter mit uns überhaupt in Berührung kam, versuchte sie immer, moralisch auf uns einzuwirken. Eine ihrer steten und unablässigen Forderungen war die der absoluten Wahrhaftigkeit. Auch suchte sie unser Mitgefühl für die Leiden unserer Mitmenschen wachzurufen. Ich entsinne mich dabei folgender Episode: Sie[[1]] rief uns einst in ihr Zimmer und sagte mit bewegter Stimme: »Hört, heute bringt man uns ein kleines Mädchen, welches bei uns bleiben wird. Dieses Kind ist sehr unglücklich: Ihr alle lauft, springt, die Kleine aber ist infolge einer Krankheit lahm geworden –, sie kann nicht gleich anderen Kindern gehen. Daß es euch ja nicht einfällt, sie auszulachen; übrigens werdet ihr ja selbst sehen, wie gut und klug sie ist.« Kurz vorher erlebte ich etwas, was für immer Spuren in mir zurückgelassen hat. &&x In einem großen, niedrigen Zimmer stand eine eisenbeschlagene Truhe, die stets verschlossen war. Es wurden in ihr Gegenstände aufbewahrt, die wenig gebraucht wurden. Einst öffnete die Mutter die Truhe und begann darin herumzukramen. Meine[[Besitz]] Schwester und ich schauten gespannt zu; doch am meisten fesselte unsere Aufmerksamkeit das Hängeschloß an der Truhe. Es war nach amerikanischem System gemacht, war aus Messing, und hatte die Form eines Löwen, eines richtigen Löwen mit Schweif und Mähne. Der Löwe wanderte zwischen uns beiden hin und her; es war so interessant, ihn auf und zu zu machen. Das Resultat aber war: als die Mutter endlich die Truhe wieder verschließen wollte, – funktionierte das Schloß nicht mehr. »Wer hat das Schloß zerbrochen?« fragte die Mutter. – »Ich nicht, ich nicht!« riefen wir beide wie aus einem Munde. »Jemand von euch hat das Schloß verdorben, aber wer?« fragte noch einmal die Mutter. »Lydia hatte es zuletzt in der Hand!« sagte ich darauf. Ohne ein Wort zu verlieren, ergriff die Mutter Lydia und versetzte ihr ein paar Klapse. Lydia schrie natürlich laut auf. Mich ergriff ein tiefes Schamgefühl, nicht daß sie mir besonders leid tat, nein, ich schämte mich ganz einfach; denn vielleicht war ich die Schuldige gewesen, vielleicht hatte ich den Löwen verdorben, und die Schuld fiel auf die Schwester nur deshalb, weil ich gesagt hatte, daß sie das Schloß zuletzt in der Hand gehalten … Dies erste Schamgefühl in meinem Leben konnte ich nie wieder vergessen. Ich hatte eine Lektion für immer und ewig bekommen. Als ich acht Jahre alt war, stellten die Eltern für uns drei ältere Kinder eine Gouvernante an. Einst besuchten wir Verwandte, und dort lernte meine[[Besitz]] Mutter die Resultate der pädagogischen Tätigkeit unserer späteren Erzieherin kennen. Die kleine Julia, die ein Jahr älter als ich war, spielte Klavier, sprach französisch und tanzte. Was konnte man sich besseres wünschen? Zum Mißvergnügen meiner Verwandten verließ Nadeschda {{[Nadeschda]}} Dimitrjewna {{[Dimitrjewna]}} deren Haus und siedelte zu uns über. Sie[[1]] war etwa sechsundzwanzig Jahre alt, weiß, rot und dick, kleidete sich nachlässig, hatte kurzgeschnittenes, lockiges Haar, hinkte auf einem Fuß und trennte sich nie von ihrem schwarzen Pudel, dem sie zum nicht geringen Ärger unserer Wärterin viel Zeit widmete. Uns unterrichtete sie im Französischen und Tanzen, mich noch außerdem in der Musik. Der Tanzunterricht war für mich und Lydia sehr quälend. Mit der Musik beschäftigte ich mich gerne, wie ich überhaupt das Lernen liebte. Gewissenhaft übte ich die mir aufgegebenen zwei Stunden. Aber die kleinen Hände konnten die Oktaven noch nicht fassen. Um dieses schneller zu erreichen, kam Nadeschda Dimitrjewna nachts mit einem brennenden Licht in der Hand an mein Bett, ergriff meine[[Besitz]] Hand und spreizte mir die Finger. Natürlich erwachte ich davon, fügte mich aber in das Unvermeidliche; doch hielt ich die Augen fest geschlossen, »um den Schlaf nicht zu verscheuchen«. Schlimm ging es uns mit der französischen Sprache. Kaum konnten wir etwa zehn französische Vokabeln, als Nadeschda Dimitrjewna forderte, wir sollten miteinander französisch sprechen, widrigenfalls wir eine beschämende Strafe erhalten würden; z. B. schnitt sie aus Kartonpapier eine große Zunge, beklebte sie mit rosa Papier und hing sie an ein Band. Zur Strafe mußte man dieses Band mit der Zunge am Halse tragen. Natürlich war es nicht sehr angenehm, dieses Ding zu tragen, und wir bemühten uns, so viel wie möglich zu schweigen, oder wir betrachteten uns gegenseitig mit gespannter Aufmerksamkeit, denn sobald einer sich vergaß und ein russisches Wort sprach, dann konnte man ihm die lächerliche rote Zunge abtreten. Überhaupt war Nadeschda Dimitrjewna in bezug auf Strafen sehr erfinderisch. Für Zerstreutheit hatte sie z. B. folgende Strafe erfunden: sie machte aus blauem, dickem Zuckerpapier einen großen, spitzen Hut, den sie den »Idiotenhut« nannte. Derjenige, der sich vergangen hatte, mußte nun diesen fürchterlichen Hut aufsetzen. Man kann sich leicht denken, wie verhaßt uns diese Erzieherin mit derartigen Erziehungsmethoden war. Auch die Wärterin teilte unsern Haß. Sie[[1]] war es auch, die uns zuletzt von ihr befreite, denn wir selbst hätten es nie gewagt, uns gegen sie aufzulehnen. – Die Eltern hatten im Laufe des ganzen Jahres nie das Klassenzimmer betreten, uns nie nach dem Erfolg des Unterrichtes gefragt. Mich persönlich schonte Nadeschda Dimitrjewna noch ein wenig, ich war die Älteste, – und, was das Wesentliche für sie war, man konnte mit mir bei Gelegenheit prahlen. Ich sah meine[[Besitz]] Bevorzugung und ihre Ungerechtigkeit meinen[[Besitz]] Geschwistern gegenüber. Aber die Eltern waren keinerlei Herzensergüssen zugänglich, und wir mußten alles in uns verschließen. Endlich faßte die Wärterin Mut, sprach mit den Eltern, und wir wurden Nadeschda Dimitrjewna los, nachdem wir ein Jahr lang unter ihrem Regiment gestanden hatten. Um diese Zeit verließ meine[[Besitz]] Tante Lisa das Institut, und ich wurde ihrer Erziehung übergeben. Die Tante war das typische Produkt der Erziehung der alten Zeit, naiv, etwas überschwänglich und ohne irgendwelche tieferen Interessen. In dem Institut, wo sie erzogen worden war, hatte man sie gelehrt, sich viel mit ihrem Aussehen zu beschäftigen. Während des Unterrichts mit mir saß sie vor dem Spiegel und probierte allerlei Frisuren mit ihrem dicken Haar oder putzte die mandelförmigen Nägel ihrer kleinen Hände mit Hilfe eines ganzen Vorrats von Scheren, Feilen und allerlei anderen Instrumenten. Es begann nun ein lebhaftes Gesellschaftsleben bei uns. Spaziergänge mit Offizieren, Ausflüge, Theateraufführungen. Natürlich lenkte sie das vom Unterrichten ab. Bald verlobte sie sich mit dem Förster Golownia {{[Golownia]}}, und man ließ für uns eine neue Gouvernante aus Moskau kommen: ein junges Mädchen, das kurz vorher das Institut verlassen hatte. Sie[[1]] war gut und freundlich, alle gewannen sie schnell lieb. Sie[[1]] beschäftigte sich sehr gewissenhaft mit uns und bereitete mich gut zum Eintritt in das Kasaner Institut vor. &&x &&am &&g1="Im_Institut" &&fa Im Institut &&fe &&ax Ich trat im Jahre 1863 in das Institut ein. Nach den Vorschriften hätte ich mit der untersten Klasse, der {{VII}}., anfangen müssen. Ich war damals elf Jahre alt, und meinem Wissen nach konnte ich ruhig in die {{V}}. Klasse aufgenommen werden. Mit Rücksicht darauf wurde eine Ausnahme gemacht, und ich kam in die {{VI}}., wo ich sofort erste Schülerin wurde. Diesen Platz behielt ich auch in der {{V}}. Klasse. Erst in der {{IV}}. Klasse verlor ich den Vorrang. Ich hatte mich daran gewöhnt, daß mir alles leicht fiel, und hörte auf zu lernen. Ich kam auf den dritten Platz und im nächsten Jahr sogar auf den vierten. Als ich fünfzehn Jahre alt geworden, da kam mir wieder die Einsicht. Bis zu meiner Entlassung hatte ich noch zwei Jahre. Es galt nun, sich zusammenzunehmen und wieder Erste zu werden. Ich wollte das Institut mit Auszeichnung verlassen; natürlich dachte ich nicht mehr daran, Hofdame zu werden, aber die Lehrer bevorzugten mich, und ich begriff, daß ich den ersten Platz wieder einnehmen müsse. Der Termin der Beendigung meiner Schulzeit nahte heran, und ich begann darüber nachzudenken, was ich eigentlich nachher anfangen solle. Ich beschloß zu studieren. Aber hier ergab sich eine neue Schwierigkeit. Unsere Klassenlehrerin stellte mir fortwährend schlechte Noten für »Betragen« aus. Es ist allgemein bekannt, daß man im Institut die Schüler vor allem nach dem Betragen einschätzt. Wenn z. B. die Schülerin in den zwei letzten Jahren einen einzigen Tadel erhalten hat, dann geht sie der Auszeichnung verlustig. Ich hatte nun eine solche. Das kam, weil ich mit der Klassenlehrerin beständig kleine Reibereien hatte. Anfangs war ich ihr Liebling; sie bevorzugte mich, was mich sehr unangenehm berührte, da es eine Ungerechtigkeit gegen die anderen bedeutete. Zu Hause, wo die Eltern uns Kinder gleichmäßig behandelten, hatte sich in mir ein Gefühl für Gleichheit und das Bedürfnis danach entwickelt. Wenn ich noch so ausgelassen war, alles wurde damit von ihr entschuldigt, daß ich eben ein sehr lebhaftes Mädchen sei. »Sie[[1]] ist das reine Quecksilberl« sagte sie dann, und damit war jede Unart erledigt. Ich war aber nicht nur ein mutwilliges Mädchen, sondern liebte es auch, die anderen zu necken und ihre schwachen Seiten zu verspotten. Besonders litt meine[[Besitz]] nächste Nachbarin unter meiner Spottsucht. Obwohl wir uns befreundet hatten, brachte ich sie oft zu Tränen. Die Klassenlehrerin nun, anstatt mir einen Verweis zu geben, tröstete meine[[Besitz]] Freundin und sagte: »Figner ist ein gerades und offenes Mädchen, dem man seine Offenheiten nicht übelnehmen darf.« Doch das gute Verhältnis zur Klassenlehrerin sollte nicht lange dauern. Kleine Schikanen von ihrer Seite setzten ohne allen Grund plötzlich ein. So sagte sie mir einmal ohne irgendwelche tatsächliche Veranlassung: »Die Figner hält es mit allen.« Das empörte mich, und ich antwortete ebenso ungerecht und grundlos: »Sie[[1]] urteilen wohl nach sich selbst!« Das bedeutete einen vollkommenen Bruch zwischen uns. Sie[[1]] beklagte sich über mich bei der Vorsteherin, und ich bekam im Beisein aller Schülerinnen von der Vorsteherin einen Verweis für meine[[Besitz]] Frechheit. Mein Kampf mit der Klassenlehrerin dauerte fast drei Jahre, bis sie eines Tages mich ganz unerwartet zu sich einlud und sagte: »Ich bin es müde, mit Ihnen um den Einfluß auf die Klasse zu kämpfen. Wollen wir Frieden schließen?« Diese Worte versetzten mich in Staunen, und ich fand keine andere Antwort als folgende: »Ich war mir nicht bewußt, daß zwischen uns ein Kampf vorging und noch dazu um den Einfluß auf die Klasse!« Derartiges sagte mir ein so reifer, kluger Mensch, wie unsere Klassenlehrerin, mit der verglichen ich ein Kind war. Nach dieser Aussprache zwischen uns strich sie alle ihre früheren tadelnden Bemerkungen über mich, obgleich ich in meinem Benehmen genau dieselbe blieb. Treu meinem Entschluß, begann ich wieder gut zu lernen, nahm wieder den ersten Platz ein und bekam bei der Entlassung die goldene Medaille, von der ich schon in der Kindheit geträumt hatte. Während der Beratung der Lehrer, wer die Auszeichnung bekommen sollte, hatte die Klassenlehrerin meine[[Besitz]] Freundin vorgeschlagen, aber die übrigen Lehrer hielten fest zu mir, und sie wurde mir zugesprochen. Was gab mir der sechsjährige Aufenthalt im Institut? Das enge Zusammenleben mit Kameraden in dem vom äußeren Leben völlig abgeschlossenen Institut entwickelte in uns das Gefühl der Kameradschaft und das Bedürfnis danach. Der regelmäßige Unterricht und die strenge Arbeitseinteilung gewöhnten an Disziplin. Wenn ich bis zum Eintritt in das Institut auch gern gelernt habe, so entwickelte das Institut doch noch die Gewohnheit, geistig zu arbeiten. Aber was die geistige Entwicklung und die wissenschaftliche Ausbildung anbetrifft, gaben diese Lehrjahre mir nicht nur sehr wenig, sondern sie hemmten auch meinen[[Besitz]] geistigen Fortschritt. Auch die unnatürliche Absonderung vom Leben und von den Menschen hatte ihren großen Nachteil. Nach dem Unterricht machten wir gewöhnlich unsere Aufgaben. Manche mußten den Vortrag der Lehrer niederschreiben. Wir hatten nämlich gar keine Lehrbücher und lernten auf folgende Weise: der Lehrer sprach über den betreffenden Gegenstand, zwei bis drei der besten Schülerinnen mußten in aller Eile mit allen möglichen Kürzungen das Gehörte aufschreiben. Später verglichen wir das Geschriebene, versuchten das nur Angedeutete zu ergänzen und konnten oft nur mit der größten Anstrengung des Gedächtnisses den allgemeinen Wortlaut zusammenstellen, den dann die übrigen Schülerinnen, jede für sich, in ihr Heft übertragen mußten. Man kann sich leicht denken, wie überlastet wir durch dieses so vollkommen unnötige Schreiben und Abschreiben waren. Unsere Erholung bestand nur in den kurzen Pausen, wir hatten gar keine Zeit, uns ordentlich auszutoben. Manchmal tummelten wir uns im Sommer im Institutsgarten, im Laufe des Winters gingen wir vielleicht zweimal aus. Körperliche Übungen hatten wir keine, abgesehen von einer Tanzstunde in der Woche, – wir wuchsen infolgedessen als schwächliche, blutarme Geschöpfe heran. Die moralische Seite unserer Erziehung wurde noch mehr vernachlässigt. Niemand sprach auch nur ein Wort mit uns über unsere Pflichten gegen uns selbst, gegen die Familie, die Gesellschaft, das Vaterland. Das Lesen wurde auch nicht gefördert, in all den Jahren war nie davon die Rede. In meiner Klasse haben außer mir etwa noch drei bis vier Mädchen gelesen, die übrigen nahmen nie ein Buch, außer den Schulbüchern, in die Hand. Abends, wenn die Tagesarbeit vollbracht war, holte ich mir vorsichtig die vor der Klassenlehrerin versteckten Bücher herbei und begann zu lesen. Das genügte mir aber nicht, und ich las auch nachts. Ich war die Einzige im Institut, die das tat. Kerzen durften wir nicht haben, im weiten Schlafraum brannte ein einziges Talglicht, aber in einer Ecke des Raumes, wo die Schülerinnen der drei höheren Klassen schliefen, stand ein Tischchen mit dem Christusbild, und davor brannte ein Lämpchen. Öl für dieses Lämpchen kauften wir selbst von unserem Taschengeld, und wenn es nicht reichte, so ersetzte ich es durch Rizinusöl. &&x Nachts hatte die böse, sehr böse Marie Grigorjewna {{[Grigorjewna]}} die Aufsicht über uns. Sie[[1]] war klein, mager, alt, trug eine schwarze Haube, ein schwarzes Kleid und hatte schwarze, glühende Augen. Ihre regelmäßigen Züge und diese Augen waren die einzigen Spuren vergangener großer Schönheit. Ob sie tatsächlich sehr fromm war oder nur um Vergebung alter Sünden betete, ich weiß es nicht – jedenfalls betete sie stundenlang in ihrem Zimmer, wo sie auch ihr Bett hatte. Ich nutzte die Frömmigkeit der Alten aus, ging zum kleinen Tisch mit dem Heiligenbild, ließ mich auf die Knie davor nieder und vertiefte mich in meine[[Besitz]] Lektüre. Von Zeit zu Zeit unterbrach Marie Grigorjewna ihre Gebete und ging durch alle Schlafsäle. Sobald ich nur ihren Katzenschritt vernahm, fing ich an, mich zu bekreuzigen, und hörte damit nicht auf, solange ich sie hinter mir fühlte. Und sie stand – stand, bis sie es doch satt bekam, mein endloses Sichbekreuzigen mit anzusehen, und sich wieder entfernte. Dann holte ich mein unter dem Tisch verstecktes Buch wieder hervor und las weiter. Ich las damals meist englische Romane, die meine[[Besitz]] Freundinnen mir von ihren in Kasan wohnenden Verwandten verschafften. Obgleich im Institut eine Bibliothek bestand, bekamen wir doch nie ein Buch zu sehen. Den Schlüssel zum Bücherschrank hatte der Schulinspektor, der sehr selten unser Institut besuchte. Nur ein einziges Mal gab mir die Klassenlehrerin einen Band von Belinski {{[Belinski]}}, den sie der Bibliothek entnahm. Ich war aber durchaus nicht an ernste Lektüre gewöhnt, zudem behandelte dieser Band nur Theaterstücke, und ich war noch nie im Theater gewesen. Was Wunder, daß diese Aufsätze mich nicht interessierten: ich las nur Romane und Novellen, in den ganzen sechs Jahren meines Aufenthaltes im Institut war es das einzige ernste Buch, das in meine[[Besitz]] Hände geriet. In diesen Jahren verdanke ich meine[[Besitz]] geistige Entwicklung nur den Büchern, die ich während der Ferien unter der Leitung der Mutter las. Aber auch zu Hause las ich nur Romane, Novellen, Erzählungen, wenn auch weit bessere als im Institut. Ernstere Aufsätze las ich auch da nicht. So kam es, daß mein Lesen sehr einseitig war – es nahm eben nur das Gefühl in Anspruch. Doch in den letzten Jahren im Institut wurden die großen Mädchen auch in den Ferien nicht mehr nach Hause entlassen; man fürchtete etwaige zersetzende Einflüsse. Ich war etwa zwölf Jahre alt, als die Mutter mir die Novelle des nun längst in Vergessenheit geratenen Schriftstellers Feoktist Tolstoi {{[Feoktist Tolstoi]}} »Die Krankheit des Willens« zum Lesen gab. Als ich sie beendet hatte, fragte ich mich erstaunt, warum wohl der Verfasser dem Buche einen so sonderbaren Titel gegeben hatte. Warum er wohl das Streben seines Helden nach Wahrheit, seinen Widerwillen gegen die Lüge, der ihm zu einer Kette von Leiden werden sollte, der ihn zum Bruch mit seinen Freunden, mit dem geliebten Mädchen führte, mit »Krankheit« bezeichnet hatte? Ich war überzeugt, daß er richtig gehandelt hatte. Wo war da »Krankheit des Willens«? Ich begriff es einfach nicht und ging zur Mutter. Die Mutter erklärte mir, daß man gewiß immer die Wahrheit sagen und es auch von andern fordern müsse; doch gäbe es Ausnahmefälle, wo man das Abweichen von der absoluten Wahrheit nicht mit einer derartigen Strenge beurteilen dürfe, wie es der junge Mann in der Erzählung getan habe. Es heiße, seine Wahrheitsliebe übertreiben, wenn man z. B. seine Beziehungen zu Menschen abbreche, weil sie sich manchmal geringe harmlose Lügen erlauben; man laufe dabei Gefahr, einsam und unglücklich zu werden, wie es der Held Tolstois geworden ist. Nach den Worten der Mutter hatte seine übertriebene Wahrheitsliebe schon die Form einer Krankheit angenommen. Durch diese Erklärung hatte die Mutter in meinen[[Besitz]] Augen verloren: ich verließ sie unbefriedigt und enttäuscht. Ein Jahr später erlaubte mir mein Onkel Kuprijanow, zwei dicke Bände einer Zeitschrift, in der die Spielhagenschen {{[Spielhagen]}} Romane abgedruckt waren, nach den Ferien ins Institut mitzunehmen. Unter andern stand darin auch der Roman »In Reih' und Glied«. Dieser Roman machte auf mich einen unauslöschlichen Eindruck. Ich begriff die Charaktere der handelnden Personen und die soziale Seite des Romans sehr gut: die edlen Bestrebungen Sylvias {{[Sylvia]}} und Leos und die ganze Hohlheit der bürgerlichen Gesellschaft, in der sie vergeblich eine Stütze suchten. Kein einziger Roman hat meinen[[Besitz]] Gesichtskreis so geweitet, wie dieser. Er stellt zwei Lager scharf und bestimmt einander gegenüber, in dem einen sah ich hohe Ziele, Kämpfe und Leiden –, im anderen nur satte Selbstzufriedenheit, Leere und Flittergold. Als ich nach vielen, vielen Jahren dasselbe Buch noch einmal las, kam ich genau zu demselben Resultat wie mit dreizehn Jahren. Die Persönlichkeit eines jeden Menschen gestaltet sich gewöhnlich unter dem Einfluß kaum bewußter Eindrücke, die das Leben, die Menschen und Bücher nach und nach hinterlassen. Aber manchmal geschieht es, daß eines dieser Elemente das Fundament zu der sich entwickelnden Persönlichkeit legt. In meiner Entwicklung hat ein solches Fundament Nekrassows {{[Nekrassow]}} Werk »Sascha« gelegt, das uns unser Lehrer zur Analyse übergab. Der Inhalt dieser Dichtung ist bekannt. Der kluge, gebildete und welterfahrene Agarin {{[Agarin]}} gerät aus der Hauptstadt in ein entlegenes Dorf. Dort, in der einfachen, patriarchalischen Familie seines Gutsnachbars lernt er ein junges Mädchen kennen, das von keinerlei geistigen Ideen berührt ist. Er beginnt, sie geistig zu entwickeln; spricht viel und schön von den sozialen Pflichten, von der Arbeit zum Wohle des Volkes. Unter dem Einfluß dieser Predigten erwachsen in Sascha ideale Bestrebungen und Bedürfnisse. Als sie aber nach einem Jahr ihrem Lehrer wieder begegnet, ist sie von ihm furchtbar enttäuscht. Sascha ist mittlerweile geistig und moralisch gereift, und sie sieht das wahre Antlitz Agarins als das eines hohlen Schwätzers, der sich darauf beschränkt, mit schönen Worten um sich zu werfen, und außerstande ist, im wirklichen Leben etwas zu leisten. Sascha überzeugt sich, daß bei diesem Helden die Worte mit den Taten nicht im Einklang stehen. Enttäuscht wendet sie sich von dem Menschen ab, der ihren Geist geweckt hat und ihr Ideal gewesen war. Dieser Roman beschäftigte mich lebhaft, und ich grübelte lange über ihn nach. Er lehrte, wie man leben und wonach man streben müsse, er lehrte, keine Phrasen machen, sondern seinen Prinzipien getreu leben. Dieses von mir selbst ebenso wie von anderen fordern – das wurde zur Losung meines Lebens. &&x &&am &&g1="Am_Scheidewege" &&fa Am Scheidewege &&fe &&ax Im Jahre 1869 verließ ich das Institut als ein lebhaftes, frohes, mutwilliges Mädchen, wenn auch äußerlich zart, aber moralisch und körperlich gesund. Das abgeschlossene Leben in der Schule hatte mich nicht verkümmert, aber ich hatte das Leben und die Menschen nur aus Romanen und Novellen kennengelernt. Die Wirklichkeit war mir fremd. Auch zu Hause, wohin ich in den Ferien mit meiner Schwester reiste, trafen wir nie mit fremden Leuten zusammen. Nur ein einziges Mal – zwei Jahre vor meiner Entlassung aus dem Institut, als wir gerade das letztemal in den Ferien daheim waren –, besuchten den Vater zwei junge Leute, von denen der eine Student der naturwissenschaftlichen Fakultät der Kasaner Universität war. Beide blieben vier Tage als Gäste bei uns. Der Student – ein sehr lebhafter Mensch – sprach sehr viel und interessant. Er sprach über die Beschaffenheit der Sonne, des Mondes und der Sterne, kritisierte die Erziehung im Institut, verneinte alle Werte und verspottete die Religion. Er las mir auch einiges aus den Dramen Ostrowskis {{[Ostrowski]}} vor. Übrigens hat diese Bekanntschaft keinen tieferen Eindruck hinterlassen; doch blieb sie mir als die einzige aus jener Zeit in der Erinnerung haften. Meine[[Besitz]] Eltern lebten beständig auf dem Lande, und nach der Beendigung meiner Schulzeit setzte ich dasselbe Leben dort fort, welches wir während der Ferien geführt hatten. Dieses ruhige, gleichmäßige Landleben regte zum Nachdenken an. Meine[[Besitz]] Mutter hatte in ihrer Kindheit keine Ausbildung genossen. Sie[[1]] war aber äußerst intelligent und erreichte ein hohes geistiges Niveau. Ihrem Einfluß verdanke ich es, daß ich sogleich nach dem Verlassen des Instituts geistig zu arbeiten begann. Sie[[1]] gab mir die beste Zeitschrift der damaligen Jahre zum Lesen. Mein Bekanntenkreis veränderte sich nicht. Die einzigen Menschen, mit denen wir öfters verkehrten, waren unsere Verwandten, Onkel Kuprijanow mit seiner Frau und das Ehepaar Golownia. Diese Menschen ragten geistig weit über die damalige Umgebung hervor. Das waren »liberale Demokraten« oder »denkende Realisten«, wie man sie später nannte. Sie[[1]] waren keine Sozialisten, und über diese Lehre hörte ich von ihnen kein Wort. Nie erwähnten sie die Namen der ersten Vorläufer der sozialistischen Lehre: Fourier {{[Fourier]}}, Saint-Simon und andere. Ich kannte nicht einmal den Namen Lassalles. Als ich später ins Ausland reiste und zum erstenmal einer Unterhaltung über diesen Arbeiterführer beiwohnte, verwechselte ich den Namen Lassalles mit dem von Laplace {{[Laplace]}}. Meine[[Besitz]] Verwandten waren auch keine Republikaner, obgleich sie die politische Verfassung der Schweiz und der Vereinigten Staaten sehr lobten. Sie[[1]] empfahlen mir Dixons {{[Dixon]}}: »Die Schweiz und die Schweizer« und »Amerika und die Amerikaner«, die ich mit großer Begeisterung las. Aber sie sprachen nie darüber, auf welche Weise wir eine solche Staatsform in Rußland erreichen könnten. Ich war damals noch zu wenig entwickelt, als daß diese Frage in mir von selbst aufgetaucht wäre. Als Anhänger Pissarews {{[Pissarew]}} schätzten sie vor allem die Naturwissenschaft sehr hoch, und auf ihre Anregung hin las ich Darwin, Lyell {{[Lyell]}}, Lewis und Vogt und die populären Aufsätze Pissarews, obgleich ich infolge mangelhafter Vorbildung manches nicht verstand. Weder mein Onkel noch Golownias hatten religiöse oder soziale Vorurteile. Sie[[1]] waren für die allgemeine Volksbildung, für die Gleichberechtigung der Frau und für ein bescheidenes Leben. Der Onkel, der der Gebildetste unter ihnen war, verspottete oft meine[[Besitz]] modische Kleidung und die goldenen Sächelchen, die ich trug. Sie[[1]] hielten mich infolge der Erziehung im Institut für sehr flach und sprachen oft die Ansicht aus, daß ich höchstwahrscheinlich einen reichen Greis heiraten werde. Überhaupt war ihre Meinung über mich anfangs nicht sehr schmeichelhaft. Einst erwachte ich spät in der Nacht und hörte auf dem Balkon zwei Verwandte über mich sprechen – es waren die jüngste Schwester meiner Mutter und eine Kusine, die zu Besuch gekommen war. Sie[[1]] sprachen über mich und Lydia. Lydia ist ein tief veranlagter Mensch, sie wird etwas im Leben leisten, sagte Warja {{[Warja]}} von meiner Schwester. Wera ist nur eine schöne Puppe – ihr Äußeres ist zwar schön, innerlich ist sie aber hohl. Ich wühlte mich tief in die Kissen ein und weinte bitterlich. Der Onkel war ein Anhänger von Tschernyschewski {{[Tschernyschewski]}}, Dobroljubow {{[Dobroljubow]}} und Pissarew; doch gab er mir Pissarew wenig zum Lesen. Von Tschernyschewski verstand ich damals überhaupt nicht viel. Ich stand zu jener Zeit jeder sozialen und politischen Idee noch vollkommen fremd gegenüber; doch empfand ich Ehrfurcht vor der Wissenschaft und fühlte auch schon das Streben nach einer sozialen Betätigung in mir. Ich war etwa zwölf Jahre, als bei Golownias eine Katastrophe eintrat, die ihr ganzes Leben von Grund aus umwandelte. Er, Metschislaw {{[Metschislaw]}} Felixjanowitsch {{[Felixjanowitsch]}} Golownia, von Geburt Pole, war in Rußland erzogen worden. Seine Mutter, seine Schwestern und sein Bruder waren polnische Gutsbesitzer und lebten in Warschau. Als Teilnehmer am Aufstand im Jahre 63 bis 64 waren sie verhaftet, ihr großes Gut konfisziert und sie in die inneren Gouvernements Rußlands verbannt worden. Gleichzeitig erinnerten sich die Gendarmen auch an Metschislaw Felixjanowitsch, der nach Beendigung der Forstschule als Förster in unserem Gouvernement diente und – wie ich schon erwähnte – meine[[Besitz]] Tante Elisabeth Kuprijanow geheiratet hatte. Zwei Kilometer von uns hatten sie sich ihr gemütliches Nest in der Meierei eines bekannten Gutsbesitzers eingerichtet, der immer in Petersburg wohnte. Es schien, als ob ihnen ein ruhiges und glückliches Leben beschieden sei. Da plötzlich in der Nacht erschienen Gendarmen – machten Haussuchung, verhafteten Golownia und nahmen ihn nach Kasan. Dieser Fall erregte in unserem Krähwinkel ungeheures Aufsehen, und meine[[Besitz]] Tante Elisabeth, die zudem noch schwanger war, war natürlich in Verzweiflung. Drei Monate saß Golownia in der Festung, dann ließ man ihn zwar frei, enthob ihn jedoch seiner Stelle und verbot ihm, je wieder ein Regierungs- oder öffentliches Amt zu bekleiden. Die Situation des jungen Paares war sehr kritisch. Schwere Zeiten brachen für die beiden herein. Aus dieser Situation rettete sie der in der Gegend bekannte Arzt Kramer. Der war ein alter Bekannter meines Großvaters, kannte meine[[Besitz]] Mutter noch aus ihrer Kindheit und half jetzt ihrer Schwester. Er stellte zunächst Golownia als Verwalter auf seinem Gut an, das 40 Kilometer von uns entfernt lag, später schlug er ihm vor, dieses unter sehr günstigen Bedingungen zu kaufen. Golownia begann tapfer zu arbeiten und legte alles ab, was an das frühere Herrentum erinnerte. Er, der früher sehr verwöhnt gewesen, arbeitete jetzt von früh bis spät im Sommer auf dem Feld, im Winter an der Dreschmaschine. Sie[[1]] fanden sich sehr tapfer mit ihrer veränderten Lage ab und verloren ihre Zeit nicht mit nutzlosen Klagen. Er wurde ein tüchtiger Landwirt, der überall war und alles selbst machte. Meine[[Besitz]] Tante, die bis dahin ein sentimentales, verwöhntes Mädchen gewesen war, die beständig auf zarte Hände und schlanke Taille bedacht gewesen war, verwandelte sich in eine tüchtige Hausfrau, die mit großer Umsicht ihre Milchwirtschaft leitete, in der Küche herumhantierte und ihre Kinder selbst pflegte und erzog. Dieser moralische Umschwung, der sich hier vor meinen[[Besitz]] Augen vollzog, machte auf mich einen ungeheueren Eindruck. Sie[[1]] waren so voll Mut und Energie, diese zwei Menschen. Sie[[1]] verzichteten so ohne weiteres auf den früheren Komfort und die Annehmlichkeiten des Lebens, lebten so bescheiden und arbeitsam, daß alle diejenigen, die ihre Vergangenheit kannten, sie bewundern mußten. In jener Zeit war ich oft bei ihnen zu Besuch. Es war mir ein großes Vergnügen, mit diesen herrlichen Menschen in einer Atmosphäre von Arbeit, Mut und gegenseitiger Freundschaft zu leben. Auch ihr Verhältnis zu mir war voll Wärme und Zärtlichkeit. In dieser Periode erwachte auch meine[[Besitz]] Sympathie für Polen, für seine Unabhängigkeits- und Freiheitsbestrebungen. Unserem Freundschaftskreise gehörte auch der Kreisarzt, der Pole Swentizki {{[Swentizki]}}, an. Er war ein geschickter Mediziner, dazu sehr klug, heiter und unterhaltsam. Er verkehrte bei uns sowohl als Arzt wie als Freund mit seiner jungen Frau, die auch Polin war. Im Sommer waren wir, Kuprijanows, Golownias und Swentizkis oft zusammen. Wir unterhielten uns viel über Polen, über die dortigen Ereignisse und die Repressalien, durch die man den Aufstand unterdrückt hatte. Swentizki zog dann häufig die Photographie »Murawjows {{[Murawjow]}} des Henkers« aus der Tasche; es war die Gestalt einer Bulldogge. Golownia zeigte die Bilder seiner Schwestern im polnischen Nationalkostüm. Man verspottete dabei den Gendarmerieoffizier Lodi {{[Lodi]}} aus unserer Gegend, der überall herumschnüffelte, um in unserem Krähwinkel die »polnische Intrigue« aufzuspüren. Mit gemachter Ängstlichkeit beobachtete dann die Mutter das dunkle Gebüsch im Garten, indem sie mit einer Geste andeutete, daß sich darin vielleicht Lodi versteckt halte. Und Swentizki deklamierte mit viel Ausdruck Rastopschins {{[Rastopschin]}} Gedicht »Die erzwungene Ehe«. Polen spricht darin voll Zorn: »Erniedrigt, beleidigt … ich bin verraten, verkauft … ich bin Gefangene, ich bin Sklavin, – nicht Frau!« &&x Einige Monate waren seit meiner Heimkehr aus dem Institut vergangen, und schon fühlte ich, daß mich das eintönige Landleben zu bedrücken begann. Ich grübelte viel darüber, was ich mit mir anfangen solle, um mir eine Tätigkeit – einen Wirkungskreis zu schaffen. Sollte ich zur Bühne gehen oder Volksschullehrerin werden? Zu letzterem Beruf hatte ich gar keine Veranlagung; ich merkte es, als ich meine[[Besitz]] Schwester Eugenie zum Eintritt in das Institut vorbereitete. Die Strömung unter den Frauen, sich dem Universitätsstudium zuzuwenden, war damals noch neu. Aber die erste russische Frau, Suslowa {{[Suslowa]}}, hatte soeben in Zürich ihr Diplom als Doktor der Medizin und Chirurgie bekommen. Die Nachricht davon las ich in der Zeitschrift »Djelo« {{[Djelo]}}, und diese Notiz zeigte mir plötzlich klar, wohin ich meine[[Besitz]] Schritte lenken sollte. Ich kann nicht behaupten, daß ich es damals schon als meine[[Besitz]] Pflicht dem Volke gegenüber empfand, Arzt zu werden, daß die Gewissensbisse des »bereuenden Edelmannes« mich dazu trieben. Diese und ähnliche Gedanken entstanden erst später unter dem Einfluß der Literatur. Meine[[Besitz]] damalige Triebfeder war nur meine[[Besitz]] Stimmung. Der Umstand, daß ich mich – verglichen mit meinen[[Besitz]] Freundinnen – in einer besonders glücklichen materiellen und moralischen Lage befand, daß ich mich von allen, die mich umgaben, geliebt wußte, rührte mich tief und löste in mir ein großes Gefühl der Dankbarkeit aus. Es war nicht Dankbarkeit für etwas ausgesprochen Bestimmtes, nein – eher ein warmes Gefühl für alles und jeden. In mir entstand der Wunsch, diese Dankbarkeit durch irgend etwas zu beweisen. Etwas Gutes zu leisten … etwas so Gutes, daß mir selbst und anderen davon wohl werde. Doch zu dieser Stimmung kamen noch gute Worte, die auf mich großen Einfluß hatten. Vom Onkel hörte ich zuerst über den Utilitarismus {{[Utilitarismus]}}; von ihm bekam ich auch einen Aufsatz darüber zu lesen. »Das größtmögliche Glück einer möglichst großen Anzahl Menschen verschaffen« soll das Ziel eines jeden Menschen sein … Dieser Gedanke packte mich. Mein Geist war noch nicht von Ideen und Zweifeln belastet. Ich nahm alles widerspruchslos, gläubig auf, was der Onkel sagte. Die Lehre vom Utilitarismus schien mir augenscheinliche Wahrheit; ich hatte die Empfindung, als ob der Onkel nur das formuliert hätte, wovon ich schon innerlich überzeugt war. Ich muß noch sagen, daß es mir unmöglich schien, etwas nicht zu tun, was mir als das Wahre, das Richtige erschien. Das Wahre, das Wünschenswerte und die Pflicht waren für mich unzertrennlich, und jede Wahrheit, die ich als solche erkannt hatte, übte sofort einen Zwang auf meinen[[Besitz]] Willen aus; das war die Logik meines Charakters. All diese Stimmungen und Einflüsse mußten mir allmählich das eintönige Leben im Schoße der Familie verleiden. Ich konnte mich nicht mehr mit einem tatenlosen Leben ohne Arbeit, ohne ein großes Ziel in der Ferne begnügen. Die Notiz über die Suslowa entschied über meine[[Besitz]] Zukunft. Der Weg, den sie zurückgelegt hatte, schien auch mir wünschenswert. Ich begann, um die Einwilligung der Eltern zu kämpfen. Es war mir gleichgültig, wo es geschehen sollte, ob in Kasan, Petersburg oder im Auslande; nur studieren wollte ich, Arzt werden und dann mein Wissen dem Volke geben, gegen Krankheit und Unwissenheit ankämpfen. Ich flehte meinen[[Besitz]] Vater an, mich ins Ausland fahren zu lassen – vergeblich. Zu jener Zeit war das Frauenstudium noch so neu, so ungewohnt. Die Eltern ängstigte es, ihre Kinder in das offene Meer des Lebens hinauszulassen. Einen Trost hatte ich damals: Einst, als ich den Vater wieder mit meinen[[Besitz]] Bitten bestürmte, er aber unerbittlich blieb, fragte ich ihn zuletzt: »Du glaubst also nicht, daß ich mein Ziel erreichen werde, daß meine[[Besitz]] Kräfte ausreichen werden? …« Und er erwiderte: »Das nicht. Ich weiß, wenn du etwas anfängst, so führst du es auch zu Ende!« Ich weiß es nicht, wodurch ich diese Überzeugung in ihm erweckt hatte, jedenfalls aber hat mein Selbstvertrauen viel dadurch gewonnen. Diese ernst gesprochenen Worte meines Vaters hatten einen ungeheueren Einfluß auf meine[[Besitz]] Persönlichkeit. Sie[[1]] festigten meinen[[Besitz]] Willen. Einen bedeutenden Einfluß auf mich hatte auch eine Episode, die sich im ersten Jahr nach Verlassen des Instituts ereignete. Ich sollte über eine wichtige Lebensfrage entscheiden. Der Vater war krank. Es war Abend, ich stand neben ihm, sprach und fragte um Rat. Der Vater wandte sein Gesicht ab und sagte traurig und leise: »Ich weiß nicht.« Warum nur hatte ich gesprochen? Warum meine[[Besitz]] Seele geöffnet? dachte ich voll brennender Scham. Scharf prägte sich in mir der Gedanke aus: » Große Entschlüsse muß jeder Mensch für sich selbst fassen.« Damals kristallisierte sich meine[[Besitz]] Seele. Während mein Streben der Universität galt, versuchten meine[[Besitz]] Eltern meine[[Besitz]] Standhaftigkeit durch Vergnügungen zu brechen. Sie[[1]] brachten mich nach Kasan, dort sollte ich das Leben der »Gesellschaft« kennenlernen. Wir wohnten im Hause einer befreundeten Familie, deren ältester Sohn – Alexei Viktorowitsch Filipow {{[Alexei Viktorowitsch Filipow]}} – mein steter Begleiter auf allen Ausfahrten wurde. Er war Kandidat der Rechte und versah das Amt des Untersuchungsrichters. Ich kann nicht sagen, daß mein erster Ball mir Vergnügen gemacht hätte. Im großen, glänzend erleuchteten Saal, wo bei den Klängen der Musik sich die schönen, graziösen Paare im Tanze wiegten, die mir alle fremd und unbekannt waren, fühlte ich mich plötzlich so einsam, daß ich fast in Tränen ausbrach. Aber Alexei Viktorowitsch und noch einige junge Leute umringten mich, und im Wirbel des Tanzes vergaß ich bald meine[[Besitz]] Angst und mein Einsamkeitsgefühl. Das nächste Mal war ich schon weniger schüchtern und begann allmählich, diesem Leben Geschmack abzugewinnen. Doch blieben wir nicht lange in Kasan und, heimgekehrt in die dörfliche Stille, verging dieser Rausch ebenso schnell, wie er gekommen. Bald darauf ließ Alexei Viktorowitsch sich in unsere Gegend versetzen, um die Möglichkeit zu haben, bei uns zu verkehren. Er teilte meine[[Besitz]] Anschauungen, begriff meine[[Besitz]] Absichten. Wir lasen zusammen und waren uns darüber einig, daß ich studieren müsse. Das erste Jahr unserer Bekanntschaft war noch nicht zu Ende, als wir uns am 16. Oktober 1870 in unserer Dorfkirche trauen ließen. Einige Wochen darauf starb mein Vater, und meine[[Besitz]] Mutter siedelte mit den zwei jüngsten Töchtern nach Kasan über, wo meine[[Besitz]] Brüder das Gymnasium und meine[[Besitz]] Schwester Lydia das Institut besuchten. Wir, mein Mann und ich, blieben zunächst auf dem Lande, da uns das Provinzstadtleben nicht lockte. Nach meiner Heirat veränderte sich nichts in meinem Leben. Mein Eintritt in die Universität war beschlossen. Es kam nur auf die materiellen Mittel an, die ich zur Reise nach Zürich benötigte; ich konnte sie erst in ein bis anderthalb Jahren auftreiben. Die deutsche Sprache kannte ich genügend. Die Mutter hatte mir nach meiner Rückkehr aus dem Institut Schiller und Goethe geschenkt, und ich setzte jetzt das Studium dieser Sprache fort. Unter der Leitung von Alexei Viktorowitsch beschäftigte ich mich mit Geometrie und Algebra. Damals überredete ich Alexei Viktorowitsch, sein Amt aufzugeben und mit mir in die Schweiz zu reisen. Ich war schon damals der Ansicht, daß alles Verbrechen durch Armut und Unwissenheit erzeugt wird, und fand die Rolle des Untersuchungsrichters abscheulich. Mehrmals hatte ich, im Nebenzimmer sitzend, ein Verhör mit angehört. Das ganze Verfahren, mit den Ausflüchten auf der einen Seite und den Fallen auf der anderen, empörte mich aufs tiefste. Ich schlug Alexei Viktorowitsch vor, auch Medizin zu studieren oder sich um ein Amt in der Landesverwaltung zu bemühen. Ich war bereit, alle Entbehrungen auf mich zu nehmen, die ein solcher Wechsel mit sich bringen mußte, wenn er nur den verhaßten Dienst aufgäbe. Es gelang mir endlich, Alexei Viktorowitsch zur Befolgung meines Rates zu bewegen. In dieser Periode waren die Beziehungen meiner Freunde und Verwandten zu mir die allerbesten, sie begünstigten meine[[Besitz]] Absichten und wünschten mir den besten Erfolg. Da, wie gesagt, unsere Abreise ins Ausland sich noch nicht so schnell bewerkstelligen ließ, so beschloß ich, einstweilen nach Kasan zu fahren, um dort zu versuchen, in die Universität aufgenommen zu werden. Meine[[Besitz]] Schwester Lydia hatte unterdessen das Institut absolviert und wollte, gleich mir, studieren. &&x Auf den Rat des Onkels hin begab ich mich zuerst zum Professor Petrow {{[Petrow]}}. Es hieß, daß dieser Professor das Streben der Frauen nach höherer Bildung begünstige. Er schickte mich zum Professor der Chemie Markownikow {{[Markownikow]}} und zum Professor der Anatomie Leshaft {{[Leshaft]}}. Markownikow hörte uns gutmütig an und versprach uns ebenso gutmütig Plätze in seinem Laboratorium. Er riet uns, anfangs praktisch zu arbeiten und erst nach einiger Zeit mit dem Besuch der Vorlesungen zu beginnen. Außerdem empfahl er uns, die »Analytische Chemie« von Menschutkin {{[Menschutkin]}} zu kaufen, und damit war die Sache für ihn erledigt. Am nächsten Morgen kamen wir, Lydia und ich, pünktlich in das Laboratorium. Wir mischten, kochten, brauten, filtrierten alles durcheinander und – verstanden von der ganzen Sache gar nichts. Die wundervolle Wissenschaft, die so ungeheure Welträtsel enthüllt, die schön wie ein Traumgebilde ist, lief hier, im Laboratorium, auf mechanische Manipulationen hinaus, deren Sinn und Bedeutung uns schleierhaft blieben. Kein einziges Mal kam Markownikow zu uns, um zu sehen, wie es uns bei der Arbeit ging. Nie gab er uns irgendwelche Anweisungen … nie interessierte er sich überhaupt dafür, ob wir auch nur die leiseste Ahnung von Chemie hatten, welche Kenntnisse wir uns aus dieser Wissenschaft angeeignet hatten. Verzweiflung über das Nutzlose unserer Arbeit ergriff uns. Wir sahen deutlich, daß wir gar nicht das Rechte taten. Aber wir jungen Provinznärrinnen kochten und filtrierten geduldig weiter fort in der Erwartung, daß das Wunder geschehen, das Licht unerwartet uns durchdringen werde, und wir endlich begreifen würden, was, warum und wozu? … Aber das Licht kam nicht, und das Wunder geschah nicht … Wir begaben uns dann in das Anatomische Institut. Das war ein Gebäude für sich im Hofe der Universität, und Peter Franzewitsch {{[Franzewitsch]}} Leshaft war dort Herr. Wir stiegen die Treppe hinauf und betraten den Saal. Auf den Tischen lagen Leichen von Frauen und Männern, alte und junge, auf anderen einzelne Teile des menschlichen Körpers, Hände, Füße usw.. Über sie gebeugt standen junge Menschen in ihre Arbeit vertieft. Alle waren sie weiß gekleidet. Niemand wandte uns irgendwelche Aufmerksamkeit zu. Ein hohes, mageres Mädchen mit einem unschönen, fast männlichen Gesicht war allem Anscheine nach die Assistentin, die übrigen waren Studenten, und jeder war mit irgendeinem Präparat beschäftigt. Im Saal war eine furchtbare Luft; man gebrauchte damals noch nicht Formalin zur Desinfektion der Leichen, und die Studenten arbeiteten in einer ungesunden, erstickenden Atmosphäre. Wir waren darauf gefaßt, die nackten, toten Körper zu sehen und den furchtbaren Geruch zu ertragen. Wir wußten es im voraus und hatten uns mit Mut gegen den abstoßenden Eindruck gewappnet. Und wir hielten Stand. Vor[[Präposition]] uns stand der Professor. Er war nicht groß, dunkel und mochte etwa 32 bis 34 Jahre alt sein. Die dunklen Augen im mageren, ernsten Gesicht schauten uns durchdringend an, als wollte er prüfen, ob wir auch tatsächlich etwas leisten würden. Er gab uns in freundschaftlichem Tone die Einwilligung, seine Vorlesungen zu besuchen, und versprach, für den nächsten Morgen auch für uns anatomische Präparate vorzubereiten. Der Professor war so schlicht im Umgang, daß wir das Gefühl hatten, ihn schon lange zu kennen. Wir fühlten uns in seiner Gegenwart vollkommen frei. Und doch war ringsum eine Atmosphäre ernster Arbeit, und uns ergriff das Gefühl, daß sich vor uns die Tore der Wissenschaft geöffnet, daß wir den Weg des ernsten Strebens zum fernen Ideal betreten hätten. Am nächsten Morgen gab uns die Assistentin die nötigen Instrumente und eine tote Katze, deren Skelett wir präparieren sollten. Wir mußten systematisch alle Weichteile entfernen und dabei genau die Muskeln, die Nerven und die Gefäße beobachten. Wir zogen weiße Schürzen an; ernst und ängstlich – daß wir nicht irgend etwas verdürben – griffen wir zur Arbeit. Man kann sich kaum vorstellen, welch einen Zauber Professor Leshaft auf uns ausübte. Worüber er auch sprach, das ganze Auditorium hing wie gebannt an seinen Lippen. Er hatte die Gabe, die Aufmerksamkeit der Zuhörer in höchstem Grade zu fesseln. Wir fühlten alle, daß in seiner Darstellung alles notwendig sei, daß man nichts verlieren dürfe – daß man alles Gehörte in sein Gehirn einprägen müsse. Wir fühlten deutlich, vor uns steht ein Meister, und dieser Meister legt die Grundlagen zu unserer medizinischen Ausbildung. Die Studenten vergötterten Leshaft. In den Pausen und bei jedem Zusammensein sprach man über ihn. Er war eine stolze, unabhängige Persönlichkeit. Leidenschaftlich liebte er die Wissenschaft und überwachte eifersüchtig die Arbeiten seiner Studenten. Stark, gut, schlicht und ernst, wie er war, unterlag jeder dem Zauber seiner Persönlichkeit schon beim ersten Zusammentreffen. Er war das Ideal der Jugend, die das Glück hatte, unter seiner Leitung zu studieren. Seine starke, hingebende Liebe zur Wissenschaft teilte sich unwillkürlich seinen Schülern mit. Sie[[1]] waren nicht seine Zuhörer, sondern seine Schüler im vollsten Sinne des Wortes. Sobald sie den anatomischen Saal betraten, verschwand für sie die Außenwelt, und sie hingen nur noch an den Lippen ihres Meisters. Jede Einzelheit in seinem Vortrag war bedeutungsvoll, jeder Satz eine Offenbarung, jeder Hinweis auf die Entwicklungsgeschichte des Organismus beleuchtete blitzschnell das Problem. Und da, in dem Moment, als wir glaubten, an der Quelle der Wissenschaft zu stehen, wurde unsere Arbeit jählings auf eine sinnlose, unerwartete, brutale Weise unterbrochen. Eines Tages, als wir den anatomischen Saal betraten, starrte uns zu unserem Staunen nur eine Leere entgegen. Keine Leiche, keine Studenten, kein Leshaft zu sehen! … Wir erfuhren, daß auf allerhöchsten Befehl Leshaft seines Amtes in Kasan und für ganz Rußland enthoben worden sei. Die Nachricht schien uns ungeheuerlich, blödsinnig … Die Leshaft näherstehenden Studenten erklärten uns, ein Teil der Professoren, die Leshaft seiner geraden und ehrlichen Natur wegen haßten, hätten Denunziationen über Denunziationen geschrieben, in denen sie ihn anklagten, einen schädlichen Einfluß auf die Jugend auszuüben. Dieselben Studenten erzählten auch, daß ein anderer Teil der Professoren, empört über das Leshaft widerfahrene Los, zum Zeichen des Protestes ihr Lehramt in Kasan niedergelegt hätten. Eine ganze Anzahl von Studenten wären auch aus der Universität ausgeschieden, um Leshaft nach Petersburg zu folgen. Ich stand der Politik damals noch so fern, daß ich den Zusammenhang dieser Ereignisse mit unserer ganzen Staatsordnung nicht verstand; meine[[Besitz]] Empörung richtete sich hauptsächlich gegen die Denunzianten. Mein Plan, in Rußland zu studieren, war zusammengebrochen; ähnliches würde sich auch in Zukunft wiederholen. Ich beschloß, so schnell wie möglich ins Ausland abzureisen. Ich hoffte, dort ohne Störungen mein Studium zu Ende führen zu können. Nachdem Leshaft Kasan verlassen hatte, kehrten wir nach Hause zurück. Im Frühjahr 1872 reisten wir alle drei – mein Mann, ich und meine[[Besitz]] Schwester Lydia, die sich uns anschloß, nach Zürich. Neue, weite, freie Horizonte eröffneten sich uns. &&x &&am &&g1="Im_Auslande" &&fa Im Auslande &&fe &&ax Nach meiner Ankunft in Zürich beherrschte mich ausschließlich der Wunsch, mich vollständig dem Studium der Medizin zu widmen. Voll Andacht bezog ich die Universität; wenn ich auch damals erst 19 Jahre alt war, so war ich doch fest entschlossen, jedes Vergnügen, jede Zerstreuung zu meiden, um nur ja keine Minute der kostbaren Zeit zu verlieren. Ich vergrub mich in die Vorlesungen, Lehrbücher und praktischen Arbeiten mit einer glühenden Hingabe, die im Laufe von mehr als drei Jahren in nichts nachließ. Anfangs hatten wir keine Bekannten. Aber bald wurde meine[[Besitz]] Schwester Lydia durch eine Kollegin in den Kreis der Studentinnen eingeführt, die schon vor uns gekommen waren und schon vom Baum der Erkenntnis gekostet hatten. Diesem Kreis gehörten an: Bardina, Kaminskaja {{[Kaminskaja]}}, die Schwestern Ljubatowitsch {{[Ljubatowitsch]}} und noch andere. Es entstand ein enges Freundschaftsverhältnis zwischen ihnen, und bald darauf siedelte Lydia ganz zu ihnen über. Das erste Studienjahr näherte sich seinem Ende, als plötzlich ein Ereignis eintrat, das uns aus unserer Zurückgezogenheit herausriß. Es war die Frage der Verwaltung der Bibliothek in der russischen Lesehalle, deren Abonnenten, das war die gesamte Studentenkolonie, sie unter eigene Kontrolle nehmen wollten. Die Leser forderten die gleichen Rechte, wie sie die Gründer der Bibliothek besaßen. Beratungen, Versammlungen, Debatten setzten ein, man beschloß zu kämpfen und, falls es sich als notwendig erweisen sollte, aus der Bibliothek auszuscheiden, um eine neue zu gründen, die allen Lesern gleiche Rechte einräumen würde und ihrer Kontrolle unterstellt wäre. Das Ultimatum der Leser wurde von der Verwaltung abgelehnt, und 120 Personen schieden sofort aus. Unter dem frischen Eindruck wurden Versammlungen einberufen, es wurde beschlossen, eine Lesehalle auf einer neuen Grundlage zu gründen: Geld und Bücher wurden von allen Anwesenden für die neue Stiftung gespendet. Kaum ein Monat war vergangen, und die neue Lesehalle wurde eröffnet. Man gründete bald darauf auch eine Studentenküche und eine spezielle Kasse zur Unterstützung der Unbemittelten. Ein Haus wurde gekauft, in dem alle diese Einrichtungen untergebracht wurden, ein Klub eröffnet; Projekte von zwei Werkstätten, einer Tischlerei und einer Buchbinderei, ebenso von einem Arbeitsnachweis, wurden ausgearbeitet, usw.. Noch zur Zeit, als wir die alte Lesehalle besuchten, wurden dort öfters Geldsammlungen vorgenommen; sei es für streikende Arbeiter, für die Märtyrer der Pariser Kommune, für russische Emigranten, die spanische Revolution, usw.. Die meisten der jungen Studenten spendeten ihr Geld, ohne den Zweck recht zu kennen; die stets wiederkehrenden Aufforderungen riefen naturgemäß Fragen nach dem Ziel hervor, und Erklärungen wurden gegeben. Auch hingen an den Wänden Anzeigen von Arbeiterversammlungen, von Vorträgen für Arbeiter usw.. Wir besuchten solche Versammlungen, Festmahle zu Ehren der Kommune, die Sitzungen der schweizerischen Arbeitervereine und der Sektionen der Internationale. Wir begannen uns in starkem Maße für Theorie und Praxis des Sozialismus zu interessieren, zu dessen Studium besondere Zirkel ins Leben gerufen wurden. Einer dieser Zirkel, dem ich und elf andere Personen, ausschließlich Frauen, angehörten, und dessen Mitglieder später im Prozeß der Fünfzig als Angeklagte auftraten, machte sich zur Aufgabe, folgende Gegenstände zu studieren: 1. die sozialistischen Lehren von Thomas Morus bis zur Gegenwart, vor allem Fourier, St. Simon, {{Cabet}}, {{Louis Blanc}}, {{Proudhon}}, Lassalle {{[Lassalle]}}, 2. die politische Ökonomie, 3. Volksbewegungen und Revolutionen, 4. die zeitgenössische Arbeiterfrage und -bewegung im Westen (Geschichte der englischen Trade Unions, der Internationalen Arbeiter-Assoziation, des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins usw.). Wir befaßten uns sehr ernst und eingehend mit diesem Studium und widmeten ihm zwei Jahre. Trotzdem lenkten uns diese sozialen Interessen und Studien keineswegs von unserem Spezialstudium ab. Wir verstanden das Interesse für Leben, Literatur und Wissenschaft in harmonischer Weise miteinander zu verbinden. Wir wußten die anatomischen und noch mehr die praktischen Arbeiten hoch zu schätzen, wir interessierten uns lebhaft für die zoologischen Vorträge, und unser Professor der Histologie hob unser Interesse für die praktischen Übungen in seinem Fach hervor. Wir fehlten bei keinem einzigen Physiologievortrag des berühmten Professors Hermann, der sich lange gegen die Zulassung von Studentinnen in Zürich gewehrt hatte. Die Vorträge aus der Chemie und Mineralogie mieden wir, da sie langweilig und weniger lehrreich als die Bücher waren, drängten uns dagegen ins chemische Laboratorium. Im allgemeinen waren wir Studentinnen fleißiger als unsere männlichen Kollegen. &&x Im Sommer 1873 wurde von der russischen Regierung ein Ukas {{[Ukas]}} an die Studentinnen der Universität Zürich erlassen, diese Universität unverzüglich zu verlassen, bei Strafe der Nichtzulassung zu den Staatsprüfungen in Rußland. Wir waren aufs höchste betroffen. In der Begründung wurde gesagt, daß die Studentinnen sich sozialistischen Ideen widmeten. In einem anderen Punkt, der geeignet war, uns Frauen in hohem Maße zu verletzen, hieß es, daß die russischen Frauen unter dem Vorwand des Studiums sich den Gelüsten der »freien Liebe« im Ausland hingäben. Diese freche Verleumdung führte dazu, daß manche Ausländer von nun an uns als leichtlebige Frauen zu betrachten begannen. In einer allgemeinen Studentinnenversammlung beschlossen wir, einen Protest gegen die Verletzung unserer Ehre zu verfassen und in allen europäischen Zeitungen erscheinen zu lassen. Doch die konservativen Elemente – die älteren Semester – widersetzten sich dem. Da der Erlaß nur von Zürich sprach, so beschlossen diejenigen, die im Ausland bleiben wollten, andere Universitäten zu beziehen, sie gingen zum Teil nach Paris, Bern, Genf, andere kehrten in die Heimat zurück, noch andere trachteten die Ideen, die sie sich in der Schweiz zu eigen gemacht hatten, in Rußland zu verwirklichen. In meinem Leben hatte sich unterdessen manches geändert. Unter dem Einfluß neuer Persönlichkeiten und Probleme entstanden zwischen mir und meinem Mann große Meinungsverschiedenheiten: er schloß sich dem Lager der älteren, der Konservativen, ich mich dem der Extremen an. Ursprünglich hatte ich dem Kreis der sozialistischen Studentinnen nicht angehört. Sie[[1]] luden mich nicht ein, weil sie meinen[[Besitz]] Mann nicht leiden mochten, wegen des Dünkels, mit dem er auf sie herabblickte. Man nahm an, ich dächte wie er. Mein Stolz erlaubte mir nicht, mich auszusprechen, bis ich zufällig eines Abends bei der Bardina geblieben war, wo an jenem Tag eine Vorlesung angesagt war. Bei Beginn der Versammlung sprang ich auf, um wegzulaufen. Aber die Bardina hielt mich freundlich zurück, wir sprachen uns aus. Seitdem versäumte ich keine einzige Zusammenkunft mehr. In meiner Weltanschauung ging im Laufe dieses Züricher Jahres ebenso wie bei den anderen eine große Umwälzung vor sich. Was früher das Ziel erschien, war jetzt zum Mittel geworden; die Tätigkeit des Mediziners, Agronomen, Technikers als solche verlor in unseren Augen ihren Sinn, erschien nur als eine Art von Wohltätigkeit, als ein Palliativ. Wir wollten nicht die Krankheitssymptome heilen, sondern ihre Ursachen beseitigen. Wir meinten jetzt, wenn wir das Volk auch noch so viel mit Arzneien, Pillen und Mixturen behandeln würden, könnte man günstigstenfalls nur eine vorübergehende Besserung herbeiführen. Die Krankheiten würden nicht abnehmen, da das Milieu, die ungünstigen Wohnungs-, Ernährungs- und Bekleidungsverhältnisse der Kranken unverändert blieben. Das Berufsziel, das uns als so edel und hoch vorgeschwebt hatte, war in unseren Augen herabgewürdigt zu einem – noch dazu unnützen – Handwerk. Wohin den Blick richten, woran die Kräfte wenden? Was sollte der Mensch anfangen, der seinen Tätigkeitsdrang im gesellschaftlichen Interesse befriedigen wollte? Das ganze Übel – sagten uns unsere neuen Eindrücke – wurzelt in den bestehenden wirtschaftlichen Verhältnissen. Wie sind diese Verhältnisse? Eine ganz geringfügige Minderheit verfügt durch das Recht des Privateigentums über alle Produktionsmittel. Alle übrigen Menschen dagegen, die ungeheure Mehrheit, verfügt nur über ihre Arbeitskraft. Vom Hunger getrieben, verkauft sie ihre Arbeitskraft an die Minderheit, erhält aber infolge der gegenseitigen Unterbietung dafür nur einen kleinen Teil dessen, was durch ihre Arbeit erzeugt wird: nur den Teil der Produkte, der zur Aufrechterhaltung des Lebens der Arbeitenden und zu ihrer Fortpflanzung unbedingt notwendig ist. Der verbleibende Rest der Arbeitsprodukte wird von den Besitzern der Produktionsmittel behalten. Die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander wiederum vernichtet allmählich den behäbigen Mittelstand, reibt ihn auf und führt zu einer immer größeren Konzentration der Kapitalien. Gleichzeitig schwellen die Reihen der Ausgeplünderten immer mehr an. Während oben eine dünne Schicht von Glückspilzen alles genießt, was die Zivilisation nur an Luxus bietet, kriechen unten Millionen von Menschen in Armut, Unwissenheit, Verbrechen und Lastern und sind zu körperlicher, geistiger und sittlicher Entartung verdammt. Um mit einer solch abscheulichen Ordnung der Dinge aufzuräumen, tut eins not: die Produktionsmittel vom Privatbesitz auszuschließen und sie, als kollektives Eigentum allen Werktätigen zu übergeben. Diese Umwälzung ist nur durch Kampf zu erreichen, da die Klasse, die sich in bevorzugten Verhältnissen befindet, freiwillig niemals darauf verzichten wird. Zu diesem Kampf muß die Klasse organisiert werden, die am erfolgreichen Ausgang des Kampfes das größte Interesse hat, d. h. die Arbeiterklasse, das Volk. Die Menschen nun, die die Interessen der Arbeiterklasse als die Interessen der ganzen Menschheit erkannt haben, müssen alle ihre Kräfte einsetzen, um die sozialistischen Ideen ins Volk zu tragen und es zum aktiven Kampf für diese Ideen zu organisieren. Das war das Fazit des Züricher Lebens. &&x Im Sommer 1873, bei Beginn der Ferien, trennten wir uns alle; meine[[Besitz]] Schwester Lydia, einige Kolleginnen und ich ließen uns in Lutry {{[Lutry]}} am Neuenburger See nieder. An einem wunderschönen Schweizer Abend während eines Spazierganges zu zweien in den Weinbergen stellte mir meine[[Besitz]] Schwester Lydia in tiefbewegten Worten folgende Fragen: ob ich mich entschlossen habe, meine[[Besitz]] Kräfte der revolutionären Sache zu widmen, nötigenfalls auch mit meinem Manne zu brechen, die Wissenschaft zu opfern, die bürgerliche Laufbahn aufzugeben. Ich bejahte voll Enthusiasmus. Darauf teilte mir die Schwester mit, daß ein geheimer revolutionärer Verein gebildet sei, der beabsichtige, in Rußland zu wirken. Man las mir die Statuten und das Programm vor, und als ich mich mit den Bestimmungen einverstanden erklärte, wurde ich als Mitglied des Vereins aufgenommen. Ich war damals 21 Jahre alt. Diese ursprünglichen Satzungen unseres Vereins waren eine getreue Kopie der Statuten irgendeiner beliebigen Sektion der Internationalen Arbeiter-Assoziation; sie enthielten auch nicht die leiseste Andeutung der Eigenart des russischen Volkes und der Verhältnisse des russischen Lebens. Die fertige westeuropäische Formel wurde von A bis Z auf russischen Boden übertragen. Der ganze Werdegang der Arbeiterbewegung blieb unberücksichtigt. Da wir sahen, daß die politische Freiheit in Westeuropa das Volk nicht glücklich gemacht hatte, daß sie seine wirtschaftliche Lage unbeachtet ließ, griffen wir die letzten Forderungen der Arbeiterklasse auf und stellten uns ausschließlich auf den Boden des wirtschaftlichen Kampfes. Wir hielten es für unmöglich, das russische Volk zu einem Kampf um Rechte aufzufordern, die ihm kein Brot geben würden; wir hofften, durch den Kampf für eine Umwälzung der bestehenden Wirtschaftsordnung gleichzeitig die Idee des Zarismus zu bekämpfen und damit die Demokratisierung des politischen Systems erringen zu können. An das Joch des damaligen politischen Regimes in Rußland, an die Unmöglichkeit, unter den bestehenden Bedingungen schriftlich oder mündlich unsere Tätigkeit zu entfalten, dachten wir gar nicht. Wir dachten zwar daran, daß uns Verbannung und Zuchthaus erwarteten, aber wir hatten keine reale Vorstellung von den uns bevorstehenden Schwierigkeiten, Hindernissen und Gefahren. Wir sollten das später teuer bezahlen! Wir wollten sozialistische Ideen unter das Volk tragen, ohne alle Zugeständnisse an die im Volke herrschende Weltanschauung; wir hielten es für nötig, dem Volk nicht nur vom Kollektiv-, vom Gemein eigentum zu sprechen, sondern auch von der Kollektiv arbeit – nach dem Grundsatz: »Jeder gebe gemäß seinen Fähigkeiten« – und vom kollektiven Verbrauch (Konsum) der Arbeitserzeugnisse nach dem Grundsatz: »Jeder erhalte nach seinem Bedürfnis«. Kurz: wir dachten aus dem Volke bewußte Sozialisten im westeuropäischen Sinne heranzubilden. Dazu war natürlich nötig, mitten unter dem Volke zu leben, womöglich gar mit ihm zu verschmelzen. Zu allererst hatten wir es nicht für nötig gehalten, daß die Intellektuellen dabei zu Handarbeitern würden; darauf kamen wir erst später. Von allem Anfang an jedoch verwarfen wir die stark privilegierten Stände, wie die eines Gutsbesitzers, Arztes, Friedensrichters usw.. Das Programm der Gesellschaft, deren Mitglied ich geworden, faßte diese Anschauungen zusammen und sprach von der sozialen Revolution, die die sozialistischen Ideale verwirklichen werde, als einem Ereignis der nahen Zukunft. Wir waren im ganzen zwölf Studentinnen, aber wir wußten, daß neben uns viele andere Gruppen mit denselben Zielen bestanden, und waren deshalb überzeugt, daß die Arbeit auf breiter Basis vorangehen werde. In diesem Sommer 1873 erschien die erste Nummer der Zeitschrift »{{Wperjod}}« (»Vorwärts«). Sie[[1]] gab unserem Denken einen starken Antrieb, rief viele Diskussionen und Debatten hervor. Nach der Sprengung der Züricher Kolonie reiste eine von unseren Kolleginnen, Eugenie {{Dimitrijewna}} Subbotina {{[Subbotina]}}, nach Rußland, fünf andere – Bardina, Alexandrowa {{[Alexandrowa]}}, Lydia Figner und zwei jüngere Schwestern der Subbotina – gingen nach Paris, noch andere – darunter die beiden Ljubatowitsch, die Kaminskaja und ich – bezogen die Berner Universität. Bald darauf kam Tkatschow {{[Tkatschow]}} nach Bern. Er schlug unserer Gruppe vor, in föderative Beziehungen zu den »Zehn Dutzend« der Revolutionäre in Rußland zu treten. Ebenso wie die große Mehrheit der damaligen sozialistischen Jugend waren auch wir Anhänger der föderalistischen Organisationsform. Im Konflikt, der die gesamte Internationale in zwei Lager trennte, stellten wir uns auf Seite Bakunins, wie wir überhaupt unter dem Zauber seiner Persönlichkeit standen. Tkatschow dagegen kam mit einem jakobinischen und zentralistischen Programm, und da er noch dazu den Ruf eines Menschen genoß, der Fiktionen im revolutionären Kampfe für notwendig hielt, wir außerdem Gegnerinnen der {{Netschajewschen}} Politik waren, lehnten wir das angebotene Bündnis ab. Bald darauf reisten die beiden Schwestern der Subbotina nach Rußland, um sich dort revolutionär zu betätigen. Wir anderen traten in Verbindung mit dem Revolutionär Fesjenko {{[Fesjenko]}}, der uns in Beziehung zu Serbien brachte, und da wir damals alles vom internationalen Standpunkt betrachteten, wurde beschlossen, unbedingt jemand nach Serbien zu schicken zur Agitation und Gründung eines sozialistischen Blattes mit Hilfe dortiger Genossen. Die Wahl fiel auf mich; ich war damals schon fast frei, da mein Mann in Rußland den Posten eines Bezirksgerichtssekretärs angenommen hatte. Da ich aber gar kein Serbisch konnte, bat ich, man möge jemand anders hinschicken. Nun wurde Maria Subbotina dazu ausersehen, die aber von Serbien geradewegs nach Rußland weiter fuhr. Bei Schluß des Semesters gingen noch sechs andere Kolleginnen nach Rußland, um sich der revolutionären Tätigkeit zu widmen. Ich konnte mich noch immer nicht entschließen, dem Beispiel zu folgen. Die noch nicht abgebrochenen Familienbeziehungen und der Wunsch, mein Studium zu beenden, hielten mich zurück. Die Bitten meiner Mutter, die sehr bekümmert war, weil Lydia ihr Studium aufgegeben hatte, bestärkten mich in meinem Beschluß. Noch eins kam hinzu. Einige Genossinnen unserer Gruppe, die nach Rußland abgereist waren, gedachten, dort ihre Hebammenprüfung abzulegen. Ich wußte genau, daß sie die dafür nötigen medizinischen Kenntnisse nicht besaßen. Ich aber wollte nach Vollendung meines Studiums zwar auch nur eine bescheidene Feldscherin oder Hebamme auf dem Lande werden wie sie, wollte aber dem Volke mit aller Erfahrung und den Kenntnissen eines Arztes und Chirurgen helfen können. Um diese Zeit hatten in Rußland die Sozialistenverfolgungen eingesetzt, und viele flüchteten ins Ausland. Während der Ferien traf ich manche von ihnen in Genf; einige kannte ich noch von Zürich her, als sie zusammen mit mir studierten. In Genf lernte ich kennen: Tschubarow, Nikolai Schebunew {{[Schebunew]}} mit seiner Frau, Nikolai Morosow, Sablin {{[Sablin]}}, {{Sudsilowski}}, später noch Klemenz, {{Krawtschinski}}, Iwantschin-Pissarew {{[Iwantschin-Pissarew]}}, Iwan Debagorio-Mokrijewitsch {{[Debagorio-Mokrijewitsch]}} und viele andere. Auch mit verschiedenen ausländischen Emigranten wurde ich bekannt, z. B. mit den Mitgliedern der Pariser Kommune {{Pindy}} und {{Lefrançais}}, mit den Mitgliedern der Ersten Internationale {{Brousse}}, {{Guillaume}} usw.. Einige Russen besuchten mich in Bern, und da sie bei mir Sympathie und auch materielle Hilfe fanden, wußten von meiner Existenz viele Zirkel in Rußland schon vor meiner Rückkehr in die Heimat. Viele kehrten auf meine[[Besitz]] Kosten in die Heimat zurück, z. B. der später gehenkte Tschubarow, Nikolai Morosow und Sablin (beide wurden an der Grenze verhaftet), Iwan Mokrijewitsch, Enkuwatow {{[Enkuwatow]}} und noch ein paar Kameraden. Auch unterstützte ich in Berlin und London mir unbekannt gebliebene Russen. Zu jener Zeit standen mir noch meine[[Besitz]] persönlichen Geldmittel zur Verfügung, und da ich meine[[Besitz]] eigenen Ausgaben auf ein Minimum beschränkte, konnte ich ziemlich vielen meiner Kameraden helfen; außerdem bemühte ich mich auch, Sympathien für die Sozialisten zu wecken und meine[[Besitz]] Umgebung zu Geldspenden zu bewegen. Ich glaube, in jener Zeit entstand die damals verbreitete Meinung, daß man sich, falls es an Geld fehlte, nur an mich wenden müsse. Tatsächlich konnte ich mich nie mit dem Gedanken aussöhnen, daß eine nützliche Sache aus Mangel an verächtlichem Metall scheitern solle, und ich verstand, immer wieder irgendwie Geld aufzutreiben. &&x &&am &&g1="Rückkehr_nach_Rußland" &&fa Rückkehr nach Rußland &&fe &&ax Unterdessen arbeitete unser Kreis in Rußland mit Volldampf. Er hatte einen Organisationsplan ausgearbeitet (der im Prozeß der Fünfzig während der Gerichtsverhandlungen bekannt wurde). Es waren höchstens 25 Mitglieder; die übrigen 25 Angeklagten waren fälschlich von der Polizei mit ihnen in Verbindung gebracht worden. Wir gaben eine eigene Zeitung heraus: »{{Rabotnik}}« (»Der Arbeiter«), die im Ausland erschien. Die Organisation hatte sich die Aufgabe gestellt, unter dem Volke die sozialistischen Ideen auf friedliche Weise zu propagieren, sie erkannte aber auch die Notwendigkeit an, Teilaufstände zu unterstützen und sie herbeizuführen, ohne erst den allgemeinen, siegreichen Aufstand abzuwarten. Der Aufbau der Organisation war rein föderativ, ihrem Inhalt nach sollte sie eine demokratische Arbeiterorganisation sein. Zu ihrem Tätigkeitsgebiet hatte sie sich die Fabrikarbeiterschaft erwählt, erstens weil sie am entwickeltsten war, zweitens weil sie ihre Verbindung mit dem flachen Lande, woher sie kam, noch nicht gelöst hatte, und darum leicht unsere Ideen in das Bauerntum hineintragen konnte, wenn sie im Sommer zur Feldarbeit zurückkehrte. Die Mitglieder der Organisation ließen sich in verschiedenen Fabrikzentren nieder, manche ließen sich als Arbeiter in Moskauer Fabriken einstellen, andere gingen als Weber nach {{Iwanowo-Wosnessensk}}, wieder andere arbeiteten in Zuckerfabriken in Kiew, noch andere siedelten sich in {{Tula}} an. Im Herbst 1875 aber flog die ganze Organisation auf: die Mitglieder und viele Arbeiter, die der Organisation nahe gestanden hatten, wurden verhaftet. Trotzdem gedachten die noch in Freiheit Gebliebenen, die Arbeit fortzusetzen. Da erinnerte man sich an uns, die noch im Auslande waren und seinerzeit das Versprechen gegeben hatten: »Alle für Einen und Einer für Alle«. Bald erhielten wir, Dorothea Aptekmann {{[ DorotheaAptekmann]}} und ich, die Aufforderung, uns nach Moskau zu begeben. Ich muß gestehen, daß es mich einen schweren inneren Kampf gekostet hat, ehe ich mich zu diesem Schritt durchgerungen habe. Freilich war mir mein Mann keine Störung mehr, da ich ihm bereits im Frühjahr 1875 geschrieben hatte, daß ich auf die materielle Hilfe von seiner Seite verzichte und ihn bitte, jede Beziehung zu mir abzubrechen. Aber die Medizin, das Diplom? Zur Beendigung meines Studiums brauchte ich noch etwa ein halbes Jahr; ich hatte schon einen Entwurf meiner Doktorarbeit ausgearbeitet und wollte in zwei, drei Monaten damit beginnen. Die Hoffnungen der Mutter, die Erwartungen der Bekannten und Verwandten, Eigenliebe, Ehrgeiz, das alles galt es jetzt mit eigenen Händen zu zerstören in dem Augenblick, als das Ziel schon so nahe winkte. Andererseits mußte ich jener gedenken, die denselben Kampf durchgekämpft, das Gleiche aufgegeben und sich mit größter Selbstverleugnung der Sache hingegeben hatten, ohne auf die Bitten und Wünsche ihrer Verwandten zu achten. Ich mußte jener gedenken, die in den Gefängnissen schmachteten und das schwere Los trugen, das uns allen schon in unseren Zukunftsträumen vorgeschwebt hatte. Ich dachte auch daran, daß ich schon über jenes Wissen verfügte, das dem Arzte unentbehrlich ist; daß mir nur das offizielle Dokument fehlte, daß ich nach der Meinung der Menschen, die mich persönlich und den Stand der Bewegung kannten, jetzt unentbehrlich notwendig sei, gerade jetzt notwendig und gerade für jene Sache, der ich mich doch widmen wollte. Ich beschloß zu fahren, damit meine[[Besitz]] Taten nicht meinen[[Besitz]] Worten widersprächen. Mein Entschluß war durchdacht und unumstößlich; ich habe ihn später nie bereut. Im Dezember 1875 verließ ich die Schweiz mit einer lichten Erinnerung an die Jahre, die mir wissenschaftliche Kenntnisse, Freunde und ein Ziel im Leben gegeben hatten, so erhaben, daß alle Opfer daneben verblaßten. Um dieselbe Zeit, als ich nach Rußland reiste, war die Mutter gerade im Begriff, zu ihrer Erholung nach der Schweiz zu reisen. Lydia war unterdessen verhaftet worden, und das hatte die Gesundheit meiner Mutter stark erschüttert. Ich hatte sie von meinem Entschluß, heimzukehren, vorher nicht benachrichtigt, und ich traf sie gerade noch in Petersburg. Einige Tage später reiste sie mit meinen[[Besitz]] beiden jüngsten Schwestern Eugenie und Olga ab. Nach der Abreise meiner Mutter siedelte ich nach Moskau über, wo sich das Zentrum der zerschlagenen Organisation befand. Um nicht die Aufmerksamkeit der Polizei auf mich und die neuen Genossen zu lenken, versagte ich mir das Wiedersehen mit meiner Schwester Lydia, die in einem der Polizeireviere in Moskau in Haft saß. Ich fand mich leicht damit ab, war ich doch nicht ihretwegen gekommen. Ich war der festen Überzeugung, daß die mir bevorstehende Arbeit so hohe Anforderungen an meine[[Besitz]] geistigen und moralischen Kräfte stellen werde, daß das persönliche Element aus meinem Leben vollkommen ausscheiden müsse. Mich erwartete eine bittere Enttäuschung; die Kameraden, die gleich mir sich zur Arbeit gestellt hatten, bildeten eine lose, undisziplinierte Gruppe ohne irgendwelche Erfahrung und ohne einen allgemeinen Plan. Die Tüchtigsten und Erfahrensten waren bald verhaftet worden, die Jugend hatte nicht die geringste Vorbereitung, die Arbeiter, mit denen man in Berührung kam, waren korrumpiert und entlockten uns gewissenlos Geld. Statt vor einem großen, fruchtbaren Arbeitsfeld standen wir vor system- und zusammenhangloser Kleinarbeit; ich konnte mich in diesem Chaos nicht zurechtfinden. Man übertrug mir die Verbindung mit den Genossen, die im Gefängnis saßen. Lange Tage widmete ich mich der Entzifferung chiffrierter Briefe, abends ging ich in schmutzige Kneipen, um irgendwelche dunkle Persönlichkeiten zu treffen, oder hatte in den düsteren Moskauer Seitengäßchen Besprechungen mit Schutzleuten und Gendarmen. Es war ekelerregend, diese Menschen zu sehen, die immer bereit waren, für Geld die eine wie die andere Seite zu verkaufen und zu verraten. Wir versuchten, die Flucht einiger Genossen zu organisieren, aber es kam dabei nichts heraus, abgesehen vom Verlust einer bedeutenden Geldsumme. Um diese Zeit fand der Prozeß des Gendarmerie-Unteroffiziers {{Buchanow}} statt, der zur Versetzung in das Strafbataillon verurteilt wurde, weil er zwei Genossen zur Flucht hatte verhelfen wollen. &&x Die revolutionäre Partei lag wie unter einem schweren Alp; alle Zirkel waren durch die Verfolgungen der Regierung zerschmettert, nach dem Bericht des Justizministers Graf {{Pahlen}} waren etwa 800 Menschen strafrechtlich verfolgt, die Zahl der Personen, die eine kurze Haft oder eine Haussuchung erleiden mußten, war bedeutend höher; es gab kaum eine Familie, die von Repressalien verschont blieb, jeder verlor entweder einen Freund oder einen Verwandten. Und doch waren alle diese schweren Prüfungen nichts im Vergleich mit jener moralischen Erschütterung, die der Mißerfolg der propagandistischen Bewegung herbeiführte; bei vielen brachen die Hoffnungen zusammen; das Programm, das so real schien, hatte die erwarteten Resultate nicht gebracht; der Glaube an die eigenen Kräfte und an die Richtigkeit des Arbeitsplanes war erschüttert; je größer der Enthusiasmus der Menschen war, die sich der Propaganda gewidmet hatten, desto größer war ihre Enttäuschung. Das Alte war zerbrochen, neue Anschauungen noch nicht herausgearbeitet. Umsonst bemühten sich Einzelne, die auseinandergefallenen Reihen wieder zusammenzuschweißen. Dem Begabtesten unter ihnen, Mark Andrejewitsch Natanson {{[Andrejewitsch Natanson]}}, gelang es, die noch übrig gebliebenen »Tschaikowzy« {{[Tschaikowzy]}} Mitglieder der Tschaikowski-Gruppe mit den »{{Lawristen}}« Anhänger von P Lawrow {{[Lawrow]}} zu verschmelzen; aber schon nach einem Monat zerfiel der neue Verband. Um diese Zeit begab sich eine Gruppe Propagandisten nach dem Gouvernement Nischni-Nowgorod {{[Nischni-Nowgorod]}} (Kwatkowski und andere). Sie[[1]] kehrten bald zurück. Die polizeilichen Vorschriften waren derartig verschärft worden, daß es unmöglich war, sich auf dem Lande zu halten. Nach diesen Versuchen schwand auch die Initiative. Ich persönlich war in einer Stimmung, daß ich mir den Tod wünschte. An einen meiner Bekannten aus dieser Periode denke ich voll Liebe zurück: an den illegalen Lawrow-Anhänger Anton Taksis {{[Taksis]}}. Er war mir in meinen[[Besitz]] schwersten Monaten eine Stütze; manchen Grundsätzen, die er mir in jener Zeit beigebracht hat, bin ich bis heute treu geblieben. Er machte mich auf die Ursachen unseres Mißerfolges aufmerksam; als echter Lawrow-Mann sah er die Ursachen der Mißerfolge nicht in der mangelhaften Organisation, die übrigens zu theoretisch aufgebaut war, sondern in der Untüchtigkeit und Unerfahrenheit der Revolutionäre; er glaubte fest an die Zukunft der Revolution und betrachtete den gegenwärtigen Zustand als etwas Vorübergehendes, das am Beginn einer Bewegung unausbleiblich sei. Außerdem prägte er mir ununterbrochen ein, daß man für die revolutionäre Sache weniger stürmischen Enthusiasmus als geduldige, zähe und ausdauernde Kleinarbeit brauche. Die augenblicklichen Resultate dieser wahrhaft harten Arbeit mögen auch noch so gering sein, man müsse sich damit abfinden und nicht verzweifeln; denn jede neue Idee werde nur langsam im Leben verwirklicht, und die Menschen erreichten nur soviel, wie ihnen unter den gegebenen historischen Bedingungen möglich sei. Taksis bestärkte mich im Entschluß, Moskau zu verlassen, mich auf dem Lande niederzulassen und mich selbst zu überzeugen, welch eine »Sphinx« das Volk sei. Im Frühjahr fand ich jemand, der meine[[Besitz]] Parteipflichten in Moskau übernahm, und ich verreiste nach Jaroslawl {{[Jaroslawl]}}. Ich hatte den Behörden meinen[[Besitz]] Aufenthalt und meine[[Besitz]] Universitätsstudien im Ausland verheimlicht, denn beides kennzeichnete den Menschen in ihren Augen als ein verdächtiges Subjekt, und begann in Jaroslawl das Kreiskrankenhaus zu besuchen. Nach sechs Wochen meldete ich mich zur Prüfung als Feldscherin vor der Sanitärbehörde. Ich bestand das Examen glänzend, was in meinem Diplom verzeichnet wurde. Mehr als einmal mußte ich mir Zwang antun, um mich nicht in eine gelehrte Diskussion mit dem Inspektor einzulassen. Von Jaroslawl begab ich mich nach Kasan, um meine[[Besitz]] Familienangelegenheiten in Ordnung zu bringen; mein Mann und ich wollten uns formell scheiden lassen. Die Scheidung kam nach einigen Monaten zustande, und ich nahm wieder meinen[[Besitz]] Mädchennamen an. Nach der Rückkehr nach Petersburg bestand ich in der medizinisch-chirurgischen Akademie die Prüfung als Hebamme. Im November 1876 waren alle meine[[Besitz]] persönlichen Angelegenheiten in Ordnung, und ich machte unter die Vergangenheit unwiderruflich einen Strich. Von meinem 24. Jahr an war mein Leben ausschließlich mit den Geschicken der russischen revolutionären Partei verbunden. &&x &&am &&g1="Das_Programm_der_Narodniki" &&fa Das Programm der »Narodniki« {{[Narodniki]}} &&fe &&ax Bis Ende 1876 war die russische revolutionäre Partei in zwei Hauptäste geteilt: die Propagandisten und die »Buntari« {{[Buntari]}} (»Buntar« von »Bunt« {{=}} Aufstand, Putsch). Die ersten hatten im Norden das Übergewicht, die zweiten im Süden. Beide haben in ihrer praktischen Tätigkeit unter den Volksmassen ein Fiasko erlitten. Sowohl in den Massen selbst als auch in den politischen Bedingungen des Landes begegneten sie ganz unerwarteten und unüberwindlichen Hindernissen bei der Verwirklichung ihres Programms. Trotzdem fanden sich immer noch ziemlich viele bereit, die revolutionäre Arbeit fortzusetzen, sich einem bestimmten Aktionsplan anzuschließen. Ungeachtet aller Verhaftungen gingen die Erfahrenen unter ihnen, die Vergangenheit kritisch wertend, an die Herausarbeitung neuer Grundlagen der revolutionären Praxis. Das Resultat dieser von verschiedenen Gruppen in Petersburg gleichzeitig betriebenen Arbeit war das Programm, das später als Programm der »Narodniki« {{=}} »Volkstümler« (Narod {{[Narod]}} {{=}} Volk) bekannt geworden und in das Programm der Gesellschaft »Land und Freiheit« übernommen worden ist, später teilweise auch in das des Bundes »Volks-Wille«. Der Grundgedanke dieses Programms war, daß das russische Volk, ebenso wie jedes andere, das sich auf einer bestimmten Stufe geschichtlicher Entwicklung befindet, seine eigne urwüchsige Weltanschauung besitze, die dem Niveau der sittlichen und intellektuellen Begriffe entspricht, die es sich unter den gegebenen Bedingungen zu eigen machen konnte. Die Anschauungen des Volkes in politischen und wirtschaftlichen Fragen bilden einen Bestandteil seiner Weltanschauung. Diese Anschauungen umzugestalten, ohne daß man die Institutionen, auf die das Volksleben aufgebaut ist, ändere, sei ein äußerst schwieriges Beginnen. Deshalb müsse man bei der revolutionären Tätigkeit von den jeweiligen Verhältnissen, Bestrebungen und Wünschen des Volkes ausgehen und auf sein Banner Ideale schreiben, deren sich das Volk schon bewußt geworden. Auf wirtschaftlichem Gebiet sei ein solches Ideal eigene Arbeit auf eigenem Boden als Voraussetzung des Besitzrechtes. Das Volk könne und wolle sich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß die Erde jemand anderem gehören dürfe als dem, der sie bearbeitet und betreut. Es betrachte Grund und Boden als Gabe Gottes, deren nur teilhaftig werden dürfe, wer sich darauf abmüht; die gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse betrachte es nur als zeitweilige Gefangenschaft der nährenden Mutter Erde, die früher oder später dem ganzen Volke wiedergehören werde. Diesen Boden bewohne das Volk seit alters her als »{{Obschtschina}}« (= Gemeinde), an ihr halte es, tausendjähriger Tradition getreu, jetzt noch fest. Wegnahme alles Bodens zugunsten der Gemeinde, das sei das Volksideal, das mit der Grundforderung sozialistischer Lehre zusammenfalle. Im Namen dieses Ideals sei der Kampf zu beginnen. Aber die Anschauungen des Volkes über die Staatsmacht und ihre Personifizierung, den Zaren? Wie sich stellen zu den Hoffnungen des Volkes auf den Zaren als seinen Verteidiger, Schutzherrn und Quell alles Heils? Den Glauben an den Zaren zertrümmern könnte man nur durch den tatsächlichen Beweis, daß der Zar nicht die Interessen des Volkes wahre, den Klagen und Beschwerden des Volkes kein Ohr leihe. Eins der Mittel dazu sei, durch systematische Organisierung von Bittgängen dem Zaren Wünsche und Nöte von Dörfern, Kreisen und ganzen Gouvernements vorzutragen. Das Schicksal derartiger Bittgänger sei bekanntlich Verbannung, Verhaftung oder Abschub in die Heimat. Bittere Erfahrung werde dem Volke zeigen, daß es vom Zaren nichts zu erwarten habe, daß es nur auf seine eigenen Kräfte bauen dürfe, wenn es eine bessere Zukunft erobern wolle. Um den Mut des Volkes und seine Fähigkeit, eigene Interessen zu verteidigen, zu steigern, sei ein systematisches Vorgehen der Revolutionäre notwendig: sie müßten unter dem Volke in einer Form leben, die die Gewohnheiten und Schwächen des Kulturmenschen nicht allzusehr vergewaltigt, die Revolutionäre aber dem Volke nahe sein läßt, in einem sozusagen halbintellektuellen Beruf (sei es als Gemeindeschreiber, Sparkassenbuchhalter, Feldscher, Krämer usw.) und müßten dann alle Gelegenheiten im Bauernleben ausnützen, um die Idee der Gerechtigkeit zu unterstützen, die Allgemeininteressen der Bauern und die Würde[[würdig]] auch des Einzelnen zu verteidigen. Der Revolutionär sollte in seiner Stellung, etwa als Dorf- oder Bezirksschreiber, Einfluß auf das Distriktsgericht ausüben, Schnaps und Bestechung daraus vertreiben, es zu einem wirklichen Gericht des Volksgewissens machen; er sollte die Bedeutung der Dorfversammlung und des Bezirksgerichtes heben, sie zum wirklichen Ausdruck der öffentlichen Meinung machen und sie nicht, wie bisher, zum Spielball irgendwelcher Dorfschufte werden lassen; er sollte die Dorfwucherer und Blutsauger von den Gemeindeangelegenheiten abdrängen und die Bedeutung der Dorfarmen erhöhen; sollte Prozesse gegen die Gutsbesitzer, Dorfwucherer, Regierungsbehörden anregen und unterstützen; sollte, wo nur irgend möglich, darauf bestehen, daß die Bauern ihre Rechte und Errungenschaften verteidigten; kurz, er sollte im Bauerntum den Geist der Selbstachtung und des Protestes entwickeln und gleichzeitig auch energische Naturen, Führernaturen, erspähen, die sich der Dorfinteressen besonders annähmen; sollte sie in Gruppen zusammenschließen, um sich im Kampfe auf sie zu stützen, der, mit legalen Protesten beginnend, schließlich hinaustreten würde auf den Weg der offenen Revolution. Diese Grundprinzipien wurden zur Begutachtung unterbreitet bei Zusammenkünften, zu denen diejenigen eingeladen wurden, die sich irgendwie hervorgetan hatten, meist Illegale. Das Programm des Wirkens unter dem Volke wurde in den Versammlungen einmütig gebilligt, jedoch mit einigen neuen und für die Zukunft sehr wichtigen Ergänzungen. Erstens beschloß man, die Tätigkeit unter dem Volke auf eine bestimmte Gegend zu konzentrieren, die ihren Traditionen nach revolutionär, und wo die Agrarfrage am meisten zugespitzt sei. Als solche wurde das untere Wolgagebiet genannt. Da auf dem revolutionären Banner nur schon bestehende Forderungen des Volkes geschrieben standen, so war es nicht mehr notwendig, sich über ganz Rußland zu zersplittern: es mußte genügen, eine Gegend bis zum Aufstand zu führen, damit die übrigen, durchdrungen von denselben Wünschen und Forderungen, sich einer Bewegung anschlössen, die das allgemeine Volksideal vorantrug. Zweitens wurde darauf hingewiesen, daß einem Aufstand der Erfolg nicht sicher sei, wenn nicht ein Teil der revolutionären Kräfte für den Kampf direkt gegen die Regierung verwandt würde, zur Vorbereitung eines »Schlages ins Zentrum«, der im Augenblick des Aufstandes in der Provinz den Staatsmechanismus in Verwirrung bringen und damit der Volksbewegung Zeit zur Stärkung und Ausbreitung gewinnen sollte. Damals wurde zum ersten Male von der Möglichkeit gesprochen, das »Winterpalais« mit Dynamit in die Luft zu sprengen und unter seinen Trümmern die ganze Zarenfamilie zu begraben. Außerdem wurde damals beschlossen, die Ehre und Würde[[würdig]] von Genossen mit der Waffe zu verteidigen und die Willkür allzudienstfertiger Regierungsagenten mit dem Dolche zu zügeln. Dieser Akt revolutionärer Gerichtsbarkeit erhielt den nicht ganz glücklichen Namen »Desorganisation der Regierung«, und der Erste, der für sein Strebertum und die rücksichtslose Quälerei der Verhafteten büßen sollte, war der Staatsanwalt {{Shelichowski}}. Er blieb jedoch am Leben, erhielt aber nicht die übliche Auszeichnung für den von ihm geführten Monsterprozeß, der mehreren Angeklagten das Leben kostete, da die mehr als dreijährige Untersuchungshaft Schwindsucht und Wahnsinn hervorgerufen und einige zum Selbstmord getrieben hatte. &&x &&am &&g1="Die_Gesellschaft_Land_und_Freiheit" &&fa Die Gesellschaft »Land und Freiheit« &&fe &&ax Die damals entstehende revolutionäre Organisation war nicht auf dem Föderativprinzip, sondern, wenn auch noch ziemlich locker, zentralistisch aufgebaut. An der Programmberatung nahmen etwa 30 bis 40 Personen teil, die Zahl derjenigen, die man in die Organisation aufnehmen konnte, schätzte man auf 120. In der Frage, auf welche Weise wir neue Mitglieder anwerben sollten, ergab sich leider ein Zwiespalt. Die einen, die meist in Gruppen gearbeitet hatten, die durch Bande engster Freundschaft und Sympathie zusammengehalten wurden, setzten sich dafür ein, daß nur tiefes gegenseitiges Vertrauen, nahe Bekanntschaft und gegenseitige Sympathie die Grundlagen der Organisation sein sollten; die anderen hingegen behaupteten, daß eine auf solchen Prinzipien aufgebaute Organisation wohl fest, jedoch zu klein sein und niemals solchen Umfang erreichen würde, wie wenn die bloße Tüchtigkeit, die anerkannte Nützlichkeit und die Ehrlichkeit eines Menschen zu seiner Aufnahme als genügend angesehen würden. Es entstanden zwei anfänglich fast gleich große Gruppen: die eine schwand dahin, die andere, der Verband: »Land und Freiheit«, blühte auf und breitete sich aus. Leider gehörte ich der ersteren Gruppe an. Der Verband »Land und Freiheit« wurde im Herbst 1876 organisiert; sein Hauptgründer und Leiter war der kluge und energische Mark Andrejewitsch Natanson, ehemals in der »Tschaikowski-Gruppe«, ein Agitator ersten Ranges. Der Name der Gesellschaft war, wie er mir damals schon erklärte, im Andenken an die gleichnamige Gesellschaft angenommen worden, die in den sechziger Jahren gewirkt hatte. Übrigens nannten wir uns damals nicht »Landfreiheitler« sondern »Volkstümler«. Das gab wahrscheinlich auch Veranlassung zur Behauptung, die Gesellschaft »Land und Freiheit« sei erst im Jahre 1878 entstanden, als ihr Organ gleichen Namens zu erscheinen begann. Dem Verband »Land und Freiheit« gehörten außer Natanson, seine Frau Olga, {{Oboleschew}}, Adrian Michailow {{[Adrian Michailow]}}, Alexander Michailow, {{Bogoljubow}}, {{Trostschansky}}, Plechanow {{[Plechanow]}}, Barannikow {{[Barannikow]}} und andere an; zur anderen Gruppe gehörten: Bogdanowitsch {{[Bogdanowitsch]}}, Pissarew {{[Pissarew]}}, Pimen Enkuwatow {{[Pimen Enkuwatow]}} (ein alter »Netschajew-Mann« {{[Netschajew]}}), Marie Leschern {{[Marie Leschern]}}, Weimar, {{Gribojedow}}, Subbotina {{[Subbotina]}}, Drago {{[Drago]}}, Kornilowa {{[Kornilowa]}} und ich. Das neue Programm verpflichtete uns, unsere Tätigkeit auf alle Schichten der Gesellschaft zu erstrecken. Es betonte die Notwendigkeit, in die Armee, in die Verwaltung, in die Semstwos {{[Semstwos]}} (Ständische Verwaltung auf dem Lande unter Ausschluß der Bauern), in die Vertretungen der freien Berufe einzudringen, alle diese Elemente in den Kampf gegen die Regierung hineinzuziehen, sie zu Protestkundgebungen gegen Regierungsmaßnahmen aufzurütteln. Diese Politik begann mit der verunglückten Demonstration vom 6. Dezember 1876 am Isaak-Dom und auf dem Kasaner Platz in Petersburg, und wurde nach einer Pause fortgesetzt durch die Demonstration beim Begräbnis von {{Podlewski}}, der im Untersuchungsgefängnis gestorben war. Dann folgten die Streiks in den Fabriken von Schau und in einer neuen Baumwollspinnerei, die Prozession der Arbeiter zum Anitschkow-Palast {{[Anitschkow]}}, um den Thronfolger zu bitten, sie vor der Ausbeutung durch die Fabrikanten zu schützen, die Petition der Petersburger Hochschulen um Verleihung von Korporationsrechten, der Plan der medizinisch-chirurgischen Akademiestudenten, dem Thronfolger eine Petition um Gewährung einer Staatsverfassung zu unterbreiten. Alle diese und ähnliche Maßnahmen sollten in der Öffentlichkeit einen steten Zustand von Erregung und Unzufriedenheit wachhalten und die Regierungsstellen in Unruhe versetzen. So sollte die Demonstration auf dem Kasaner Platz eine Antwort sein auf die unerhörte Behandlung der politischen Gefangenen durch den Gendarmerie-Chef, eine Herausforderung an die Regierung, sollte mitten in der allgemeinen Grabesstille die Gegner durch ihre Verwegenheit überraschen und die Anhänger ermutigen. Dieses Ziel erreichte sie in der Tat. Nur in einigen Jugendzirkeln Petersburgs zeigte sich Unzufriedenheit mit der Demonstration. Sie[[1]] meinten, die Organisatoren hätten das Publikum als Werkzeug für ihre Ziele benutzt. Aber das war unwahr, schon allein deswegen, weil alle Organisationsmitglieder in eigener Person an der Demonstration teilgenommen und nur aus zufälligen Gründen nicht dafür hatten büßen müssen. Fast hätte auch meine[[Besitz]] eigene politische Laufbahn mit dieser Demonstration ein jähes Ende gefunden: nach der Rede Plechanows hoben die Demonstranten den jungen Arbeiter Jakob Potapow {{[Potapow]}} hoch, und er entrollte die rote Fahne mit der Inschrift »Land und Freiheit«. Die Schutzleute gaben Pfeifensignale, und die Demonstranten eilten auseinander. Ich, meine[[Besitz]] Schwester und Jakob Potapow, den wir zu Mittag eingeladen hatten, gingen den Newski-Prospekt {{[Newski-Prospekt]}} entlang. Wir waren alle drei unerfahren, so daß wir an keine Gefahr für Potapow dachten, der für die Schutzleute leicht an seinem kurzen Pelz wiederzuerkennen war. In der Tat, an der Ecke der Sadowaja-Straße {{[Sadowaja]}} stürzten sich zwei Spitzel, die uns wahrscheinlich schon lange gefolgt waren, plötzlich auf Potapow und verhafteten ihn. Sie[[1]] waren so mit ihm beschäftigt, daß wir unbemerkt in einer Droschke entkommen konnten. &&x Der ursprüngliche Gedanke der Mitglieder von »Land und Freiheit«, die die Demonstration organisiert hatten, war, eine möglichst große Zahl von Fabrikarbeitern zu versammeln und auf dem Platz eine Rede zu halten über die armselige Lage und Rechtlosigkeit der Arbeiter in ihrem Kampf gegen die Unternehmer; danach sollte das Banner von »Land und Freiheit« emporgehoben werden als Losung der Zukunft. Aber am Tage zuvor war ein Feiertag gewesen, und das störte die Einberufung; die Arbeiter waren in ihren Häusern zerstreut, zur Demonstration war hauptsächlich studierende Jugend erschienen, Plechanow hielt seine Rede über das Schicksal Tschernyschewskis {{[Tschernyschewski]}} und über die politischen Verfolgungen aus dem Stegreif. Die Polizei und ihre damals treuesten Helfer, die Hauswarte, schlugen auf die Demonstranten ein und nahmen 35 von ihnen fest, die dann dem Gericht übergeben wurden. Solch ein Ende der Demonstration war für die Betroffenen und deren Freunde und Bekannte natürlich wenig tröstlich, denn die Knüppelei auf der Straße war roh, und das Gericht zeigte sich beispiellos hart; außerdem waren viele von den Angeklagten Leute, die der Sache ganz fern standen und der Demonstration nur als einem Schauspiel beigewohnt hatten. Wenn man überhaupt den Organisatoren irgendwelche Schuld geben will, so nur die, daß sie es jedem einzelnen überließen, selbst zu beurteilen, welche Folgen eine Demonstration in den Straßen der Hauptstadt haben könnte. Doch die Tatsache blieb bestehen: am 6. Dezember 1876 ward das neue Banner aufgepflanzt und die Organisation hatte ihre Tätigkeit begonnen. Nach der Demonstration blieb ein Teil der Mitgliedschaft von »Land und Freiheit« in Petersburg als dem Zentrum Rußlands, die übrigen begaben sich nach den Gouvernements Saratow und {{Astrachan}}. Unser Zirkel, genannt die Separatisten, wählte sich als Arbeitsgebiet das Gouvernement Samara. Dorthin fuhren 1877 drei Genossen, im Frühjahr ein Arbeiter, im Sommer meine[[Besitz]] Schwester Eugenie und ich. Alexander K Solowjow {{[Solowjow]}}, ein Freund Bogdanowitschs {{[Bogdanowitsch]}}, befand sich schon in Samara und schloß sich dort unserem Kreise an; ferner waren dort noch andere, teils ansässige, teils hergereiste Personen, die dem Kreis nahestanden. Zwei unserer Mitglieder fuhren dann nach Odessa {{[Odessa]}}, wo der eine durch tragischen Unfall starb, während der andere, Drago, sich von der revolutionären Tätigkeit zurückzog. Die übrigen blieben in Petersburg zurück, einige wurden »administrativ« oder durch Gerichtsbeschluß in die Verbannung geschickt; andere wiederum zeigten keinerlei Energie oder organisatorische Fähigkeit, und die Verbindung mit ihnen wurde immer schwächer, um schließlich ganz abzureißen. Da meine[[Besitz]] Schwester und ich niemand in Samara kannten, blieben wir in Petersburg bis August 1877, bis unsere Freunde dort Verbindungen angeknüpft hatten, die uns erlaubten, uns dort niederzulassen. Ich betätigte mich als Feldscherin. Ohne Empfehlung eines dortigen Landamtsarztes wäre das unmöglich gewesen, da man sich im »Semstwo« fürchtete, eine Feldscherin aus Petersburg anzustellen. Zu dieser Zeit rollte sich vor der Öffentlichkeit eine ganze Reihe politischer Prozesse ab: der Fall der Demonstranten auf dem Kasaner Platz, der Prozeß der Fünfzig, derjenige {{Saslawskis}}, der {{Golubjows}} und andere. Sie[[1]] erregten die allgemeine Aufmerksamkeit; der erste unter ihnen erregte sogar Unwillen in den liberalen Gesellschaftskreisen durch die Strenge der Strafen, die manchmal bei völligem Fehlen eines Beweises verhängt wurden, da es allgemein bekannt war, daß die Hauswarte auf der Straße einen jeden gepackt hatten, der ihnen gerade in die Quere kam. Der zweite Prozeß erweckte allgemeine Sympathie. Die Selbstaufopferung der Frauen, die ihre bevorzugte Stellung mit der schweren Arbeit in den Fabriken vertauscht hatten, die Reinheit ihrer Überzeugung, ihre Standhaftigkeit erregten Begeisterung; ihre sittliche Persönlichkeit prägte sich auf lange den Seelen vieler ein; manche sahen auf sie wie auf Heilige. Die Gerichtsreden der Sofja {{[Sofja]}} {{I.}} Bardina und des Arbeiters Peter Alexejew {{[Alexejew]}}, in einer Geheimdruckerei gedruckt, wurden unter den Intellektuellen und Arbeitern mit Begeisterung gelesen. Unsere Partei, bei ihren ersten Unternehmungen geschlagen, hatte dennoch moralische Autorität und den Strahlenglanz des Märtyrertums für ihre Überzeugung gewonnen. Wenn etwas nicht für uns sprach, so war es das, daß wir Idealisten waren; aber gerade das stellte uns über die Menge. Kurz: das Resultat der Prozesse war, daß sie das Streben immer neuer Menschen weckten, in die Fußtapfen der zur Zwangsarbeit Verurteilten zu treten, anstatt sie von dem gefährlichen Weg abzuwenden; so förderte der Untergang der einzelnen Sozialisten das Wachstum der Bewegung. Späterhin, beim »Prozeß der 193«, schien die Regierung bereit, einen Schritt zurückzuweichen: das Urteil der besonderen Session des Senates, des höchsten Reichsgerichts, war so, daß die große Mehrheit der Angeklagten dem Leben zurückgegeben wurde; leider war es unmöglich, die allzu früh und unschuldig in den Gefängnissen zugrunde gegangenen ins Leben zurückzurufen. Nach einiger Zeit sah die Regierung ein, daß derartige Verfahren nichts halfen, sie traf daher bald eine ganze Reihe von Maßnahmen, die die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens aufhoben; zuerst wurde das Publikum zu politischen Prozessen nicht mehr zugelassen, darauf der Abdruck von Prozeßberichten in den Zeitungen eingestellt, so daß nur noch die Anklageakte und das Gerichtsurteil erschienen; schließlich wurden nur noch ganz kurze, nichtssagende Notizen veröffentlicht: das und das Attentat sei begangen, soundsoviel Übeltäter seien ergriffen, an dem und dem Tag dem Gericht übergeben und am soundsovielten gehenkt worden; einige wurden auch ohne Ankündigung gehenkt. Endlich erging, um die Öffentlichkeit nicht an die Revolutionäre zu erinnern, der Befehl, die Verurteilten auch heimlich hinzurichten, nicht auf offenem Platz vor allem Volk, ihm zur Lehre, sondern hinter den Mauern der Gefängnisse. – Im Frühjahr 1877 wurde M A Natanson, der Führer der Organisation, verhaftet. Im Zusammenhang damit bestraften die Landfreiheitler den Arbeiter {{Finogenow}} für seinen Verrat mit dem Tode. Im Sommer desselben Jahres ließ der Stadthauptmann Petersburgs, Trepow {{[Trepow]}}, im Untersuchungsgefängnis Jemeljanow {{[Jemeljanow]}} körperlich züchtigen, der für die Beteiligung an der Kasanplatz-Demonstration zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt war. Alles sprach von Rache. Die Revolutionäre, die aus dem Süden nach Petersburg gekommen waren, trafen zu diesem Zweck vergeblich Vorbereitungen; die Rächerin aber erstand in Wera Sassulitsch {{[Sassulitsch]}}. Als der Schuß Wera Sassulitschs ertönte, war ich schon in den Steppen Samaras, konnte nur aus der Ferne ihrer Heldentat Beifall spenden. &&x Ich hatte, empfohlen an einen jungen Kreisarzt, in seinem Kreise eine Stelle als Feldscherin bekommen, und zwar in dem großen Dorfe Studenzy {{[Studenzy]}}, das von ehemalig leibeigenen Bauern der kaiserlichen Domänen bewohnt war. Zwei Landdistrikte unterstanden meiner ärztlichen Pflege; im Laufe eines Monats hatte ich alle zwölf darin gelegenen Dörfer zu besuchen. Zum ersten Male in meinem Leben trat ich hier dem Dorfleben von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Allein mit dem Volke, fern von Freunden, Bekannten, fern von gebildeten Menschen. Ich muß bekennen, ich fühlte mich einsam, schwach, energielos in diesem Bauernmeer. Dazu hatte ich keine Ahnung, wie dem einfachen Menschen gegenüberzutreten sei. Bis jetzt hatte ich noch niemals das armselige Bauerndasein in der Nähe gesehen, ich kannte die Bettelarmut des Volkes eher aus der Theorie, aus Büchern, Zeitschriften, statistischem Material. Um herauszukommen aus dem engen Gleis der Familieninteressen, der Küche, der Karten, der Jagd nach dem Profit, hatte ich die Wissenschaft ergriffen als ein Mittel, um das Volk zu erreichen. Damals hatte ich mich in Bücher vergraben, die mir geistige Entwicklung und eine ernstliche Vorbereitung für die Universität geben sollten; das Kennenlernen des Lebens in seiner realen Gestalt war zurückgetreten; dann kam die lange Reihe der Universitätsjahre, neue Eindrücke, neue Anschauungen, das Einstürzen des eben erst selbst aufgebauten liberalen Planes und sein Ersatz durch ein neues Ideal; und dann – die anderthalb Jahre in Rußland … Aber wo war in dieser ganzen Zeit das wirkliche Volk? Jetzt, mit 25 Jahren, stand ich vor ihm wie ein Kind, dem man ein ungeheuerliches, nie gesehenes Etwas in die Hand gedrückt hat. Ich trat die Erfüllung meiner Pflichten an. Achtzehn Tage im Monat war ich auf Reisen in Dörfern und Flecken und hatte Gelegenheit, das abgründige Leid und Elend des Volkes kennenzulernen. Ich stieg gewöhnlich in der sogenannten »Ortsunterkunft« ab. Sofort strömten Kranke, vom Dorfschulzen zusammengeklingelt, herbei. Im Nu füllten 30 bis 40 Patienten das Zimmer. Alte und Junge, viele Frauen, noch mehr Kinder jeden Alters, die das Zimmer mit Schreien und Wimmern erfüllten. Es war unmöglich, angesichts dieser Kranken gleichgültig zu bleiben. Schmutziges, ausgemergeltes Volk, die Krankheiten alle verschleppt, bei den Erwachsenen meist Rheumatismus, Kopfschmerzen oft seit 15 Jahren, fast bei allen Hautkrankheiten (nur in einzelnen Dörfern gab es Bäder, sonst wusch man sich in einem russischen Ofen); unheilbare Magen- und Darmkatarrhe, Bruströcheln, mehrere Schritte weit vernehmbar, Syphilis bei Leuten jeglichen Alters, Geschwüre und Eiterbeulen ohne Ende. Und all das in unglaublichem Schmutz von Wohnung und Kleidung, bei schlechter und karger Nahrung. Man faßte sich an den Kopf: ist das das Leben von Tieren oder Menschen? Oft vermischten sich meine[[Besitz]] Tränen mit den Mixturen und Tropfen, die ich für diese Unglücklichen bereitete. Ihr Leben erschien mir keineswegs besser als das der Millionen indischer Parias. Geduldig teilte ich bis zum Abend Pulver und Salben aus, die ich in Scherben von Küchengeschirr geben mußte, allerlei Medizin und Tinkturen, die ich in Krüglein und Gläschen goß. Wenn dann die Arbeit endlich zu Ende war, stürzte ich mich auf das Stroh, das für mich auf dem Boden als Nachtlager ausgestreut war, und Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Wo ist ein Ende dieser Not? Welch eine Heuchelei waren alle Arzneien angesichts dieser grauenvollen Zustände? Ist unter diesen Umständen auch nur der Gedanke an Protest möglich? Ist es nicht Ironie, diesem Volke, das von seiner physischen Not ganz zu Boden gedrückt ist, von Widerstand und Kampf zu sprechen? Befindet sich dieses Volk nicht schon im Stadium seiner völligen Entartung? Ist nicht die Verzweiflung allein imstande, seine endlose Geduld und Passivität zu durchbrechen? Drei Monate sah ich tagtäglich ein und dasselbe Bild. Diese drei Monate waren für mich eine schwere Prüfung. Die Eindrücke, die ich durch das Bekanntwerden mit der materiellen Seite des Volkslebens gewann, waren erschütternd; in seine Seele konnte ich keinen Einblick gewinnen; ich öffnete nie den Mund, um Propaganda zu machen. Dann bekamen wir eine telegraphische Warnung. Es war eine Genossin verhaftet worden, bei der man viele Briefe gefunden hatte, die auch mich belasteten. Man schickte Alexander Kwatkowski, um mich aus Studenzy zu holen. Eine Woche nach unserer Abreise erschienen im Dorfe die Gendarmen. &&x &&am &&g1="Auf_dem_Lande" &&fa Auf dem Lande &&fe &&ax Als Kwatkowski und ich nach Samara kamen, fanden wir dort Pissarew, Leschern und Bogdanowitsch, die bereits ihre Stellen aufgegeben hatten und zur Abreise bereit waren. Gleichzeitig mit uns reiste auch Solowjow, der schon vor einiger Zeit die Dorfschmiede, wo er mit zwei Kameraden arbeitete, aufgegeben hatte. Wir beschlossen, uns im Gouvernement Woronesch {{[Woronesch]}} niederzulassen. Bald danach wurde das Urteil im »Prozeß der 193« gefällt, gegen alle Erwartungen wurde eine Reihe von Genossen freigesprochen. Wir durften die Gelegenheit nicht versäumen, unter ihnen neue Mitarbeiter für das Land zu gewinnen, und deshalb reisten Bogdanowitsch und ich nach Petersburg. In Petersburg herrschte eine ungewöhnlich gehobene Stimmung: die Jugend triumphierte, alte und neue Freunde begrüßten die Freigelassenen, als wären sie aus dem Jenseits wiedergekommen. Sie[[1]] aber, wenn auch körperlich zerschlagen und krank von den soeben durchlebten Leiden, schmiedeten mit nur der Jugend eigener, lang unterdrückter Glut neue Pläne zur Verwirklichung ihrer Ideen. Ihre Wohnungen waren von früh bis spät von Menschen überfüllt; es war ein regelrechter revolutionärer Klub, wo 90 bis 100 Menschen täglich aus- und eingingen. Bekannte brachten Unbekannte mit, die denen die Hand zu drücken wünschten, die man lebendig begraben geglaubt hatte. Aus dieser Periode datiert meine[[Besitz]] Bekanntschaft mit vielen Revolutionären der siebziger Jahre; unter anderem mit Sofja Lwowna Perowskaja {{[Sofja Lwowna Perowskaja]}}. Ich war ihr warm empfohlen worden, und sie bezauberte mich durch ihr schlichtes, weiches Wesen, durch ihren einfachen Geschmack. Unsere guten Beziehungen währten bis zu ihrem Tode. Als ihr letztes Vermächtnis durchdrang die Gefängnismauern: »Behütet {{Naum}} (Deckname von Suchanow {{[Suchanow]}}) und die kleine Wera!« Die wieder in Freiheit befindlichen Tschaikowski-Bündler beschlossen, mit ihren alten Genossen ihre Organisation wieder aufzubauen. Gleichzeitig schlugen sie einige Leute, mit denen sie erst im Gefängnis bekannt geworden waren, zur Aufnahme vor. So entstand eine Gruppe von 40 Menschen. Ihr gehörten an: Bogdanowitsch und Pissarew als Mitglieder des Tschaikowski-Bundes, Leschern und ich, meine[[Besitz]] Schwester Eugenie und Solowjow als neue. Außerdem der soeben aus dem Auslande zurückgekehrte Klemenz, S L Perowskaja, Lebedewa {{[Lebedewa]}}, {{Subok-Mokijewski}}, Sablin, Morosow, {{Kuwschinskaja}}, Kornilowa, das Ehepaar {{Serdjukow}} und andere. In der Generalversammlung wurde das Volkstümler-Programm angenommen und die Leitung gewählt, die in Petersburg bleiben und die Angelegenheiten der Gruppe verwalten sollte. Dann fuhren die meisten Mitglieder weg, wir, um uns auf dem Lande niederzulassen, andere, um ihre Familien- und Geldangelegenheiten zu ordnen oder ihre erschütterte Gesundheit wiederherzustellen. Der Zar bestätigte das Urteil des Gerichtshofes nicht, viele wurden wieder verhaftet und administrativ verschickt. Manche flüchteten ins Ausland, unser Bureau ging ein, jene vereinzelten Personen, die, nach Erledigung ihrer Angelegenheiten oder aus der Verbannung entflohen, wieder nach Petersburg kamen, traten der Organisation »Land und Freiheit« bei. Währenddessen wirkte man stark auf mich ein, in Petersburg zu bleiben, da man mich am geeignetsten für die Arbeit unter den Intellektuellen hielt. Aber da ich an meinen[[Besitz]] Überzeugungen hartnäckig festzuhalten pflegte, von einer Ansicht nur dann abließ, wenn eigene Erfahrung mich eines besseren belehrt hatte, blieb ich bei dem Entschluß, mein Leben unter dem Volk fortzusetzen. Wir wollten uns den »Landfreiheitlern« in Saratow anschließen, und im März 1878 siedelten wir dahin über. Die Verschmelzung, auf die ich schon seit längerer Zeit hinarbeitete, scheiterte an der schroffen Ablehnung Pissarews. Damals war in Saratow schon etwas getan worden: etwa zwölf Personen lebten in den umliegenden Dörfern, wo sie sich als Lehrer, Schreiber, Schuhmacher, landwirtschaftliche Arbeiter, Hausierer beschäftigten, außerdem wurde eine lebhafte Propaganda unter den städtischen Arbeitern getrieben. Irgendwelche Verbindungen in der sogenannten Gesellschaft hatten wir in Saratow nicht, und doch brauchten wir sie notwendig. Ein Notar {{Praotzew}}, der die ganzen Verhältnisse in Saratow und den umliegenden Kreisen ausgezeichnet kannte und dort überall Beziehungen hatte, war für uns ein wahrer Schatz. Dieser grundehrliche, etwas verwöhnte Mensch hatte sich die ganze Begeisterungsfähigkeit seiner Jugend bewahrt. Als Student der Moskauer Universität war er in den sechziger Jahren relegiert und in den Norden verschickt worden. Er schloß uns in sein Herz und besorgte bei einem Notar in Wolsk {{[Wolsk]}} eine Stelle für Bogdanowitsch, der es verstand, bald Gemeindeschreiber zu werden. Da er dem Adelsmarschall sehr gefiel, gelang es ihm, auch Pissarew und Solowjow ähnliche Stellen zu vermitteln. Sie[[1]] erlangten alle drei eine solche Autorität, daß sie bald alle freien Stellen im {{Wolsker}} Kreise mit ihren Genossen hätten besetzen können. Doch nach zehn Monaten wurden die Behörden mißtrauisch, und um einer Verhaftung zu entgehen, mußten die beiden abreisen. Fast um dieselbe Zeit bekam auch ich eine Stelle im Petrowsker {{[Petrowsker]}} Kreis. Meine[[Besitz]] Schwester Eugenie, die vor kurzem ihr Examen als Feldscherin vor dem Medizinalamt in Saratow bestanden hatte, kam mit mir. Unsere Ankunft erregte allgemeines Aufsehen. Die Petrowsker Gesellschaft konnte es nicht fassen, weshalb wir, bei unserer Abstammung, mit unserer Bildung, uns auf dem Lande begraben wollten. Warum, wozu? Zum Glück konnte man uns unserem Aussehen nach keineswegs für sogenannte Nihilistinnen halten. Dank diesem Umstand und noch mehr dank der Freundschaft mit dem Kreisvorsteher und seiner Frau öffneten sich uns alle Türen. Nur der Vorsteher des Adels, {{Ustinow}}, der angeblich wegen eines Mordes sechs Jahre im Kriminalgefängnis gesessen hatte und später begnadigt worden war, ebenso das Kreismitglied {{Delivronne}}, das fürs Volk alle Kenntnisse, außer einigen Gebeten und der Liste des Herrscherhauses, für schädlich hielt, erklärten damals sofort, da sei etwas nicht in Ordnung, man müsse ein offenes Auge auf uns haben. &&x Unter solchen Vorzeichen begannen wir unsere Arbeit. Den Bauern war die Ankunft der Ärztin, wie sie mich nannten, ein Wunder. Sie[[1]] gingen zum Popen mit der Frage, ob ich für alle angestellt sei oder nur für die Weiber. Nachdem sie erfahren hatten, daß ich für alle ohne Unterschied des Geschlechts angestellt sei, belagerten sie mich förmlich. Das arme Volk strömte zu mir wie zu einem wundertätigen Heiligenbild, zu Hunderten und Hunderten; von früh bis spät war vor meinem Häuschen ein Troß von Fuhrwerken. Mein Ruf verbreitete sich weit über die Grenzen meiner drei Distrikte. Diese ungeheure Arbeit hätte ich gewiß nicht leisten können, hätte meine[[Besitz]] Schwester Eugenie mich nicht unterstützt. Bald nach unserer Ankunft eröffneten wir auch eine Schule. Eugenie sagte den Bauern, sie wolle die Kinder unentgeltlich unterrichten, auch für Fibeln, Federn, Papier usw. sorgen. Etwa 25 Knaben und Mädchen meldeten sich sofort. Man muß wissen, daß es in allen drei umliegenden Kirchspielen keine einzige Schule gab. Die Schüler kamen manchmal aus 20 Kilometer entfernten Dörfern. Auch Erwachsene kamen, manche Bauern baten um Unterricht im Rechnen, dessen sie bei Verwaltungsabrechnungen dringend bedurften. Bald hatte Eugenie den schmeichelhaften Namen »unsere goldene Lehrerin« erworben. Wenn wir unsere Arbeit in der Apotheke und Schule beendet hatten, nahmen wir ein Buch und gingen ins Dorf zu irgendeinem Bauern. Das bedeutete für das betreffende Haus einen Festtag. Der Hauswirt holte Freunde und Verwandte herbei. Wir lasen aus Nekrassow {{[Nekrassow]}}, {{Lermontow}}, {{Schtschedrin}} usw. bis in die Nacht. Immer wieder wollten sie uns über das Bauernleben, über die Bodenfrage, die Beziehung zum Gutsbesitzer und über die Behörden sprechen hören. Auch baten sie uns, ihre Gemeindeversammlungen zu besuchen, um die Betrügereien und Kniffe des Schreibers und des Schulzen zu entlarven. Wenn es endlich schon Zeit war, nach Hause zu gehen, mußten wir jedesmal vorher feierlich versprechen, ihre Kinder ebenso schriftkundig zu machen, wie wir es waren. Die Anhänglichkeit dieser einfachen Seelen hatte einen derartig bezaubernden Reiz, daß ich noch heute voll Freude an diese Zeit zurückdenke; jede Minute fühlten wir, daß wir notwendig waren. Wir bemühten uns, das allereinfachste Leben zu führen. Die leiseste Spur von Luxus war aus unserer Häuslichkeit verbannt. Wir aßen kein weißes Brot, wochenlang sahen wir kein Fleisch; jeder überflüssige Bissen wäre uns inmitten dieser Armut und dieses Elends im Halse steckengeblieben. Von meinem monatlichen Gehalt, 25 Rubel, verausgabten wir 10 bis 12 Rubel einschließlich Bezahlung der Hausbesorgerin. Überflüssig zu sagen, daß wir alle Geschenke, die im Dorf so üblich sind, wie Brot und andere Lebensmittel, entschieden ablehnten. Es ist peinlich auszusprechen, daß diese Lebensweise, die natürlich und normal hätte scheinen sollen, im Dorfe wie ein krasser Mißton wirkte; durchbrach sie doch jenes System der Ausplünderung und des gewissenlosen Egoismus, das, mit Millionensummen am Throne beginnend, bis hinunter ins Dorf reichte, wo es den Bauern die letzten Pfennige abpreßte. Die Räuber im Dorf waren klein, unbedeutend, armselig; aber auch die Jahresrechnung des Bauern umfaßte nur einige Rubel, höchstens wenige Dutzend Rubel; seine Zahlungen und Steuern (Kopf-, Boden-, Landverwaltungs- und Dorfsteuern) waren im einzelnen Kopekenbeträge, überstiegen aber weit seine Zahlungskraft. Unter solchen Umständen war es natürlich unmöglich, ihn um viel zu betrügen; dafür stellte das, was aus ihm herausgequetscht wurde, den letzten Groschen[[1]] des Armen dar, – schwer ist's, sich von den sauer erarbeiteten Kopeken zu trennen. Der Kampf um diese Kopeken gegen die Raffgier der Stärkeren machte das ganze Leben des Dorfes aus. Unser Erscheinen bedrohte den Appetit der kleinen Dorfräuber. Am Lager eines Kranken war es dem Popen z. B. unmöglich, in meiner Gegenwart mit dem Kranken um den Preis seines geistlichen Beistandes zu feilschen. Auf dem Amtsgericht zählte wohl der Schreiber in Gedanken die Verluste an Bestechungen nach, die unterblieben, wenn wir zufällig da waren. Dazu kam noch die Gefahr, daß wir den von ihm Geschädigten eine Klageschrift verfassen und durch unsere Verbindungen in der Stadt die Sache bis zu den obersten Behörden bringen konnten. Die Dorfspinnen spannten uns ihre Netze; das Mißtrauen zwischen den Behörden und dem Volke einerseits, der Gesellschaft und den Intellektuellen andererseits lieferte unsern Gegnern die fertige Waffe zu leichtem Sieg. &&x Der Kampf, der gegen uns einsetzte, war so charakteristisch, daß es unmöglich ist, ihn zu übergehen. Wir wohnten, im Gegensatz zu den übrigen Genossen, legal im Dorfe, legal mit unseren richtigen Pässen. Ich befürchtete nichts von der Samaraer {{[Samaraer]}} Geschichte, ich baute auf die Unzulänglichkeit der Polizei. Außer der befreundeten Vorsteherfamilie wußte niemand, daß eine unserer Schwestern schon nach Sibirien verbannt war. Wir hatten aber noch keine Zeit, uns ordentlich einzuleben, als wir schon von den Bauern erfuhren, daß der Pope unseres Dorfes das Gerücht verbreite, wir seien ohne Papiere, hätten gar nicht studiert, kein Diplom und seien ebensowenig medizinisch ausgebildet wie er. Wenn uns die Bauern nun baten, bei ihren Neugeborenen Pate zu stehen, so lehnte der Pope es ab, zu taufen, da er nicht wisse, wer wir seien, woher wir kämen, ob wir verheiratet seien usw.. Derselbe Gottesdiener schickte einen Bericht an die Behörden: die Seelenverfassung seiner Gemeinde habe sich seit unserer Ankunft verändert, die Kirche werde wenig besucht, die Opferbereitschaft habe abgenommen, das Volk sei frech und übermütig geworden. Als das keine Wirkung hatte, begann man unsere Schule zu beschnüffeln und zu bespitzeln; bald war es der Gutsverwalter, bald der Schreiber, dann wieder der Pope, die die Kinder aushorchten. »Immer wieder fragen sie uns, ob du uns auch Gebete lehrst,« erzählten sie meiner Schwester. Obgleich in der Schule gebetet wurde, gingen Denunziationen nach Saratow, Eugenie präge den Schülern ein, es gäbe keinen Gott, und der Zar sei unnötig. Dazu verbreitete sich plötzlich im Dorfe das Gerücht, wir versteckten Flüchtlinge bei uns. Seitdem verging kein Tag, an dem der Kreispolizist nicht unter irgendeinem Vorwand bei uns erschienen wäre, um zu schnüffeln. Im Januar 1879 sollten in unserem Kreis die Amtspersonen neu gewählt werden. Die Bauern wählten einen neuen Ältesten und kürzten dem Schreiber das Gehalt um 100 Rubel. Das rief einen Sturm hervor. Die Wahlen wurden für ungültig erklärt und neue anberaumt, zu denen der Adelsmarschall persönlich erschien. Viele Wähler waren von den Neuwahlen nicht benachrichtigt worden und infolgedessen gar nicht erschienen; Bauern des benachbarten Dorfes, die ihres frischen, unabhängigen Sinnes wegen bekannt waren, wurden durch irgendwelchen Trick von der Beteiligung ferngehalten, in der Neuwahl wurde der frühere bestechliche Älteste wieder gewählt, dem Schreiber wurde das alte Gehalt voll zuerkannt, und hiermit war die gesetzliche Ordnung wieder hergestellt. Bald darauf brach ein neuer Konflikt zwischen den Bauern unseres Dorfes Wjasmino {{[Wjasmino]}} und zwei benachbarten Dörfern einerseits und dem Gutsbesitzer Graf {{Nesselrode}} andererseits wegen der Pacht des Landes aus. Der Widerstand der Bauern {{Wiasminos}}, die in der gegebenen Sache trotz aller Bemühungen der Gegenseite unbeugsam geblieben waren, wurde uns in die Schuhe geschoben. Der Pope, der von der Freigebigkeit des Gutsbesitzers Nutzen zog, schrieb ihm, daß am Widerstand der Bauern die Feldscherinnen die ganze Schuld trügen. Bald kam der Kreispolizist ins Dorf. Er führte eine Untersuchung über unsere Unterhaltungen und unsere Schule durch und schloß dann die Schule, da sie ohne Genehmigung der Schulbehörde bestanden hatte. Es ist schwer zu beschreiben, wie sehr die Bauern über diesen Schlag außer sich waren. Noch vor kurzem hatte man ihnen zugeredet, eine Amtsschule zu gründen. Sie[[1]] sollte viel Geld kosten, und die Bauern verzichteten darauf. Jetzt nahm man ihnen die Schule, die sie umsonst hatten. Man wollte, sagten die Bauern, sie mit Gewalt zwingen, schwere Lasten für eine amtliche Schule zu übernehmen. Doch damit nicht genug. Kurze Zeit darauf wurden infolge einer Denunziation des Schreibers zwei Bauern verhaftet und nach der Stadt abgeführt; in der Anklage hieß es, die Auffassungen, die sie im Gespräch mit dem Schreiber geäußert hätten, seien »umstürzlerisch«. Bei dem Verhör bemühte sich der Kreispolizist auf alle mögliche Weise, sie zu der Aussage zu verleiten, wir seien diejenigen, die ihnen diese Gedanken beigebracht. Seit jener Zeit ließen uns die Polizisten keinen Moment mehr in Ruhe, – dieselben Polizisten, deren Kindern ich das Leben erhalten hatte, und die ich von manchem Gebrechen geheilt hatte. Sie[[1]] beklagten sich, daß man sie zwingen wolle, unter unseren Fenstern zu horchen, uns nachzuschleichen, unsere Gespräche mit den Bauern zu belauschen. Die Bauern bekamen Angst, uns am Tage zu besuchen; sie kamen heimlich abends. Der Älteste, dessen Frau ich behandelte, gestand mir voll naivem Kummer: »Was kann ich tun? Beständig droht man mir: paß auf, Ältester, auf die Feldscherinnen, du bist für alles verantwortlich!« Ein Gutsbesitzer, der durch den trockenen Ton meiner Sprache gekränkt war, schämte sich nicht, nachzuforschen, ob bei uns in der Gemeinde Ruhe herrsche, und fügte als Kommentar zu der verwunderten Miene des Schreibers hinzu: »Ja, die beiden sind imstande, einen ganzen Kreis aufzuwühlen.« &&x &&am &&g1="Wendung" &&fa Wendung &&fe &&ax Während unsere Situation sich immer mehr zuspitzte, kam Alexander Solowjow mit der Absicht, nach Petersburg zu reisen und dort den Zaren zu töten; vorher wollte er sich mit uns beraten. Er legte uns seine Ansichten über unsere Arbeit im Volke dar, die er unter den gegebenen Verhältnissen als bloße Selbstbefriedigung verurteilte, wo doch der Kampf für die Interessen der Masse auf legaler Grundlage in den Augen aller Vertreter des Privateigentums, aller Beamten, als Ungesetzlichkeit und Empörung erscheine. Da wir für diesen Kampf nur mit dem Grundsatze des Volkswohls und mit dem Gefühl der Gerechtigkeit ausgerüstet seien, hätten wir keine Aussicht auf Erfolg, denn die Gegner hätten Reichtum und Macht auf ihrer Seite. In Anbetracht dessen beschlossen wir auf unserer letzten Versammlung in Saratow, zur Verteidigung der Gerechtigkeit Feuer und Schwert aufs Dorf hinauszutragen, Terror gegen Agrarier und Polizei, Gewalt gegen Gewalt anzuwenden; dieser Terror schien uns notwendig, da das Volk durch die ökonomische Not zu niedergedrückt, durch die fortgesetzte Willkür zu erniedrigt war, um selbst diese Mittel anwenden zu können: aber zu einem solchen Terror bedurfte es neuer revolutionärer Kräfte, deren Zufluß aufs flache Land versiegt war, da die Reaktion und die Verfolgungen bei den Intellektuellen fast alle Energie und jeden Glauben an die Möglichkeit nützlicher Anwendung ihrer Kräfte im Dorfe vernichtet hatten; und auch die Jugend sah vor sich nicht die geringsten Ergebnisse der Arbeit ihrer Vorgänger unter dem Volk. Bei einem bestimmten Stärkegrad der Reaktion erstarben die besten Impulse. Wir sahen deutlich, daß unsere bisherige Arbeit vergeblich war. Die revolutionäre Partei hatte mit unseren Versuchen wieder eine Niederlage erlitten. Nicht wegen der Unerfahrenheit ihrer Mitglieder oder wegen der Weltfremdheit ihres Programms, auch nicht infolge übertriebener Hoffnung auf die Kraft und die Bereitschaft der Massen. Nein und abermals nein: wir mußten vom Schauplatz abtreten in dem Bewußtsein, daß unser Programm zwar lebendig sei und seine Forderungen im Volke verwurzelt, der eigentliche Grund des Mißerfolges aber die politische Unfreiheit sei. Rußland durchlebte gerade damals eine Periode, in der jede öffentliche Initiative verschwunden war und die Reaktion nur noch wachsen konnte. »Der Tod des Kaisers« sagte Solowjow, »kann eine Wendung im öffentlichen Leben herbeiführen.« Die Luft werde gereinigt, das Mißtrauen gegen die Intelligenz verschwinde, und der Weg öffne sich zu breiterer, fruchtbarerer Arbeit im Volke. Eine Menge ehrlicher junger Kräfte werde zur Arbeit auf dem flachen Lande herbeiströmen, und, um den Geist des Dorfes abzuändern und wirklich das Leben des ganzen russischen Bauerntums zu beeinflussen, bedürfe es eben einer Masse von Kräften, nicht aber nur der Anstrengung von einzelnen, wie wir es wären. Diese Meinung Solowjows war das Echo der allgemeinen Stimmung. Wenn der begeisterungsfähige Teil der Gesellschaft kein Betätigungsfeld findet, wo er seine frische Kraft, seinen Enthusiasmus zum Wohle des Volkes betätigen kann, dann wird die Lage unerträglich, und aller Zorn entlädt sich auf den Träger, Inhaber und Repräsentanten dieser von der Öffentlichkeit isolierten Staatsmacht, auf den Monarchen, der sich selbst als verantwortlich für das Leben, das Wohlergehen, das Glück der Nation erklärt und seinen Verstand, seine Kräfte höher stellt als Verstand und Kräfte der Millionen. Haben alle Mittel der Überzeugung sich als fruchtlos erwiesen, dann bleibt nur die nackte Gewalt: Dolch, Revolver und Dynamit. Solowjow entschied sich für den Revolver. Unterdessen waren zu demselben Schluß auch die in den Städten gebliebenen Parteimitglieder gekommen. Vom Geschworenengericht freigesprochen, war Wera Sassulitsch mit Mühe der Wiederverhaftung entgangen; und während ganz Rußland den Freispruch bejubelte, machten die Mitglieder der Zarenfamilie Krankenbesuche bei dem Stadtkommandanten Trepow, auf den sie geschossen hatte. Als im »Prozeß der 193« der Senat eine Milderung der Strafe für angebracht hielt, verschärfte sie der Zar; jeden Versuch, die Willkür seiner Diener einzudämmen, beantwortete er mit einer Steigerung der Reaktion und der Repressalien; die Erklärung des Kriegszustandes erfolgte, nachdem einige Würdenträger von Revolutionären umgebracht worden waren. So kam es, daß es einem seltsam erschien, die Diener zu töten, die nur den Willen ihres Herrn vollzogen, und den Herrn unangetastet zu lassen; die politischen Attentate führten schicksalsmäßig zur Zarentötung, und der Gedanke daran kam Goldenberg und Kobyljanski {{[Kobyljanski]}} fast zur selben Zeit, wie er sich Solowjows bemächtigte. Und dieser Gedanke ergriff ihn mit voller Gewalt. Wären wir alle dagegen aufgetreten, er hätte ihn dennoch verwirklicht. Er war vom Erfolg fest überzeugt. Als ich einwandte, ein Mißlingen könnte eine noch schwerere Reaktion auslösen, suchte er so gläubig und begeistert mich zu überzeugen, ein Mißerfolg sei undenkbar, er würde ihn nicht überleben, alles spreche für den Erfolg seines Vorhabens, daß mir nur übrig blieb, ihm zu wünschen, seine Hoffnungen möchten sich erfüllen. So schieden wir von diesem Menschen, der in sich die Tapferkeit des Helden, die Entsagung des Asketen und die Güte des Kindes vereinigte. Von nun an warteten wir voll Unruhe auf Nachricht aus Petersburg. Unterdessen verschlimmerte sich unsere Lage im Dorfe mehr und mehr. Ich beschloß, meine[[Besitz]] Stelle aufzugeben. Doch man wollte mich keineswegs entlassen. Auf meine[[Besitz]] Kündigung schrieb mir der Vorsitzende des Semstwo in den schmeichelhaftesten Ausdrücken, bat mich, die Stelle nicht aufzugeben und meine[[Besitz]] nützliche Tätigkeit fortzusetzen, und bot mir einen anderen Bezirk an. Wollte ich nicht dünkelhaft erscheinen, so mußte ich noch eine Zeitlang bleiben, bis ein Vorwand zur Abreise gefunden war. &&x Als am 2. April Solowjows mißlungener Schuß fiel, war mein erster Gedanke: fortsetzen! Anstatt die Reaktion gebrochen zu haben, hatten wir ihr Gelegenheit zu noch wilderem Wüten gegeben, darum hieß es, die Tat vollenden. Inzwischen mußten unsere Genossen im {{Wolsker}} Kreise abreisen. Dann kam die Nachricht aus Petersburg, Solowjows kürzlicher Aufenthalt bei uns sei aufgedeckt worden, eine besondere Untersuchungskommission sei abgesandt. Unsere Freunde drängten nun zur Abreise. Zuletzt überbrachte uns ein Bote die Mitteilung, die Kutscher, die Solowjow zu uns gefahren hatten, seien ermittelt worden. Nun hieß es eilen! Ich überredete die Schwester, ohne mich abzureisen, und bat das Semstwo um Entlassung, Erkrankung meiner Mutter rufe mich nach Petersburg ab. Ich drang auf die Herausgabe meiner Dokumente, aber man verweigerte sie mir und gab mir nur zeitweiligen Urlaub. Ich mußte mich damit zufrieden geben, damit meine[[Besitz]] Abreise nicht einer Flucht glich. Am selben Tage noch kam der Feldscher zur Übernahme der Bücher, Instrumente, Arzneien usw.. Am nächsten Morgen, nachdem ich mich von ganz Wjasmino verabschiedet hatte, war ich auf dem Wege nach Saratow. Ein unbegreiflicher Zufall rettete mich auch diesmal: schon am Tage darauf wollte man mich verhaften. So unglücklich endete unser hoffnungsvoll begonnener Aufenthalt. Doch nahmen wir die Überzeugung mit, daß das Volk uns verstanden habe und in uns Freunde sehe. Als die Gendarmen und Polizisten in Wjasmino erschienen, ging die Rede bei den Bauern: »Und das alles, weil sie für uns eingetreten sind.« Als der Dorfschreiber später das Gerücht verbreitete, wir seien verhaftet und Eugenie gehenkt, begaben sich die Bauern nachts zu unserem Freunde, dem Kreisvorsteher, um zu erfahren, ob das wahr sei. Beruhigt und froh kehrten sie heim. Einige Monate später traf ich ein junges Mädchen aus dem Dorfe, es warf sich mir voll Freude an den Hals und rief: »Sie[[1]] haben dort nicht umsonst gelebt.« Um Bogdanowitsch und Pissarew, die angeblich verhaftet waren, zu befreien, wollten die Dorfleute 5000 Rubel Kaution hinterlegen. Als unser Kreis zum letzten Male in Saratow versammelt war, erklärte ich meinen[[Besitz]] Austritt und den Entschluß, in die Gesellschaft »Land und Freiheit« (»Semlja i Wolja«) {{[»Semlja i Wolja«]}} einzutreten; denn ich sähe keinen Sinn im selbständigen Weiterbestehen einer kleinen Gruppe. In jener Gesellschaft würde ich die unterstützen, die sich für die Fortsetzung der Attentate auf den Zaren einsetzten. Übrigens wurde der Kampf mit der Regierung auch den anderen zur Losung. Darauf reisten Pissarew und Leschern nach dem Norden, Bogdanowitsch, Eugenie und ich blieben einstweilen in Tambow {{[Tambow]}}, wo damals viele Mitglieder von »Land und Freiheit« waren. Bald darauf bat mich ein Brief von der Bardina um Hilfe zur Flucht aus Sibirien. Diese Aufgabe übernahm Bogdanowitsch, er verschwand für ein ganzes Jahr aus unserem Gesichtskreis. Unterdes kam die Gesellschaft »Land und Freiheit« meinen[[Besitz]] eigenen Wünschen zuvor und machte mir erneut durch Michael Popow {{[Popow]}} den Vorschlag, Mitglied zu werden. Ich willigte ein und reiste dann mit noch einigen Mitgliedern nach Woronesch, wo zu jener Zeit die Organisation ihren Kongreß abhalten sollte. &&x &&am &&g1="Die_allgemeine_Lage" &&fa Die allgemeine Lage &&fe &&ax Kennzeichnend für die allgemeine Lage der revolutionären Partei in der Zeit von Ende 1876 bis zum Kongreß in Woronesch im Sommer 1879 war, daß in der Partei sich keinerlei Streben zeigte, alle Gesinnungsgenossen zu einer allrussischen Organisation zu vereinigen, so daß bei völliger Übereinstimmung in Programm, Zielen und Mitteln sie aus einigen voneinander unabhängigen Gruppen bestand, die miteinander nur durch persönliche Bekanntschaft einzelner Mitglieder verbunden waren. Im Sommer 1879 war die Gesellschaft »Land und Freiheit« die einzige organisierte revolutionäre Gruppe, die ihr eigenes Blatt und eine hohe Mitgliederzahl hatte. An ihrer Spitze stand eine Zentrale mit dem Sitz in Petersburg; diese Zentrale leitete die Druckerei, besorgte die Herausgabe des Blattes, verwaltete die Geldmittel, unterhielt die Verbindung mit den Provinzen und dirigierte die laufenden Arbeiten. Sie[[1]] hatte für den Zustrom neuer Kräfte und die Erweiterung der Verbindungen sowie für die Entsendung von Ersatzleuten aufs Land zu sorgen. Provinzmitgliedschaften gab es in den Gouvernements Saratow, Tambow, Woronesch und im Gebiet der {{Donkosaken}}. Man bildete dort sogenannte »Gemeinden«, die in örtlichen Angelegenheiten autonom waren. Diese Gemeinden warben neue Mitglieder unter der örtlichen Bevölkerung, unter den Arbeitern und unter der Jugend; sie nahmen Personen auf, die neu in ihrer Provinz eintrafen, und bildeten, soweit örtliche Dinge in Frage kamen, mit ihnen ein gleichberechtigtes Ganzes, ohne sie jedoch zu Mitgliedern der Gesellschaft »Land und Freiheit« zu machen oder in die inneren Angelegenheiten der Organisation einzuweihen. Diese lokalen Organisationen waren mit dem Zentrum in Petersburg nur durch ein paar Mitglieder, die zur Geheimhaltung der Verbindung verpflichtet waren, verknüpft. Hauptaufgabe der Provinzgruppen war, den Bauernaufstand vorzubereiten. Demzufolge blieb der kleinere Teil der Mitgliedschaft in den Städten zurück zur Propaganda unter den Arbeitern, Beschaffung von Geldmitteln, Anknüpfung von nützlichen Bekanntschaften. Die Mehrzahl der Mitglieder war in den Dörfern und Ortschaften zerstreut und versammelte sich in der Gouvernementsstadt nur alle zwei, drei Monate zum Austausch ihrer Erfahrungen. Die gemeinsamen Sorgen und Interessen verbanden sie immer enger und fester, während die Bande zwischen den Gemeinden und dem Petersburger Zentrum sich infolge der großen Entfernungen lockerten. Die Petersburger ihrerseits konzentrierten ihre ganze Tatkraft auf den Kampf gegen die Gewaltakte der Regierungsbeamten; alle Geldmittel und Kräfte wurden für terroristische Unternehmungen und Befreiungsversuche verwandt; der Zustrom von Geld und neuen Kräften für die Provinzorganisationen versiegte immer mehr, so daß sie schließlich verkümmerten. Nicht genug damit; auch eine moralische Entfremdung setzte ein. In Petersburg ging ein Kampf vor sich, der ständige Anspannung aller Kräfte forderte, aber auch eine nicht dagewesene agitatorische Wirkung hatte. Berauscht von Erfolgen, erbittert durch Mißerfolge sah man verwundert und geringschätzig auf die Saratower und Tambower Dörfer herab, wo keine Zeichen aktiven Kampfes, keinerlei Resultate den Aufenthalt Dutzender von Genossen verrieten; das empörte die Petersburger aufs tiefste. Jedes Mitglied, das unter den Bauern blieb, schien ihnen dem hitzigen Kampfe entzogen, dem sie mit Leib und Seele ergeben waren. Die »Volkstümler« auf dem Lande dagegen glaubten, daß die städtischen »Landfreiheitler« Feuerwerk machten, dessen Glanz die Jugend ablenke von wirklicher Arbeit und vom Volke, das ihrer Kräfte so bedürfe. Die Tötung von Generälen und Gendarmeriechefs war in ihren Augen eine weniger produktive und notwendige Arbeit als der Agrarterror auf dem Lande. &&x &&am &&g1="Der_Konflikt" &&fa Der Konflikt &&fe &&ax Aber nicht nur zwischen Provinz und Zentrum, auch in Petersburg, von wo aus die Politik der Partei geleitet wurde, herrschte keine Einmütigkeit. Auch hier kam es zu scharfen Konflikten innerhalb der Organisation. In dem Maße, wie sich die Nachrichten von politischen Attentaten mehrten, hob sich die Stimmung der Jugend und der Öffentlichkeit. Es folgten nacheinander: die Tötung des Gendarmerieoffiziers Baron {{Heyking}}, das Attentat auf den Staatsanwalt {{Kotljarewski}} in Kiew, die Beseitigung des Gouverneurs Krapotkin {{[Krapotkin]}} in Charkow {{[Charkow]}} (organisiert und ausgeführt von dem Landfreiheitler Ossinski {{[Ossinski]}} und der Kiewer Organisation), der bewaffnete Widerstand in Odessa bei der Verhaftung Kowalskis {{[Kowalskis]}} und seiner Genossen und die Demonstration anläßlich ihres Prozesses; dann die Tötung des Gendarmeriechefs {{Mesenzew}} und das Attentat auf seinen Nachfolger Drenteln {{[Drenteln]}}, ausgeführt von Petersburger Landfreiheitlern, ferner ihr Versuch, Wojnaralski {{[Wojnaralski]}} auf dem Wege zum Zentralgefängnis in der Nähe von Charkow mit bewaffneter Hand zu befreien – alle diese Taten, ungewöhnlich im grauen Alltag Rußlands, machten ungeheuren Eindruck und riefen einen Widerhall hervor, der die Vertreter der neuen Taktik anfeuerte. Allmählich verschob sich in ihren Augen das Verhältnis der beiden Hauptpunkte des »Land und Freiheit«-Programms. Im Jahre 1876, bei Gründung des Verbandes, lag der Schwerpunkt in der Tätigkeit auf dem flachen Lande, in der Vorbereitung und Organisierung des Volksaufstandes; der »Schlag ins Zentrum« wurde damals von den Vorgängen in der Volksmasse abhängig gemacht; in den Jahren 1878 bis 1879 dagegen stand dieser »Schlag« an erster Stelle des Programms; nichts anderes, meinte man, werde die lebendigen Volkskräfte entfesseln, sie im Momente der Desorganisierung und Verwirrung der Regierung hervorbrechen lassen. Alle Kräfte und Anstrengungen der Partei sollten auf die Herbeiführung dieses Moments konzentriert werden. So dachten A Michailow, Kwatkowski und andere. Aber in derselben Petersburger Gruppe gab es auch heftige Gegner dieser Auffassung, Revolutionäre, die hartnäckig den bisherigen Standpunkt der Partei verteidigten. Plechanow und M Popow kämpften mit der ganzen Kraft ihrer markanten Persönlichkeit gegen die Neuerung an. Sie[[1]] beriefen sich sowohl auf das ursprüngliche Programm, das unverändert geblieben war, wie auf die praktische Erwägung, jedem Terrorakt folge die Zertrümmerung der Organisation. Die Regierungsrepressalien flammten mit erneuter Kraft auf, und die Verhaftungen nähmen der Organisation ihre wertvollsten Leute. Ob nicht diese unersetzlichen Verluste ein zu hoher Preis für die Sympathie und Begeisterung des Publikums seien, die verblende und immer mehr in eine politische Sackgasse locke? In den Augen Plechanows und Popows war der moralische Einfluß, den der politische Terror auf die Jugend ausübte, den Interessen des Volkes schädlich. Die glänzenden Duelle mit der Regierung, die einen so lauten Widerhall fanden, erregten die Phantasie der Jugend, lenkten sie ab von der ruhmlosen, alltäglichen Kleinarbeit unter den Bauern, dieser dringlichsten Aufgabe einer Partei, die sich auf die Massen stützen müsse. So kam es, daß jedesmal, wenn die Neuerer wieder einen Plan brachten, er auf heftigen Widerstand stieß, eine scharfe Polemik hervorrief und die gegenseitigen Beziehungen sich zuspitzten. Als ich im Dezember 1878 aus Saratow nach Petersburg kam, lag der Konflikt unter den Mitgliedern der Zentrale offen zutage. Morosow und Michailow bestürmten mich, die Arbeit auf dem flachen Lande, die sie für wertlos hielten, aufzugeben und nach Petersburg überzusiedeln, während Plechanow in der Mitgliederversammlung mit solcher Gereiztheit und in solchem Tone polemisierte, daß seine Feindseligkeit gegen Michailow und Morosow mich, da ich an solche Beziehungen zwischen Genossen nicht gewöhnt war, peinlich berührte. Der Zwist erreichte seinen Höhepunkt, als im Frühling 1879 Alexander Solowjow aus Saratow kam. Das Fazit, das er aus seinem Aufenthalt auf dem Lande zog, lautete: »Bei den gegenwärtig herrschenden politischen Bedingungen ist die Tätigkeit eines Revolutionärs auf dem flachen Lande absolut zwecklos. Um jeden Preis muß eine Umwälzung dieser Bedingungen herbeigeführt werden, und daher ist vor allen Dingen die Reaktion in der Person Alexanders II. zu brechen.« Und er beschloß, ihn zu töten. Solowjows Ansuchen um Unterstützung des Attentats wurde in der Zentralgruppe beraten. Aber die Anhänger des bewaffneten Kampfes hielten es dabei für notwendig, seinen Namen zu verschweigen, – so groß war das Mißtrauen gegen Plechanow und Popow. Aber im Laufe der Diskussion wurde ihnen erklärt, der Entschluß zum Attentat sei unwiderruflich, und kein Einspruch könne ihn umstoßen. Diese Entschlossenheit, die Meinung der Organisation zu ignorieren, brachte Plechanows und Popows Geduld zum Überlaufen und rief einen stürmischen Zusammenstoß, ja Drohungen hervor. Zuletzt wurde ein Kompromiß geschlossen: der Verband »Land und Freiheit« selbst verweigerte dem Attentat jede Unterstützung – hingegen könnten einzelne Mitglieder individuell nach Gutdünken helfen. Am 2. April 1879 wurde das Attentat ausgeführt. Es mißlang. Die Feststellung der Person Solowjows, der sich ohne Erfolg zu vergiften versucht hatte, zog zahlreiche Verhaftungen seiner Freunde und Bekannten in Petersburg, {{Pskow}} und Saratow nach sich. &&x &&am &&g1="Freiheit_oder_Tod!" &&fa »Freiheit oder Tod!« &&fe &&ax Nach dem Schuß Solowjows forderten Plechanow und Popow die Einberufung eines allgemeinen Kongresses unseres Bundes »Land und Freiheit«, auf dem der Streit zwischen der alten und der neuen, der terroristischen, Strömung entschieden werden sollte. Der Verband sollte beschließen, ob er am alten Programm festhalten oder den Neuerungen im Sinne der Vertreter des politischen Terrors zustimmen wolle. Nach der Entscheidung sollte sich dann die Minderheit dem Beschluß der Mehrheit unterwerfen oder, um Ausschlüsse zu vermeiden, aus dem Verband ausscheiden. Die Stimmung in der Provinz war in Petersburg wenig bekannt. Popow glaubte, sie sei seinen Anschauungen günstig, und das beunruhigte jene, die den neuen Standpunkt vertraten. Um nicht überrumpelt zu werden, hieß es Maßnahmen treffen und sich die Möglichkeit sichern, den politischen Terror selbst im Falle eines Bruches mit den bisherigen Genossen fortzusetzen. Damals entstand die Gruppe, die später den Kern des »Vollzugskomitees« der Partei »Narodnaja-Wolja« (»Volks-Wille«) bilden sollte. Kwatkowski, Michailow, Morosow, Oschanina {{[Oschanina]}}, Tichomirow {{[Tichomirow]}} und Barannikow organisierten sich innerhalb des Bundes »Land und Freiheit« als Sondergruppe, von der die übrigen Mitglieder nichts wußten, und begannen heimlich Anhänger zu werben, deren es in Petersburg nicht wenig gab: bald entstand um Michailow und Kwatkowski ein Geheimzirkel, dem die illegalen Genossen Kibaltschitsch {{[Kibaltschitsch]}}, A Jakimowa {{[Jakimowa]}}, Sofja Iwanowa {{[Iwanowa]}}, die Studenten Issajew {{[Issajew]}} und Arontschik {{[Arontschik]}}, das Ehepaar A und der aus dem Auslande zurückgekehrte Stepan Schirajew {{[Stepan Schirajew]}} beitraten. Das Programm des Zirkels erkannte den politischen Terror als Notwendigkeit an, seine selbstbewußte Losung war: »Freiheit oder Tod«. Schon Ossinski hatte gemeinsam mit einigen anderen Kiewer Terroristen seinerzeit die Bezeichnung »Vollzugskomitee« in den Proklamationen angewandt, die sie (anläßlich ihrer aus eigener Initiative, auf eigene Gefahr ausgeführten politischen Terrorakte) herausgaben. Dem Beispiel Ossinskis folgten seine Gesinnungsgenossen in Petersburg, und einige Aufrufe in dem Blatt, das als Beilage zum Hauptblatt der »Semlja und Wolja« erschien, waren gezeichnet: »Das Vollzugskomitee«. Das Blatt erschien meist, wenn das Hauptblatt sich aus irgendwelchen Gründen verspätete. Es veröffentlichte im Namen des Vollzugskomitees von Zeit zu Zeit Informationen über Spitzel und Provokateure. Dies Material lieferte Genosse Kletotschnikow {{[Kletotschnikow]}}, der mit Einwilligung Michailows {{[Michailows]}} und seiner Freunde im Januar 1879 als Beamter in die zaristische Geheimpolizei eingetreten war. Die Bezeichnung Vollzugskomitee wurde gebräuchlicher, und die Sondergruppe Kwatkowskis machte sich diesen populär gewordenen Namen endgültig zu eigen. Mit Hilfe Sundelewitschs {{[Sundelewitschs]}} verschaffte sich das Komitee eine genügende Menge Schriftmaterial, um nötigenfalls eine eigene Druckerei zu haben. In Kibaltschitsch hatte man den Mann gefunden, der nicht nur die nötigen theoretischen Kenntnisse zur Selbstherstellung von Dynamit besaß, sondern auch schon Laboratoriumsversuche in dieser Richtung unternommen hatte. Bald wurde auch ein Laboratorium zwecks Herstellung von Nitroglyzerin und Dynamit eingerichtet, das man zur Ausführung der zukünftigen Pläne brauchte. An der Spitze des Laboratoriums stand Kibaltschitsch als Chemiker, als technische Arbeiter wurden Schirajew, Issajew und Jakimowa hinzugezogen. Letztere war gleichzeitig Inhaberin der ›konspirativen Wohnung‹, wo die Arbeit vor sich ging. In diesem primitiv eingerichteten, improvisierten Laboratorium, in steter Gefahr, entdeckt zu werden oder mit dem ganzen Hause in die Luft zu fliegen, stellten diese kühnen Genossen für den Sommer 1879 einige Zentner Dynamit her, ohne jede Schulung hierzu, als Laien experimentierend, jede Minute dem Tode gegenüber. &&x &&am &&g1="In_Lipzek_und_Woronesch" &&fa In Lipezk {{[Lipezk]}} und Woronesch &&fe &&ax Die Mitglieder des Vollzugskomitees beschlossen, den Ausgang des einzuberufenden »Land- und Freiheit«-Kongresses im voraus zu bestimmen, indem sie die Gleichgesinnten zu einer geheimen Separatkonferenz einluden. Der Kongreß sollte am 24. Juni in Woronesch zusammentreten, die Separatkonferenz fand einige Tage früher in dem benachbarten Kurort Lipezk statt. Außer alten Mitgliedern von »Land und Freiheit« wurden aus dem Süden hervorragende Revolutionäre hinzugezogen, die »Land und Freiheit« nicht angehörten: Kolodkewitsch {{[Kolodkewitsch]}} aus Kiew, Scheljabow aus Odessa und der im Süden allbekannte Frolenko {{[Frolenko]}}. Frolenko hatte Stefanowitsch {{[Stefanowitsch]}}, Deutsch und Bochanowski {{[Bochanowski]}} in Kiew und {{Kostjurin}} in Odessa aus dem Gefängnis befreit; hatte sich beteiligt an dem Versuch, Wojnaralski bei Charkow zu befreien, sowie an der Unterminierung der Regierungskasse in {{Cherson}}, die gelang, und wo eineinhalb Millionen Rubel konfisziert wurden. Die versammelten 11 bis 12 Menschen schlossen sich zu einer Gruppe zusammen, nahmen das von Morosow verfaßte Statut an, worin als Ziel der Organisation die Niederwerfung des Selbstherrschertums und die Eroberung politischer Freiheiten, als Mittel aber bewaffneter Kampf gegen die Regierung ausgesprochen wurde. Nach rascher Erledigung der programmatischen Punkte begaben sich die Mitglieder, die »Land und Freiheit« angehörten, nach Woronesch und ließen die Genossen aus dem Süden sowie Schirajew in Lipezk zurück, um sie zunächst in Woronesch als Mitglieder der Gesellschaft vorzuschlagen und sie dann zur gemeinsamen Tagung zu laden. Die oben genannten altbewährten Kandidaten Frolenko, Scheljabow, Kolodkewitsch wurden ohne Einwand sofort aufgenommen; ebenso Stepan Schirajew, der von denen, die ihn von Petersburg her kannten, wärmstens empfohlen wurde. Sie[[1]] erschienen auf der Haupttagung und stärkten dadurch den linken Flügel der Versammlung. Andererseits fanden damals die sich noch im Ausland aufhaltenden Stefanowitsch, Sassulitsch, Deutsch und Bochanowski Aufnahme. Nach der Ankunft der drei ersteren erwies es sich, daß sie auf Seiten Plechanows standen. Theoretische Differenzen, persönliche Gereiztheit und gegenseitiges Mißtrauen, Befürchtungen auf beiden Seiten, daß die Gegner die Oberhand gewinnen könnten, die Anwesenheit von Mitgliedern eines doppelt geheimen, kleinen Zirkels innerhalb der größeren Geheim-Gesellschaft, all dies steigerte angesichts des drohenden Konflikts die allgemeine Spannung. Nach der Eröffnung des Kongresses aber erwies es sich, daß die Beziehungen zwischen den Delegierten der Hauptstadt und der Provinzen lange nicht so gespannt waren, wie man das nach den stürmischen Zusammenstößen in Petersburg annehmen durfte. Alle wollten die Einigkeit der Organisation retten, alle fürchteten den Verlust von Kräften infolge einer Spaltung. Das Programm der »Semlja i Wolja«, abgefaßt in sehr allgemeinen Ausdrücken, ließ beiden Seiten die Möglichkeit, es zu ihren Gunsten auszulegen. Nach einer Debatte ließ man das Programm sowie das Statut »Land und Freiheit« unverändert. Man beschloß, die Propagandatätigkeit unter dem Volke fortzuführen, aber den Agrarterror hinzuzufügen. Daneben sollte in der Stadt der terroristische Kampf – auch gegen den Zaren – fortgeführt werden. Das Organ »Land und Freiheit«, mit seinem Beiblatt, wurde weitergeführt. Anfangs allerdings hatte sich ein scharfer Zwischenfall zugetragen: Unbeherrscht und gereizt verteidigte Plechanow aus aller Kraft seinen Standpunkt, und als er sehen mußte, daß die Anwesenden zu einem entgegengesetzten Kompromiß neigten, erhob er sich zornig von seinem Platz und verließ die Versammlung, die auf einer Wiese im botanischen Garten am Rande der Stadt stattfand. Im Weggehen schleuderte er die Worte hin: »Ich habe hier nichts mehr zu tun!« Ich stürzte fort, ihn zurückzuhalten, aber Alexander Michailow hielt mich an: »Lassen Sie[[1]] ihn«, – sagte er. Daraufhin wurde, soviel ich mich erinnere, die Frage aufgeworfen, ob der Weggang Plechanows als Austritt aus der Gesellschaft gelten solle. Dies wurde bejaht. Wahrscheinlich betrachtete auch er selbst sich als ausgeschieden, denn seitdem bis zu seiner Abreise ins Ausland habe ich Plechanow nicht wieder getroffen. Die Lipezker Sondergruppe nutzte den Kongreß dazu aus, die Stellungnahme der einzelnen Mitglieder näher kennen zu lernen, um sie im Falle einer künftigen Parteispaltung wenn irgend möglich zu sich herüberzuziehen. So versuchte mein alter Freund Morosow mich in Woronesch für seine Geheimgruppe zu gewinnen; ich bestritt entschieden die Notwendigkeit und die Zulässigkeit der Formierung einer geheimen Gesellschaft innerhalb einer Geheimorganisation. Eine Frage, die Scheljabow auf dem Woronescher Kongreß gelegentlich der Besprechung des Agrarterrors aufgerollt hat, scheint mir erwähnenswert. »Auf wen gedenkt sich die revolutionäre Partei zu stützen?« fragte er. »Auf das Volk oder auf die liberale Bourgeoisie, die mit der Niederwerfung des Selbstherrschertums und der Einführung der politischen Freiheit sympathisiert?« Im ersten Falle sei auch der Agrar- und Fabrikterror am Platze. Wollten wir uns dagegen auf die Industriellen, auf die Vertreter der ländlichen und städtischen Selbstverwaltung stützen, so würde jene terroristische Politik diese natürlichen Bundesgenossen von uns abstoßen. Und er wies darauf hin, daß es in Südrußland manche Männer im Bürgertum gebe, die angesichts der gemeinsamen politischen Ziele Beziehungen zur revolutionären Partei suchten. So hatte Ossinski, der damals schon hingerichtet war, in Kiew ziemlich umfassende Verbindung mit liberalen Kreisen gehabt, und es war bemerkbar, daß auch Scheljabow selbst vom Sozialismus fort sich einem rein »politischen« Programm zuneigte, und in Odessa bestand damals in der Stadtverordneten Versammlung eine große Gruppe von Intellektuellen, die Versammlungen veranstaltete und nichts mehr und nichts weniger als – Verfassungs-Entwürfe erörterte! »Die Pariser Kommune« wurde diese Stadtverordneten-Versammlung von Panjutin {{[Panjutin]}} genannt, der rechten Hand des Odessaer Generalgouverneurs Totleben; und im Sommer 1879 beeilte er sich, diese vorzeitigen »Konstitutionalisten« zu zersprengen, die Führer in entlegene Gegenden Sibiriens zu verbannen. Aber einmütig beantwortete der Kongreß die Frage Scheljabows: Wir stützen uns auf die Volksmassen und bauen dementsprechend unser theoretisches und praktisches Programm aus. (Das Wort »Taktik« fehlte damals in unserem revolutionären Wortschatz, ebenso die Worte »Plattform«, »Minimal- und Maximalprogramm« und andere.) In Nordrußland wurden übrigens die Liberalen niemals als Machtfaktor betrachtet und in den 70er Jahren im großen ganzen mit Ablehnung und Spott behandelt. Ihre Untätigkeit, ihr Sichducken vor der politischen Unterdrückung mit allen ihren Greueln, ihr Sich-erniedrigen vor den Zentral- und Provinzbehörden diskreditierte die bürgerlich-liberalen Elemente, von denen Scheljabow sprach, in den Augen der jungen Generation; z. B. wollten die Liberalen ein eigenes Blatt herausgeben. Aber wie? Sie[[1]] schlugen uns Landfreiheitlern vor, wir sollten eine Geheimdruckerei mit allem Nötigen einrichten, das Personal stellen und das von ihnen, den Liberalen, Geschriebene drucken – sie wollten auch Geld dazu geben. So sollten wir Risiko und Verantwortung tragen, in die {{Katorga}} und in die Verbannung gehen für eine Sache, die uns ganz fremd war! Das Angebot erweckte ironisches Gelächter. &&x &&am &&g1="Spaltung" &&fa Spaltung &&fe &&ax Nach dem Kongreß von Woronesch begann mein illegales Leben. Mit Kwatkowski reiste ich nach Petersburg ab und ließ mich dort im Vorort Lesnoi {{[Lesnoi]}} nieder, wo er und Iwanowa eine konspirative Gemeinschaftswohnung hatten. Kwatkowski fand immer einfache Frauen, die ihm vollständig ergeben waren. Die Bedienerin bei uns in Lesnoi war eine Deutsche, die völlig ungefährlich war für jene ungewöhnliche Lebenshaltung, die wir vor ihren Augen ganz offen führten. Das war sozusagen das Stabsquartier der »Landfreiheitler« terroristischer Richtung. Es war Hochsommer, und die Villen-Örtlichkeit bot viele Vorzüge für ein solches Hauptquartier. Wir alle waren illegal, und eine Menge Personen in gleicher Lage kam zu uns in Sachen der Bewegung, ohne Aufsehen zu erregen; in dem Fichtenwalde am Ausgang der Ansiedlung ließen sich leicht, unter dem Anschein eines harmlosen Ausflugs, Konferenzen veranstalten. Sie[[1]] wurden denn auch weit ab von den Häusern abgehalten, wo das Publikum nicht hinkam, und wir lagerten auf dem trockenen Nadelboden unter den Kiefern, wo man weithin Ausblick hatte. Teilnehmer waren nur die ständigen Besucher unserer Villa, Mitglieder jener Konferenz von Lipezk; Kwatkowski, Morosow und Michailow klagten über die Anhänger der Dorfpropaganda, die die terroristische Tätigkeit hemmten. Der Beschluß des Woronescher Kongresses, den Zaren zu töten, müsse ohne Aufschub verwirklicht werden, sonst werde man zum Herbst bis zur Rückkehr Alexanders II. aus der Krim mit den Vorbereitungen nicht fertig sein. Zur Ausführung der Anschläge an einigen Stellen der Reiseroute des Zaren habe man zwar sowohl die nötigen Kräfte wie einen genügenden Dynamitvorrat zur Verfügung, aber die Gegner des Terrors verzögerten die Ausführung der Pläne nach wie vor in jeder Weise. In inneren Konflikten und Reibungen werde die Energie vergeudet; anstatt entschlossen und einmütig zu handeln, verliere man sich in Schwankungen und Kompromissen. Der Kongreß von Woronesch habe die bestehenden Gegensätze nicht aus der Welt geschafft, sondern sie nur vertuscht. Es sei besser, anstatt sich gegenseitig zu lähmen, im gegenseitigen Einverständnis auseinanderzugehen. Diese häufig wiederholten Ausführungen fanden keinen Widerspruch mehr. Die Hauptopponenten – Plechanow, Popow, Stefanowitsch – waren nicht anwesend, Perowskaja und ich, die in Woronesch noch geschwankt und versucht hatten, die Einheit der Organisation zu wahren, wir leisteten keinen Widerstand mehr, jetzt, wo es an die Tat ging und die Petersburger Genossen uns eröffneten, daß alles zu Attentaten bereit sei, und es nun heiße, den Plan zu verwirklichen und nicht auf dem toten Punkt zu verharren. Die Spaltung des Bundes »Land und Freiheit« wurde vollzogen. Beide Seiten arbeiteten die Bedingungen des Auseinandergehens aus. Die Druckerei sollte in den Händen der Anhänger des alten Programms bleiben. Wir – die Gruppe Michailows – konnten dank dem von Sundelewitsch seinerzeit angeschafften Schriftmaterial sofort unsere eigene Druckerei einrichten. Als Druckereileiterin war Sofja Iwanowa vorgesehen, die sich aufs Drucken verstand, da sie seinerzeit Setzerin in der Geheimdruckerei Myschkins in Moskau gewesen war. Die wenig gebildete {{Grjasnowa}}, die bisher Anlegerin in der Geheimdruckerei von »Land und Freiheit« war, ging zu uns über, da sie mehr mit uns sympathisierte. An weiterem Personal war auch kein Mangel: den Inhaber zu spielen, willigte Genosse Buch ein, während Zuckermann und »{{Ptaschka}}« (Vöglein), von dem noch weiterhin die Rede sein wird, Setzer sein wollten. Die Geldmittel sollten zu gleichen Hälften geteilt werden, in Wirklichkeit aber bestanden nur ›Aussichten‹ auf Geld: das große Vermögen D {{Lisogubs}}, das er der Partei vermacht hatte, konnte nicht realisiert werden, da er verhaftet und bald darauf in Odessa hingerichtet worden war, sein Freund Drigo {{[Drigo]}} aber, den er in grenzenlosem Vertrauen beauftragt hatte, das Erbe zugunsten von »Land und Freiheit« zu verkaufen, wurde zum Verräter: er verkaufte sich an die Regierung, in der Hoffnung, den Reichtum seines großherzigen und vertrauensseligen Freundes zu erhalten. A Michailow aber, der für die »Landfreiheitler« die Geldverhandlungen mit Drigo führte, bekam nicht nur kein Geld, sondern wäre dem Verräter fast in eine Falle gegangen. So erhielten unsere früheren Genossen nichts, während uns der Fonds von 23 000 Rubeln blieb, die uns vom Ehepaar {{Akimow}} versprochen und auch wirklich übergeben worden waren. Vereinbarungsgemäß sollte keine der Fraktionen den alten Namen »Land und Freiheit« führen, der sich schon Ruf und Sympathie in revolutionären Kreisen erobert hatte. Die Vertreter der alten Richtung, die ihr Augenmerk auf die Agrarfrage und die wirtschaftlichen Interessen des Bauerntums konzentrierten, gaben sich den Namen »{{Tschorny Peredel}}« (Schwarze Aufteilung), agrar-revolutionäre Bewegung zu Ende der 70er Jahre, an der unter anderem auch Plechanow teilnahm. Ihr Hauptziel drückt sich im Namen aus: Aufteilung – d. h. Wiedergewinnung – des von den Zaren und Adligen in den vorangegangenen Jahrhunderten den Bauern weggenommenen Landes, und zwar nicht »gesetzlich« oder gegen Entschädigung, sondern »schwarz«, d. h. gewaltsam, revolutionär. Unter anderem berührt dies auch Marx in einem Briefe an Kugelmann über die amerikanischen Landreformer (Georgisten).. Wir, die vor allem den Sturz der Selbstherrschaft anstrebten und an Stelle des Willens eines Einzigen den freien Willen des Volkes setzen wollten, nahmen den Namen »Narodnaja Wolja« (Volks-Wille) an. Nach dem Ausdruck Morosows hatten wir auf diese Weise sogar den Namen der alten Organisation aufgeteilt: die Landaufteiler nahmen sich »das Land«, wir die »Freiheit« Das Wort »Wolja« bedeutet auf russisch sowohl »Freiheit« wie »Wille«., und jede Fraktion zog ihres Weges. &&x &&am &&g1="Volks-Wille" &&fa »Volks-Wille« &&fe &&ax Während die Fraktion der »Schwarzen Aufteilung« im wesentlichen das Programm von »Land und Freiheit« beibehielt und darin nur die Tätigkeit unmittelbar im Volke und die Notwendigkeit seiner Organisierung zum ökonomischen Kampf gegen die Bourgeoisie unterstrich, legten wir »Narodowolzy« {{[Narodowolzy]}} unserem Programm einen ganz neuen Gesichtspunkt zugrunde: den bedeutsamen Einfluß der zentralisierten Staatsmacht auf die gesamte Struktur des Volkslebens. Unseres Erachtens spielte dieses Moment eine ungeheure Rolle in der Geschichte Rußlands. So hatte in längst vergangenen Zeiten die zarische Staatsmacht die föderativen Prinzipien zerstört, die der politischen Struktur des alten Rußlands entsprachen. Das Volk, das schon damals seit langem in einen steuerzahlenden Stand verwandelt worden war, war von der Zarenmacht zuerst an das Land ›befestigt‹ und dann sogar leibeigen gemacht worden; sie hatte den Adelsstand geschaffen, zuerst als einen dienstpflichtigen Vasallen-, dann aber als einen von den Lasten des Staatsdienstes freien Gutsbesitzer-Stand, und als auch diese Klasse immer mehr herunterkam und einschrumpfte, indem die vornehmsten alten Hofadels-Bojaren-Geschlechter gegen Anfang des 18. Jahrhunderts verarmten oder ausstarben, da wurde durch eine Reihe »allergnädigster« riesiger Schenkungen von Staatsländereien und Krongütern der Grund gelegt zu jenem mächtigen und reichen Groß-Grundbesitz, wie ihn noch die Epoche der Bauernbefreiung bei uns vorfand; ebenso hatte in neuester Zeit diese selbe Staatsmacht, nachdem sie 1861 die Bauern von persönlicher Leibeigenschaft befreit hatte, die Rolle des Hauptausbeuters der freien Volksarbeit übernommen; sie gab nämlich der Bauernschaft einen Landanteil, der weit geringer war als ihn die bäuerliche Arbeitskraft beanspruchte, sie belastete dann diesen ungenügenden Bodenanteil mit solchen unmäßigen Abgaben und Steuern, daß sie die ganze Brutto-Einnahme des Bauern verschlangen, in vielen Gegenden den Ertrag des Landes sogar um 250 und mehr Prozente überstiegen. Diese Abgaben stellten somit eine maßlose Steuer auf die Arbeitskraft dar, die pro Kopf des erwachsenen Arbeiters 40 bis 50 Rubel jährlich betrug. ({{Golowatschow}}: Unser Staatsetat, »{{Russkaja Mysl}}« 1883.) Die zentralisierte Staatsmacht verwandte diese kolossalen Mittel fast ausschließlich zur Aufrechterhaltung der äußeren Macht des Reiches, zum Unterhalt der Armee, der Flotte und zur Tilgung der für Rüstungen aufgenommenen Staatsanleihen. Nur erbärmliche Summen wurden dagegen für produktive Ausgaben, für so dringliche Bedürfnisse wie Volksbildung und dergleichen, verwandt. Diese Sachlage entsprach vollständig dem Prinzip, daß das Volk für den Staat, nicht aber der Staat für das Volk da sei. Neben einer derartigen Ausbeutung des Volkes durch den Staat verblaßte jede private Ausbeutung. Aber nicht genug damit, unterstützte die Regierung die private Ausbeutung mit allen Mitteln und Kräften; einst hatte die Staatsmacht den Adel ins Leben gerufen, jetzt förderte sie das Entstehen der Bourgeoisie. Anstatt die wirtschaftlichen Interessen des Volkes zu vertreten, unterstützte sie Privatunternehmer, Großindustrielle und Eisenbahngesellschaften. Nach Zeugnis aller Nationalökonomen war während der ganzen 20 Jahre seit der Bauernbefreiung nicht eine einzige Maßnahme zur Hebung des Wirtschaftslebens des Volkes getroffen worden; im Gegenteil, die Finanzpolitik der Regierung war auf die Bildung und Unterstützung des Privatkapitals gerichtet; Subsidien, Garantien und Tarife, alle ökonomischen Maßnahmen in diesem Zeitabschnitt erfolgten zugunsten des Privatkapitals. Und während im Westen die Regierungen den besitzenden Klassen, die die Herrschaft bereits angetreten hatten, als Werkzeug und Willensausdruck dienten, stellte die Regierung bei uns eine selbständige Kraft dar, die bis zu einem gewissen Grade sogar die Schöpferin dieser besitzenden Klassen war. Auf ökonomischem Gebiet war der moderne Staat nach Ansicht der »Volksfreiheitler« der größte Eigentümer und der hauptsächlichste Ausbeuter der Volksmassen, der die anderen kleineren Ausbeuter unterstützte. Indem die Regierung die Volksmassen ökonomisch knechtete, ließ sie in politischer Hinsicht alle Klassen rechtlos. Millionen Sektierer und »Altgläubige« litten unter der Unterdrückung der Religionsfreiheit; steuerliche und polizeiliche Maßnahmen raubten dem Volk die Freizügigkeit; das Verbot freien Unterrichts hielt die Bevölkerung in erzwungener Unwissenheit; da kein Petitionsrecht bestand, hatte das Volk keine Möglichkeit, der Regierung seine Nöte und Bedürfnisse kundzugeben, und endlich war sein ganzes Leben der zügellosen Willkür der Behörden ausgeliefert. &&x Die Landschaftsselbstverwaltungen, die Semstwos, wurden absichtlich getrennt, isoliert gehalten. Ihre Stimme blieb ungehört in den wesentlichsten Fragen des Volkslebens. Auf dem Gebiet der Volksbildung waren sie dem Volksaufklärungsministerium untergeordnet, und im ungleichen Kampfe gegen die Regierungswiderstände kamen sie zu dem traurigen Beschluß, die Semstwo-Schulen zu schließen (wie das in Twer {{[Twer]}} z. B. geschah). Die einzigen Mittel, wodurch die ›Gesellschaft‹ auf die Regierung und durch sie wieder auf das Leben hätte einwirken können – Literatur und Presse –, waren vollständig unterdrückt. Dort, wo die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und die Freiheit des Wortes fehlt, was kann dort die Presse sein? Aber selbst in dem engen ihr verbliebenen Rahmen blieb sie eine Stimme in der Wüste, – ein Mittel, die Leser in einer bestimmten Richtung zu erziehen, nicht aber ein Weg zur unmittelbaren Verwirklichung von Ideen im Leben; worauf sie auch hinweisen, was sie auch vorschlagen mochte, – es blieb alles vergebens. Ihre besten Vertreter waren in der Verschickung gewesen oder befanden sich noch dort; die auf Festung gesessen hatten, befanden sich nunmehr unter ständiger Polizeiaufsicht, (unter anderen Tschernyschewski, Hertzen {{[Hertzen]}}, {{Saltykow}}, Pissarjew, Lawrow, Dostojewski, Uspenski {{[Uspenski]}}), die Jugend der Gesellschaft, die studierende Jugend, wurde kleinlichen Einengungen unterworfen, der Korporationsrechte beraubt und genoß die verstärkte Aufmerksamkeit der Polizei. – Jeder Versuch, auf diese oder jene Weise die Umgestaltung der bestehenden Ordnung zu erreichen, zerschellte entweder am Gesetz der Trägheit oder an grausamer Unterdrückung. Als sich die Jugend mit friedlicher Propaganda an das Volk gewandt hatte, war sie mit Massenverhaftungen bedacht worden, mit Verbannung, Zwangsarbeit, Zuchthaus und Gefängnis. Als sie, empört über diese Gewalttätigkeit, einige Schergen der Regierung gestraft hatte, wurde geantwortet mit Einsetzung von General-Gouverneuren und mit Hinrichtungen. In den 1 …(?) Jahren 1878{{/}}79 hatte Rußland 18 Todesurteile gegen politische Verbrecher vollstrecken sehen. Die Staatsmaschine wurde unter diesen Umständen zu einem wahren Moloch, dem sowohl das wirtschaftliche Wohlergehen der Volksmassen wie alle Menschen- und Bürgerrechte zum Opfer fielen. Diesem Beherrscher des russischen Lebens – der Staatsmacht, die sich auf ein unübersehbares Heer und eine allmächtige Bureaukratie stützte – erklärte der revolutionäre Verband »Volks-Wille« den Krieg. Er nannte die Regierung in ihrer damaligen Form den Hauptfeind des Volkes. Diese These und die Folgerungen daraus: der politische Kampf, die Verlegung des Schwergewichtes der revolutionären Tätigkeit aus dem Dorf in die Stadt, Vorbereitung nicht eines Volksaufstandes, sondern einer Verschwörung gegen die Regierung mit dem Ziel, die Macht zu ergreifen, um sie dem Volke zu übergeben; strengste Zentralisierung der revolutionären Kräfte als notwendige Vorbedingung eines erfolgreichen Kampfes gegen den zentralisierten Feind, – all diese Grundsätze vollzogen eine vollständige Umwälzung in der revolutionären Welt jener Zeit. Sie[[1]] warfen die bisherigen revolutionären Anschauungen um, erschütterten die sozialistische und föderalistische Organisationsüberlieferung, sie zerstörten jene revolutionäre Routine, die im Laufe der letzten Jahrzehnte üblich geworden war. Kein Wunder deshalb, daß, um die Opposition zu überwinden und der neuen Auffassung das endgültige Übergewicht bei den Revolutionären zu verschaffen, ein bis anderthalb Jahre rastloser Propaganda und eine ganze Reihe glänzender Leistungen notwendig waren. Indem unsere neue Partei die Verwirklichung sozialistischer Ideale für die Angelegenheit einer mehr oder weniger entfernten Zukunft hielt, bezeichnete sie als nächstes Ziel auf wirtschaftlichem Gebiet: die Übergabe des Hauptproduktionsmittels – des Bodens – in die Hand der Bauerngemeinde; auf politischem Gebiet hingegen: den Ersatz der Selbstherrschaft eines Einzigen durch die Selbstregierung des ganzen Volkes, d. h. durch eine Staatsordnung, in der sich der Volkswille frei ausdrücken und der höchste und einzige Regulator des gesamten gesellschaftlichen Lebens sein werde. Das geeignete Mittel zur Erreichung solcher Ziele sahen wir in der Beseitigung der damaligen Staatsorganisation, die die ganze, dem Wünschenswerten so sehr widersprechende »Ordnung« aufrecht erhielt. Wir glaubten, diese Beseitigung müsse erfolgen durch eine Staatsumwälzung, die durch eine Verschwörung vorzubereiten sei. &&x &&am &&g1="Das_Problem_der_Machtergreifung" &&fa Das Problem der Machtergreifung &&fe &&ax Der politische Teil des Programms, der von der Niederwerfung der absolutistischen und der Aufrichtung der Volksherrschaft handelte, führte uns zur Frage der Staatsumwälzung und der Bildung einer provisorischen Regierung. Zwar sprach unser Programm nicht von der Machtergreifung durch die Partei, sondern von einer provisorischen Regierung als Interim zwischen dem Sturz des Zarismus und seiner Ablösung durch die Volksvertretung; ohne solche Zwischenregierung sei keine revolutionäre Umgestaltung der Staatsmacht möglich. Erst später, in dem Dokument »Die Vorbereitungsarbeit der Partei«, wird die Machtergreifung als Ziel der Partei erwähnt. Diese Formel, die – ich glaube – von Scheljabow herrührt, rief scharfe Kritik hervor. Wir lehnten sie als jakobinisch ab, denn sie dekretiere revolutionäre, sozialistische und politische Umgestaltungen und zwinge so den Willen einer Minderheit der Mehrheit auf. Die ganze Frage der »provisorischen Regierung« war bei dem vorhandenen Bestande unserer Partei eine akademische Frage, die aufgeworfen wurde, um das Programm harmonischer und systematischer aufzubauen, jedoch ohne den Gedanken daran, daß wir jene Regierung noch selbst erblicken oder gar in sie eintreten würden. Im Gegenteil: Wir Revolutionäre würden aller Wahrscheinlichkeit nach mit unseren Händen die Kastanien aus dem Feuer holen für die Liberalen: die Advokaten, Professoren und Schriftsteller und die sonstigen in Stadt und Land öffentlich Tätigen, wie das auch in Frankreich im 19. Jahrhundert gewesen war. Doch es hieß, auch das in Kauf nehmen, – nur um den Zarismus zu stürzen, der alle Volkskräfte erstickte, das Volk zu Elend, Unwissenheit und Entartung verdammte. Wie fern uns jegliches Jakobinertum lag, zeigt uns das Schreiben des »Vollzugskomitees« an Alexander III. nach den Ereignissen des 1. März 1881; indem es die Forderung der Einberufung der Konstituierenden Versammlung aufstellte, versprach das Vollzugskomitee gleichzeitig, daß es sich dem Volkswillen, wie er in den Entscheidungen der Volksvertreter zum Ausdruck kommen würde, fügen werde. Der Sinn dieses Versprechens war: falls die Volksvertretung die Hoffnungen der revolutionären Partei nicht erfüllen sollte, würde sie nicht zur Gewaltanwendung, zum Terror gegen die Volksvertretung greifen, sondern zur Propaganda ihrer Ideen unterm Volke, das sich nicht auf der Höhe seiner Aufgabe gezeigt hatte. Indessen gab es in den Reihen unserer Partei verschiedene, einander entgegengesetzte Elemente. Da war vor allem die Genossin Oschanina. Sie[[1]] stammte aus einer reichen Großgrundbesitzerfamilie des Gouvernements Orel {{[Orel]}} und hatte ihre revolutionäre »Taufe« in ihrer Heimat erhalten, von einem alten Revolutionär, dem Jakobiner Saitschnewski {{[Saitschnewski]}}, der in den sechziger Jahren Zwangsarbeit durchgemacht und seitdem in Orel unter Polizeiaufsicht gestanden hatte. Während einer ganzen Reihe von Jahren zog er wie ein Magnet die studierende Jugend, darunter auch Oschanina, an. Sie[[1]] war eine Frau von scharfem Verstand, gewandt, hartnäckig und energisch, und das verlieh ihr Einfluß sowohl unter uns wie unter Fremden. Aber ihr Tätigkeitsfeld war nicht Petersburg, sondern Moskau, wo sie sich seit den Anfängen des »Volks-Willens« aufhielt. Ihre jakobinischen Anschauungen hätten sich, wenn überhaupt, in Moskau durchsetzen müssen. Allein an der revolutionären Jugend, in der sie zusammen mit Telalow {{[Telalow]}} wirkte, war der Einfluß ihrer Anschauungen in keiner Weise zu spüren. Ebensowenig ist es ihr zuzuschreiben, daß das Prinzip der »Machtergreifung« in einigen Schriften des »Volks-Willens« erwähnt wurde. Der Historiker könnte nun denken, der jakobinische Einfluß sei etwa vom Ausland her gekommen. Dort erschien ein Organ dieser Richtung, der »Nabat« ({{[Nabat]}} Alarm). Diese Zeitschrift schrieb es ihrem Einfluß zu, als die Revolutionsbewegung in Rußland einen Kampfcharakter annahm und den Absolutismus zu attackieren begann. Mit Unrecht! Der »Nabat« hatte fast keine Verbreitung in Rußland; während der ganzen Zeit nach meiner Rückkehr aus Zürich bis zu meiner Verhaftung 1883 habe ich nicht ein einziges Exemplar dieser Zeitschrift zu Gesicht bekommen oder auch nur in einer der größeren Städte Rußlands jemand über das Blatt sprechen hören. Es gab wohl Einzelpersonen jakobinischer Richtung, wie den schon genannten Saitschnewski in Orel oder die ehemalige Züricher Studentin {{Jushakowa}} in Odessa; es hatte freilich den Prozeß der Jakobiner in Kursk gegeben, wo {{Lavrenius}} und seine Genossen abgeurteilt worden waren. Aber außer ihren Namen wurden weder sie selbst noch etwas über ihre Tätigkeit bekannt. Wenn unter den Gründern des »Volks-Willens« sich die Jakobinerin Oschanina befand, so war einer unserer liebsten Genossen, Sundelewitsch, ein ehemaliges Mitglied der Organisation Tschaikowskis, späterhin ein »Landfreiheitler«, der erklärte, er sei Sozialdemokrat. Er hatte in Deutschland die sozialdemokratische Doktrin kennengelernt und tief in sich aufgenommen, war Sozialdemokrat im Geiste der Mitglieder der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei geworden. Klug, lebhaft, sehr tätig, der erste, wenn es galt, technische Mittel aller Art für den Gebrauch der Partei zu ergattern, konnte Sundelewitsch unter dem Zwang der Verhältnisse des russischen Lebens nicht umhin, einzusehen, daß das durch und durch bäuerliche Rußland jener Zeit nicht die Elemente besaß zur Schaffung einer proletarischen Arbeiterpartei, wie sie im industriellen Deutschland bestand. Konnte man aber deshalb abseits der Bewegung bleiben, wenn man vor sich das Übel des Zarismus sah, und wenn eine Gruppe da war, die diesem Erzfeind des russischen Volkes erbarmungslosen Krieg erklärt hatte? So trat er trotz seiner sozialdemokratischen Anschauungen in die Reihen des »Volks-Willens«, um unter russischen Verhältnissen Hand in Hand mit jenen zu kämpfen, die das russische Leben auf den Kampfposten gestellt hatte, und mit den Waffen, wie die russischen Verhältnisse sie erforderten. Aus ein und demselben Grunde verschmolzen sowohl Sundelewitsch wie Oschanina völlig mit den übrigen Volksfreiheitlern und waren sehr aktive Mitglieder, ohne im geringsten Unstimmigkeiten noch irgendeine persönliche, ihrer Auffassung eigentümliche Note in die allgemeine Richtung unserer Parteitätigkeit hineinzutragen. Das, was uns gemeinsam war und alle ohne Unterschied ergriff, das war der tätige Geist, das Streben nach aktivem Kampf und das Gefühl der Empörung gegenüber dem passiven Zustand, in dem das Volk verharrte und mit ihm die »Gesellschaft« und die bis dahin noch friedlichen Sozialisten. &&x &&am &&g1="Das_Vollzugskomitee" &&fa Das Vollzugskomitee &&fe &&ax Das Programm war ohne viel Worte beraten und bestätigt worden, – rasch gingen wir über zum Organisationsplan der Partei und zum Statut des Vollzugskomitees. Entsprechend den Forderungen angespanntesten Kampfes gegen einen mächtigen Gegner war der Organisationsplan des »Volks-Willens« streng zentralistisch aufgebaut und von vornherein in allrussischem Maßstabe entworfen. Ein Netz geheimer Gruppen, von denen sich jede eine allgemeine revolutionäre Arbeit auf einem bestimmten Spezialgebiet wählte, hatte ein gemeinsames Zentrum – das Vollzugskomitee. Die lokalen Gruppen waren verpflichtet, sich ihm unterzuordnen, ihm ihre Kräfte und Mittel zur Verfügung zu stellen. Vom Zentrum aus wurden alle allrussischen Angelegenheiten der Gesamtpartei verwaltet. Im Moment des Aufstandes hatte es alle Kräfte der Partei mobil zu machen, ihr revolutionäres Auftreten anzuordnen. Zuvor aber konzentrierte es sich auf die Organisierung der Verschwörung, die allein eine Umwälzung zwecks Übergabe der Macht an das Volk ermöglichen konnte. In der Tat arbeitete die Partei durchaus in dieser Richtung; wenn sie trotzdem später terroristisch genannt wurde, so geschah es auf Grund eines rein äußerlichen Merkmals. Der Terror war niemals ihr Selbstzweck! Er war ein Mittel der Verteidigung, des Selbstschutzes, er galt als mächtiges Instrument der Agitation und wurde nur angewandt, soweit gewisse organisatorische Ziele erreicht werden sollten. Unter anderem gehörte in diese Rubrik die Tötung des Zaren. Im Herbst 1879 wurde die Zarentötung zu einer Notwendigkeit, zu einer brennenden Tagesfrage; und das gab einigen von uns, darunter auch Goldenberg, der uns später verriet, den Anlaß, Zarenmord und terroristische Tätigkeit fälschlich für unsern wesentlichsten Programmpunkt zu halten. Die einzige Ursache, warum das Vollzugskomitee sogleich nach seiner Bildung beschlossen hatte, ein Attentat auf Alexander II. an vier verschiedenen Stellen zu organisieren, war der Wunsch, ein weiteres Anwachsen der Reaktion, die unsere Organisationsarbeit hinderte, zu unterbinden. Die propagandistische und organisatorische Arbeit unter den Intellektuellen und der Arbeiterschaft ging stets neben der zerstörenden Tätigkeit einher; sie war weniger auffallend, sollte aber dennoch ihre Früchte tragen. Scheljabow betrieb sie in Charkow, Kolodkewitsch und ich in Odessa, Michailow in Moskau, die Genossen Kwatkowski, Korba und andere in Petersburg. Indem die neue Partei die Unzufriedenen in eine allgemeine Verschwörung gegen die Regierung zusammenfaßte, war sie sich wohl der Bedeutung eines Aufstandes der Bauernmassen im Moment des Sturzes des Zarismus bewußt. Deshalb wies sie der Propagandatätigkeit unter dem Volke stets einen gebührenden Platz zu und betrachtete Landagitatoren, die sich ihr zur Verfügung stellen wollten, als ihre natürlichen Bundesgenossen; leider gab es deren während der ganzen Dauer unserer Tätigkeit herzlich wenig. Ohne Neues zu den Methoden der Dorfpropaganda beizutragen, wies die Partei ihre Anhänger auf dem flachen Lande auf die Notwendigkeit hin, dem Volke die Bedeutung der Regierungsmacht auf wirtschaftlichem Gebiete klarzulegen (die systematische Unterstützung der adligen Grundbesitzer und kapitalistischen Gewerbetreibenden, die Zollpolitik usw.). Laut Statut war jedes Komiteemitglied verpflichtet: 1. alle Geistes- und Seelenkräfte der revolutionären Sache hinzugeben, ihretwillen alle Familienbande, Sympathien, Liebe und Freundschaft aufzugeben; 2. wenn nötig das Leben hinzugeben, ohne Rücksicht auf sich und andere; 3. nichts zu besitzen, das nicht gleichzeitig der Organisation gehörte; 4. seinem individuellen Willen zu entsagen und ihn den Mehrheitsbeschlüssen der Organisation unterzuordnen; 5. alle Angelegenheiten, Pläne und Absichten, sowie den Mitgliederbestand der Organisation streng geheimzuhalten; 6. in allen Beziehungen öffentlichen und privaten Charakters, in allen offiziellen Handlungen und Erklärungen sich nie als Mitglied, sondern stets nur als Beauftragter des Vollzugskomitees zu bezeichnen; 7. im Falle des Austritts aus der Gesellschaft unverbrüchliches Schweigen zu bewahren über alles die Tätigkeit der Gesellschaft Betreffende. Groß waren diese Anforderungen, aber leicht für den, der vom revolutionären Gefühl beseelt war, jenem hochgespannten Gefühl, das keine Hindernisse kennt und vorwärts stürmt, weder zurück noch nach rechts oder links blickend. Wären jene Forderungen leichter gewesen, hätten sie nicht zuinnerst an den Menschen gerührt, so wären sie als unbefriedigend empfunden worden; so aber erhoben sie durch ihre Strenge und Höhe die Persönlichkeit, sie rissen sie aus den Bahnen des Alltäglichen heraus. Der Mensch fühlte stärker, daß eine Idee in ihm lebe und leben müsse. &&x &&am &&g1="Attentate" &&fa Attentate &&fe &&ax Als die ganze theoretische und organisatorische Vorarbeit beendet war, ging das Komitee zum Praktischen über und beschloß, einen Anschlag auf den Zaren bei seiner Rückkehr aus der Krim an drei verschiedenen Strecken zu organisieren. Einige Mitglieder wurden sofort nach Moskau, Charkow und Odessa entsandt. Alle Attentate sollten mit Dynamit ausgeführt werden. Gleichzeitig bereitete das Komitee eine Sprengung des Winterpalastes vor; sie wurde aber selbst unter uns strengstens geheim gehalten und war einer Verwaltungskommission, drei aus der Mitte des Komitees gewählten Personen, anvertraut: Michailow, Tichomirow und Kwatkowski. Von letzterem hörte ich einmal die rätselhaften Worte: »Während hier diese Vorbereitungen getroffen werden, kann der persönliche Mut eines Einzelnen allem ein Ende machen.« Diese Andeutung bezog sich auf Chalturin {{[Chalturin]}}, der mir später einmal erzählte, zufällig sei er eines Tages im Winterpalast mit dem Zaren ganz allein gewesen, und ein einziger Hammerschlag hätte genügt, ihn auf der Stelle zu töten … Ich war mit den Attentaten durchaus einverstanden, gehörte aber nicht zu den mit ihrer Ausführung Betrauten. Da mir der Gedanke unerträglich war, nicht direkt mitzuwirken, sondern nur die moralische Verantwortung einer Sache zu tragen, für die das Gesetz die Genossen mit schwersten Strafen bedrohte, ersuchte ich die Organisation, mir auch irgendeine Funktion bei den Vorbereitungsarbeiten zu übertragen. Ich bekam einen Verweis, daß ich nur persönliche Befriedigung suche, anstatt es der Organisation zu überlassen, über meine[[Besitz]] Kräfte nach ihrer besten Einsicht zu verfügen. Trotzdem machte man mir ein Zugeständnis, indem man mich mit Dynamit nach Odessa sandte. Um die konspirative Wohnung, die ich mit Kwatkowski bewohnte, ›dicht zu halten‹, brachte ich meine[[Besitz]] Schwester Eugenie dort unter, die kurz vorher aus dem Gouvernement {{Rjasan}} nach Petersburg gekommen war und hier unter dem Namen Pobereschskaja {{[Pobereschskaja]}} lebte. Unglücklicherweise wußte ich nicht, daß meine[[Besitz]] Schwester sich aus Unerfahrenheit mit demselben Namen vorzustellen pflegte, unter dem sie gemeldet war. So verursachte ich indirekt das furchtbare Ende Kwatkowskis: Bei der {{Boguslawskaja}}, einer Hochschülerin, die von ihrem Verlobten denunziert worden war, fand man Exemplare der »Narodnaja Wolja«, und sie gab an, sie von der Pobereschskaja erhalten zu haben. Im Meldeamt wurde die Adresse festgestellt, und Eugenie wurde am 24. November 1879 verhaftet, mit ihr Kwatkowski. Er wurde 1880 hingerichtet, sie nach Sibirien verschickt. In der Wohnung fand man Dynamit, Zünder und einen Zettel, den Kwatkowski nicht mehr vernichten konnte, nur noch rasch zerknüllt in die Ecke warf. Die Gendarmen hoben den Zettel auf, konnten aber den Sinn nicht deuten. Es war die Skizze eines Planes, und eine Stelle war angekreuzt. Dieser Zettel kostete Kwatkowski das Leben: Nach der Explosion im Winterpalast am 5. Februar 1880 enträtselten die Gendarmen, daß der Zettel den Plan des Palastes darstellte und das Kreuz das Speisezimmer bezeichnete, dem die Sprengung galt, weil hier die ganze kaiserliche Familie gewöhnlich zusammenkam. – Ich war, mit der nötigen Menge Dynamit versehen, Anfang September nach Odessa abgereist. Dort traf ich Kibaltschitsch an, der mir erklärte, wir müßten uns beeilen mit der Einrichtung einer Geheimwohnung für Besprechungen, Experimente mit Zündern und die Aufbewahrung von Explosivstoffen. Dies wurde erledigt, wir zogen unter dem Namen {{Iwanizki}} ein. &&x Bald kamen Kolodkewitsch und Frolenko an, später die Lebedewa. Unsere Wohnung diente zu allgemeinen Zusammenkünften. Dort fanden alle Beratungen statt, dort wurde Dynamit aufbewahrt und Pyroxilin {{[Pyroxilin]}} getrocknet und die Zünder fertiggestellt; dort wurden die Induktionsapparate unter der Leitung von Kibaltschitsch geprüft – mit einem Wort: in ihr fanden alle Arbeiten statt. Dabei halfen ihm jedoch, und manchmal sehr wesentlich, auch andere, darunter auch ich. Zuerst mußte aber ein Plan aufgestellt werden, wie und an welcher Stelle die Eisenbahn zu unterminieren wäre. Man plante, nachts, während keine Züge einfuhren, das Dynamit unter die Gleise unmittelbar vor Odessa zu legen und nachher den Draht ins Feld zu ziehen. Das bedeutete aber viel Unbequemlichkeiten und Schwierigkeiten sowohl in der Vorbereitung, wie auch bei der Ausführung selbst. Wir kamen zum Resultat, es wäre das Beste, wenn jemand von uns die Stelle eines Bahnwärters bekäme, um von seinem Häuschen aus die Mine zu legen. Das war das Sicherste und Bequemste, was man sich vorstellen konnte. Ich übernahm es, eine solche Stellung zu beschaffen, Frolenko sollte sie antreten als verheirateter Beamter mit Lebedewa als seiner Frau. Anfangs hatte ich die Absicht, Frolenko mit Hilfe von Bekannten unterzubringen. Aber es war unmöglich, ihnen den eigentlichen Zweck anzugeben, es hätte sich auch kaum jemand zu einem derartigen Dienst hergegeben; das Ziel verschweigen hätte bedeutet, das Vertrauen der Leute mißbrauchen in einer Sache, die schwerste Verantwortung auf sie laden konnte. Überdies wäre eine solche Bitte seltsam und verdächtig erschienen. Deshalb beschloß ich, mich als unbekannte Bittstellerin an irgendeinen einflußreichen Beamten in der Direktion der Südwestbahn zu wenden und als Motiv meiner Bitte einen wohltätigen Zweck anzugeben. Nach Einholung von Erkundigungen begab ich mich zu dem künftigen Schwiegersohn des Odessaer Generalgouverneurs Graf Totleben {{[Totleben]}}, dem Baron Ungern-Sternberg {{[Ungern-Sternberg]}}. Zu jener Zeit wurde er auf der Hauptwache in ›Haft‹ gehalten zur Strafe für die bekannte Eisenbahnkatastrophe von {{Tiligul}}, der einige hundert Rekruten zum Opfer gefallen waren. Als ich erfuhr, daß er Besuche empfange, begab ich mich zu ihm. Als ich ihm meine[[Besitz]] Bitte unterbreitete, meinem Pförtner eine Wärterstelle zu geben, da seine Frau an Tuberkulose leide und frischer Luft außerhalb der Stadt bedürfe, erwiderte er, die Besetzung von Bahnwärterstellen hänge nicht von ihm ab, er könne daher nichts für mich tun. Da bat ich ihn um zwei Zeilen an den Streckendirektor. Als ich bemerkte, daß der Empfang, der mir von Ungern-Sternberg zuteil wurde, nicht dem üblichen Empfang glich, wie er Puppen-Damen der höheren Gesellschaft zuteil wird, beeilte ich mich, meinen[[Besitz]] Fehler in bezug auf das Kostüm auszutilgen, und fand mich bei dem Streckenchef ein, in Samt gekleidet, wie es einer Bittstellerin, die eine Dame ist, geziemt. Der empfing mich äußerst liebenswürdig und bat mich, ihm schon morgen meinen[[Besitz]] Schützling zu schicken. Vom Empfang kaum zurückgekehrt, warf ich die Pfauenfedern ab und füllte Frolenko einen Paß auf den Namen des Kleinbürgers Semjon Alexandrow {{[Semjon Alexandrow]}} aus. Andern Tags war er 11 km vor Odessa in einem Wächterhäuschen installiert. Genossin Lebedewa kam als seine Frau bald nach. Schon war zu ihnen das Dynamit gebracht, als unerwartet Goldenberg erschien mit der Anweisung, ihm einen Teil des Dynamits für Moskau zu geben, da dort zu wenig davon vorhanden sei, und die Linie Moskau – Kursk als Reiseroute des Zaren am ehesten in Betracht komme. Wir konnten uns nur fügen. Goldenberg blieb nur zwei Tage in Odessa, trotz aller Vorsicht wurde er auf der Rückreise verhaftet. Bald darauf erfuhren wir, daß der Zar nicht über Odessa fahren werde. Frolenko und Lebedewa verließen ihr Wärterhäuschen und dann Odessa. Später hörten wir, daß der kaiserliche Zug die Linie {{Losowaja}} – {{Sewastopol}} über Charkow ohne Zwischenfall passiert habe. Das Attentat, das dort von Scheljabow, Jakimowa und dem Arbeiter Okladski {{[Okladski]}} vorbereitet worden war, mißlang. Die Mine war unter das Eisenbahngleise, ihre Leitungsdrähte weit hinaus ins Feld gelegt worden, und bei der Durchfahrt des kaiserlichen Zuges befanden sich die handelnden Personen auf ihrem Posten, aber die Explosion erfolgte nicht, denn die Elektroden waren falsch verbunden und gaben keinen Funken. An einer dritten Stelle – auf der Linie Moskau – Kursk – wurden die Vorbereitungen unweit Moskaus von einem Hause am Bahnhof aus getroffen. Am 19. November, pünktlich zur festgesetzten Stunde, fuhren zwei hellerleuchtete Züge durch. Auf das erste Signal, das Perowskaja (die ›Wirtin‹ jenes Hauses) gab, verband Stepan Schirajew die Elektroden nicht, und ein Zug fuhr unversehrt durch; auf das zweite Signal hin entgleiste der zweite Zug. Aber der Zar war im ersten Zug gefahren, im zweiten fuhren Hofbediente. Das war ein Mißerfolg, aber die Tatsache an sich rief ungeheuren Eindruck in Rußland hervor und weckte Widerhall in ganz Europa. Im Herbst setzten unsere Verluste in Petersburg ein: Kwatkowski ging uns verloren, dann Schirajew und andere; dann fiel nach heldenhafter bewaffneter Verteidigung die Druckerei der »Narodnaja Wolja«; einer ihrer Arbeiter, ›das Vöglein‹, erschoß sich oder wurde zu Tode getroffen, die anderen wurden gefangen genommen. Mitte Dezember reiste Kibaltschitsch {{[Kibaltschitsch]}} aus Odessa ab, im Januar Kolodkewitsch, gleichzeitig mit ihnen fuhren auch die anderen einflußreicheren Personen fort. Die ganze Arbeit wurde mir und noch einigen in Odessa ansässigen Genossen übergeben. Meine[[Besitz]] Beschäftigung war Propaganda. Nachdem ich drei Monate hindurch vollkommen abgeschlossen von der Außenwelt in der konspirativen Wohnung zugebracht hatte, sehnte ich mich nach der Öffentlichkeit und einer ersprießlichen Tätigkeit. Die lange zurückgedrängte Energie verlangte nach Betätigung. Aber die Leute, auf die ich zunächst angewiesen war, die ich »erbte«, waren schlapp, feige und sahen ohne große Hoffnung in die Zukunft. Sie[[1]] alle mußten nachher als untauglich verworfen werden. Immerhin knüpfte ich nach Kibaltschitschs Abreise schnell viele Bekanntschaften an, unter denen Vertreter aller Gesellschaftsklassen waren. Ich begann Professoren, Generale, Gutsbesitzer und Studenten, Ärzte und Beamte, Arbeiter und Schneiderinnen kennen zu lernen, wo irgend möglich vertrat ich die revolutionären Ideen und verteidigte die Politik des »Volks-Willens«. Aber meine[[Besitz]] liebste Sphäre war die Jugend, die so heiß empfindet und sich so aufrichtig begeistert. Leider hatte ich unter den Studenten wenig Bekannte, und diese wenigen blickten pessimistisch auf ihre Umgebung und glaubten nicht, daß darunter revolutionäre Elemente seien. &&x &&am &&g1="Die_Explosion_im_Winterpalast" &&fa Die Explosion im Winterpalast &&fe &&ax In Petersburg nahmen unterdessen die Ereignisse ihren Lauf. Wie erwähnt, bereitete das Komitee gleichzeitig mit den Eisenbahnsprengungen bei Moskau, Alexandrowsk {{[Alexandrowsk]}} und Odessa noch einen Anschlag in Petersburg selbst vor, was mir Alexander Kwatkowski seinerzeit schon angedeutet hatte. Mit Zustimmung des Komitees hatte Stepan Chalturin, ein sehr intelligenter Arbeiter, von Beruf Tischler, Arbeit im Winterpalast angenommen, und zwar um einen revolutionären Akt gegen Alexander II. auszuführen. Nachdem sich Chalturin mit der Lage der Zimmer und den Verhältnissen im Palast, den Sitten und Gebräuchen der Bediensteten vertraut gemacht hatte, freundete er sich mit dem untersten Personal an, und als kunstfertiger und nüchterner Handwerker gewann er besonders die Zuneigung eines mit ihm im Palastkeller wohnenden Gendarmen, der in ihm einen erwünschten Schwiegersohn zu sehen begann. Nach diesen ersten Schritten begann Chalturin allmählich, in seinem Köfferchen vom Komitee geliefertes Dynamit in den Keller zu tragen. Als schon ein bedeutender Vorrat angesammelt war und weitere Transporte hätten ins Auge fallen und eine Durchsuchung hervorrufen können, wurde beschlossen, zu handeln. Am 5. Februar 1880, am Tage der Ankunft des Prinzen von Hessen, sollte Chalturin das Attentat vollbringen: den Speisesaal in die Luft sprengen, um unter den Trümmern den Zaren und seine Familie mitsamt dem Gast zu begraben. Pünktlich zur vorbestimmten Stunde verband er die Zündschnur mit dem Sprengkörper im Dynamit, brannte sie an und ging fort, um nicht zurückzukehren. Als die kaiserliche Familie den Speisesaal betrat, erfolgte eine furchtbare Explosion. Im Stockwerk über dem Keller, wo sich die Wache des Finnländischen Regiments befand, wurden 50 Soldaten getötet und verstümmelt. Die Dynamitmenge erwies sich aber als zu gering, um die höhere Etage mit dem Speisesaal zum Einsturz zu bringen. Von der Erschütterung bebte und bog sich der Fußboden, das Tafelgeschirr fiel klirrend zu Boden – die Zarenfamilie blieb unversehrt. Darauf wurde Graf Loris-Melikow {{[Loris-Melikow]}} zum Diktator ernannt; auf ihn schoß, ohne Erfolg, {{Mlodetzki}}, der drei oder vier Tage später auf dem Schafott mit dem Lächeln eines Helden starb. Alle diese Ereignisse, zusammen mit Gerüchten, die nach den Enthüllungen Goldenbergs über zwei weitere vorbereitete Attentate auftauchten, erschütterten die Gesellschaft aufs tiefste. Diese Gesellschaft, wenigstens ein Teil davon, litt unter dem Mangel an politischer Freiheit, war längst mit der Reaktion unzufrieden, war aber passiv und zum Kampfe gegen die Regierung unfähig, und so erblickte sie mit Bewunderung und Entzücken in der Partei den Kämpfer gegen den Despotismus der Selbstherrschaft. Bestürzt über die Verbannungen, die viele aus ihren Kreisen traf, betäubt von den Hinrichtungen, hatte die Gesellschaft angenommen, die ganze Energie der revolutionären Bewegung sei erschöpft; und da, plötzlich, mitten in dieser allgemeinen Bedrücktheit und Hoffnungslosigkeit, folgten nacheinander die unerhörtesten Ereignisse! Mit Chemie und Elektrizität als Gehilfen hatte der Revolutionär den Zarenzug gesprengt und war in die Kaisergemächer eingedrungen. Je träger, gedrückter die Öffentlichkeit war, desto bewundernswerter schien die Energie, Erfindungskraft und Entschlossenheit der Revolutionäre. Während wir selbst unter unseren Mißerfolgen litten, wuchs der Ruhm des Komitees, der Effekt seiner Taten blendete alle, berauschte besonders die Jugend. Es hieß allgemein: dem Komitee ist nichts unmöglich. Über dem Grandiosen der Ereignisse vergaß man die Mißerfolge. Einer der Führer der »Schwarzen Landaufteilung«, berauscht vom Eindruck, den der 5. Februar in Europa hervorgerufen, schrieb uns aus dem Ausland: »Das Auge der Welt auf sich gerichtet haben, heißt das nicht schon siegen?« Diese Einstellung gegenüber dem Komitee und der Partei verstärkte sich fortwährend und erreichte ihren Höhepunkt am 1. März, als zu allen bisherigen Handlungen der Haupterfolg hinzukam; die Gesellschaft wartete nicht darauf, was die kaiserliche Macht gewähren, sondern darauf, was die revolutionäre Kraft nehmen werde. Ich muß hier natürlich bemerken, daß ich bei allem Obengesagten nur jenen Teil der Gesellschaft meine[[Meinung]], mit dem wir Revolutionäre in Berührung kamen; da wir uns aber als alleinige Aufgabe und alleiniges Ziel das Eindringen in alle Kreise und Schichten gestellt hatten, da wir nicht nur in den Gouvernementsstädten, sondern auch in den Provinznestern Komplizen hatten, und da alle diese Genossen wiederum Freunde und Angehörige hatten und von einer ganzen Schicht Sympathisierender umgeben waren, denen sich gewöhnlich noch Leute anschlossen, die einfach ein bißchen liberal sein wollten, – so geschah es, daß wir am Ende überall Billigung fanden. Von diesem Standpunkte aus hatten wir das Recht, im Namen der Öffentlichkeit, der Gesellschaft zu sprechen; wir bildeten in einem gewissen Grade den Vortrupp eines Teiles dieser Gesellschaft; es kann sein, daß dieser Teil uns, die wir beständig darin verkehrten, größer schien, als er tatsächlich war. Dafür aber war dieser Teil höchstwahrscheinlich bedeutsamer, als die Leute des uns feindlichen Lagers es annahmen. Da wir wußten, daß diese Gruppe mit uns sympathisierte, fühlten wir uns nicht als eine von allen anderen Elementen des Staates isolierte Sekte, und das förderte bedeutend jene hartnäckige Verstocktheit, die wir bei unseren Handlungen an den Tag legten, und von der in den Prozessen die Staatsanwälte sprachen. Um diese Verstocktheit zu vernichten, hätte man die Atmosphäre der Unzufriedenheit vernichten müssen, von der wir umgeben waren; das einzige Mittel dazu aber war – die Unzufriedenen zufrieden zu machen. Die Attentate vom 2. April und 19. November 1879 und vom 5. Februar 1880 schufen eine derartige Stimmung, daß – hätten wir damals plötzlich unsere terroristische Tätigkeit aufgegeben – sofort Freiwillige oder sogar eine neue Organisation aufgetreten wären, die sich die Beseitigung des Zaren zur Aufgabe gestellt hätten. Neue Attentate waren völlig unvermeidlich, und das Vollzugskomitee unternahm sie. Im März oder April 1880 kamen nach Odessa zuerst Sablin, dann Sofja Perowskaja, um im Auftrag des Komitees, für den Fall der Durchreise des Zaren nach der Krim Minen zu legen. Ich bereitete gerade damals einen Anschlag gegen den Leiter der Kanzlei des Grafen Totleben, den Staatssekretär Panjutin, vor. In Panjutins Händen ruhte die Leitung der inneren Politik des Totleben unterstellten Gebietes. Er war bei Murawjow {{[Murawjow]}}, dem Henker von Polen, in die Schule gegangen und war der Schrecken Odessas. Zur Zeit des Prozesses der 28, von denen 5 am Galgen endeten, nahm er eine radikale Säuberung der Stadt vor. Wahllos wurden Beamte der Stadtverwaltung, Lehrer, Schriftsteller, Studenten, Staatsangestellte und Arbeiter verhaftet und verbannt. Nirgends ging man so willkürlich, brutal und übereilt vor, so daß oft Personen gleichen Namens oder Verwandte irrtümlich büßen mußten. Seinerzeit waren in der »Narodnaja Wolja« (Volks-Wille) einige Taten dieses »Helden« veröffentlicht worden. Sein Verhalten war roh, die Angehörigen der Verbannten mußten in seiner Kanzlei erniedrigende Szenen erleiden. Als die schwangere Frau eines Verhafteten ihr Schluchzen nicht unterdrücken konnte, schrie er sie an: »Machen Sie[[1]], daß Sie[[1]] wegkommen, Sie[[1]] lassen sich womöglich noch einfallen, hier zu gebären!« Es genügt zu sagen, daß im Sommer 1880, als Totleben nach Wilna versetzt wurde, der Graf, der, wie es hieß, in Petersburg einen Verweis bekommen hatte, weil er in seiner Tätigkeit als Generalgouverneur sich »päpstlicher als der Papst« gezeigt hatte, – daß dieser Graf auf dem Bahnhof in Anwesenheit der ganzen ihn begleitenden Persönlichkeiten an Panjutin den Vorwurf richtete, er habe sein Vertrauen mißbraucht und ihn mit der Gesellschaft in Konflikt gebracht. Nach der Abreise Totlebens aus Odessa wurde die Mehrheit der administrativ Verschickten zurückgebracht. &&x Gegen diesen Panjutin wollte ich die Waffe der Partei kehren. Zu dem Zweck wurde zunächst in der Sofiskajastraße {{[Sofiskajastraße]}}, wo sich die Kanzlei Panjutins befand, jemand einquartiert, der die Persönlichkeit und die Lebensweise Panjutins zu studieren hatte. Das führte aber zu nichts, denn keiner von uns wußte, wie Panjutin aussah. Kurz darauf wurde er mir von einem jungen Menschen gezeigt, von dem ich überdies Panjutins üblichen Weg erfuhr, so daß, wenn ich zu einer bestimmten Stunde auf die Straße ging, ich fast täglich die Möglichkeit hatte, seine dicke Figur in Begleitung von zwei Spitzeln zu sehen. Der eine Spitzel ging neben ihm, der andere folgte in einem Abstande von 3 bis 4 Schritten. Es fand sich jemand, der die Sache durchführen wollte; er sollte Panjutin auf seinem Spaziergang erdolchen. Ort und Zeit für das Attentat waren schon festgesetzt; um dem Mörder die Möglichkeit zum Verschwinden zu geben, gedachte ich, ein Pferd bereit zu halten. Die Ankunft Perowskajas mit dem Auftrag des Komitees zwang mich, den ganzen Plan aufzugeben. Perowskaja brachte einen Brief an einen Arbeiter »Wassili« {{[Wassili]}} mit; man sollte ihn zum Attentat heranziehen. Dieser Wassili war jener Merkulow {{[Merkulow]}}, der später in Odessa alle ihm bekannten Arbeiter und unseren Genossen Swedenzew {{[Swedenzew]}} verriet und im Prozeß der 20 seine Kameraden belastete. Dieser Verräter, der zum Schein 20 Jahre Zwangsarbeit erhielt, wurde im Jahre 1883 nach Charkow geschickt, um mich dort zu fangen. Ich hatte noch vor Perowskajas Ankunft Bekanntschaft mit diesem Schuft angeknüpft, um bei ihm den Steindruck zu erlernen. Sablin und Perowskaja erschienen mit dem fertigen Plan des Attentats. Vor[[Präposition]] allen Dingen galt es, die Straße festzustellen, die für die Fahrt des Zaren vom Bahnhof zum Hafen am meisten in Betracht käme. In dieser Straße sollten sie als Ehepaar einen Laden aufmachen. Von diesem Laden aus sollte die Mine bis unter den Fahrdamm getrieben werden. Das Technische sollte Grigori Issajew {{[Grigori Issajew]}} leiten, der bald darauf mit Jakimowa nach Odessa kam. Die Perowskaja brachte kein Geld mit: sie sollte zusammen mit uns allen einen Voranschlag der Ausgaben machen und ihn dem Komitee vorlegen, das die gewünschte Summe schicken wollte. Wir rechneten, daß nicht weniger als 1000 Rubel erforderlich sein würden. Ich schlug vor, das Komitee wissen zu lassen, daß man das Geld nicht brauche, da ich mich verpflichtete, die Mittel zu beschaffen, die zur Ausführung des Attentats erforderlich wären. Ich übergab der Perowskaja nach und nach 900 Rubel, die zur Miete des Ladens, zur Anschaffung von Kolonialwaren, für Bohrwerkzeuge, zum Unterhalt der Beteiligten und für ihre Flucht verwandt wurden. Sofort wurde zur Arbeit geschritten; die Zeit drängte, man erwartete den Zaren im Mai, es war schon April. Dabei konnten wir nur nachts arbeiten, da die Mine nicht von den Hinterräumen ausging, sondern vom Laden, wo tags Kunden aus- und eingingen. Die Arbeit erwies sich als sehr mühselig. Es war Lehmboden, in den der Bohrer schwer eindrang. Endlich waren wir unterm Pflaster angelangt, der Bohrer stieß zur Oberfläche durch. Da geschah es, daß unserem Grigori Issajew durch unvorsichtige Handhabung der Sprengkapseln mit Explosivquecksilber drei Finger weggerissen wurden. Er ertrug es stoisch, wir aber waren außer uns; er mußte ins Krankenhaus. Da wir fürchteten, die Explosion könnte die Aufmerksamkeit der übrigen Hausbewohner auf uns gelenkt haben, trugen wir alles (Dynamit, Quecksilber, Draht usw.) aus seiner in meine[[Besitz]] Wohnung. Wir hatten nun einen Arbeiter weniger. Die Erde hatten wir in einem Hinterzimmer aufhäufen müssen. Nach Beendigung der Arbeit wollten wir sie wegbringen mit Rücksicht auf eine eventuelle Besichtigung der Häuser vor der Durchfahrt des Zaren. Ich fand in meiner Wohnung einen Platz, wo man die Erde hinschaffen konnte; wir brachten sie zu mir in Körben, Paketen und Bündeln, die ich leerte, wenn die Hausbewohner abwesend und unsere Dienstboten mit einem Auftrag weggeschickt waren. Inzwischen waren die Gerüchte von einer Reise des Zaren nach {{Livadia}} verstummt. Bald darauf erhielten wir vom Komitee Weisung, die Arbeit einzustellen. Da schlugen wir vor, sie wenigstens dazu auszunutzen, Graf Totleben in die Luft zu sprengen. Das wurde abgelehnt mit der Begründung, man müsse sich diese Art des Attentats ausschließlich für den Zaren vorbehalten, dagegen erhielten wir Erlaubnis zu einem Attentat gegen den Grafen mittels irgendeiner anderen Methode. Sablin, ich und noch einige durch mich herangezogene Personen begannen nun, den Generalgouverneur genau zu beobachten. Wir hätten unsere Absicht sicherlich ausgeführt, wäre nicht Graf Totleben plötzlich von Odessa versetzt worden. Nach Totlebens Abreise mußten wir die Arbeit endgültig einstellen. Der Laden wurde geschlossen, in den unterirdischen Gang war schon vorher die Erde auf gleichem Wege, wie wir sie herausgeholt hatten, zurückgebracht worden. Ich half dabei, indem ich nachts die Säcke mit Erde in den Keller brachte, wo die Männer sie feststampften. Bald darauf reisten Sablin und Perowskaja ab, ihnen folgten Issajew und Jakimowa. Ich bat das Komitee, auch mich von Odessa abzuberufen und jemand zu schicken, dem ich die lokalen Verbindungen übergeben könnte. Ich motivierte meinen[[Besitz]] Wunsch damit, daß ich, fast ein Jahr in der Provinz, weitab vom Zentrum der Organisation, mich der allgemeinen Arbeit entfremdet fühle; außerdem wollte ich in Petersburg über die von mir in diesem Zeitraum geleistete Arbeit Bericht erstatten und die Fortsetzung der Arbeit beraten. Im Juli fuhr ich von Odessa nach Petersburg, ohne die Ankunft meines Nachfolgers abzuwarten. – Trigoni {{[Trigoni]}} war dazu bestimmt worden. Gleichzeitig mit mir reiste auf Einladung aus Petersburg Wassili Merkulow ab. Unangenehm ist es, daran zu denken, wie dieser Verräter sich damals augenscheinlich ziemlich freundschaftlich zu mir verhielt: nach der Ankunft in der Hauptstadt traf er mich mehrmals durch Vermittlung von Personen, die zu ihm geschäftliche Beziehungen hatten. Ich kam dann jedesmal zu ihm in einen Garten, weil zu dieser Zeit das Wetter noch warm war. Er war aufbrausend und ewig unzufrieden, schimpfte beständig auf die Intellektuellen und lobte die Arbeiter und das Werkleben. Wir vergaben ihm gern eine gewisse Erbitterung, da wir sie bei einem Proletarier, der sein Leben in Not verbracht hatte und alles Herrschaftliche haßte, völlig natürlich fanden. Für seinen einzigen Fehler hielten wir seine Eigenliebe, die zu schonen wir uns bemühten. &&x In Petersburg, wo man mich wegen meiner eigenmächtigen Abreise mit einer Rüge empfing, wurden um diese Zeit neue Vorbereitungen zu einem Attentat auf Alexander II. in der {{Gorochowaja}} an der {{Kamennybrücke}}, einer der Hauptverkehrspunkte Petersburgs, getroffen. Einzelheiten darüber wußte ich damals nicht. Die ganze Angelegenheit lag in den Händen der Verwaltungskommission und wurde, ebenso wie damals der Anschlag im Winterpalais, strengstens geheim gehalten. Ich wußte nur das eine, daß eine Explosion bei der Vorbeifahrt des Zaren vorbereitet werde, und zwar diesmal unter einer Brücke, vom Wasser aus. Im Oktober 1880 wurde Alexander Michailow verhaftet – dieser unersetzliche Hüter, dieser ›gute Geist‹ unserer Organisation, dessen Wachsamkeit auch nicht die geringste Kleinigkeit, die unsere Sicherheit betraf, entging. Ein junges Mitglied weigerte sich, im photographischen Atelier {{Alexandrowski}} am Newski-Prospekt, wo die Verhafteten gewöhnlich für die Polizei photographiert wurden, dort von uns bestellte Kopien von Bildern bereits verurteilter Genossen abzuholen. Da ging, gereizt durch die Ablehnung, Michailow selber hin. Im Atelier war man bestürzt; nur einer der Angestellten benutzte diesen Moment und machte eine Bewegung zum Halse hin, um Michailow die drohende Gefahr anzudeuten. Aber als Michailow wegeilte, packten ihn auf der Treppe die ihm seit langem auflauernden Spitzel. Für uns war Alexander Michailow ein unersetzlicher Genosse. Er war sozusagen das allsehende Auge der Organisation, der Wächter der Disziplin, die bei jedem revolutionären Regime ja so unentbehrlich ist. Viel Unglück wäre uns erspart worden, wäre er in unserer Mitte geblieben. Mit fanatischer Hingabe an die Revolution verband er Energie, Beharrlichkeit, bemerkenswerte Gewandtheit und eine solche Vorsicht, daß selbst die feigsten Leute unter seiner Leitung sich völlig sicher fühlten. Ein talentvoller Organisator und guter Menschenkenner, war er pedantisch, konsequent und unerbittlich in der Einhaltung organisatorischer Grundsätze. Streng in den Anforderungen an sich, stellte er das Interesse der Sache über alles und verlangte, daß der Revolutionär alle menschlichen Schwächen vergessen, alle persönlichen Neigungen aufgeben müsse.. »Wenn die Organisation mich beauftragen würde, Tassen zu waschen,« sagte er mir einmal im Gespräch, »so würde ich das mit demselben Eifer verrichten wie die interessanteste geistige Arbeit.« In diesem Sinne bekämpfte er scharf die Ansicht, daß es unproduktive, ›niedere‹ Parteiarbeiten gebe; seines Erachtens war alles, was für die Organisation geschehen mußte, wertvoll genug, um es freudig auszuführen. Solch ein geschlossener Charakter mußte einen ungeheuren Einfluß ausüben, auf die Organisation wie auch auf jene, die außerhalb standen; seine Autorität war gleich groß unter den Genossen wie unter den Außenstehenden. Der enge Rahmen des russischen Lebens hinderte ihn, seine Kräfte im großen Maßstabe zu entfalten und eine bedeutende Stelle in der Geschichte einzunehmen; im revolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts wäre er ein Robespierre {{[Robespierre]}} geworden. – Im Herbst 1880 und Anfang 1881 konzentrierte unsere Partei ihre Kräfte auf Propaganda- und Organisationsarbeit. In jener Zeit wurden zahlreiche Verbindungen mit der Provinz angeknüpft, lokale Gruppen organisiert und ein eingehender Aktionsplan in einzelnen Orten ausgearbeitet; Agenten des Komitees bereisten die verschiedenen Gebiete oder wurden zu dauerndem Aufenthalt an verschiedene Stellen des Zarenreichs abkommandiert. Alle vorangegangenen Ereignisse hatten den Boden genügend vorbereitet: Während die Organisation »Schwarze Aufteilung« so gut wie verschwunden war, wandten sich die allgemeinen Sympathien dem »Volks-Willen« zu, dank der intensiven Verbreitung unseres Organs, der mündlichen Agitation des Komitees, vor allem aber dank den aufsehenerregenden Kampfakten gegen das Zarentum, die für sich selbst sprachen. Von weit und breit erschienen Delegierte, um mit dem Komitee Verbindungen anzuknüpfen und ihre Dienste anzubieten; wobei sie baten, ihnen Agenten zur Organisierung lokaler Mitgliedschaften zu schicken. Natürlich versäumte das Komitee nicht, sich diese günstige Stimmung zunutze zu machen; es erntete nun die Früchte seiner Mühen und Opfer. Dieser sich allenthalben regende Drang zu Betätigung und Zusammenschluß, zu aktivem Kampf gegen die Regierung war der Ausdruck jener ungeheuren Erregung der Geister, die als Folge der Tätigkeit des »Volks-Willens« weite Schichten der Gesellschaft ergriffen hatte. Tapferkeit ist ebenso ansteckend wie panischer Schreck; durch ihre Energie und ihren Mut zog die Organisation die lebendigen Elemente an sich, und selbst die Furcht vor dem Tode schien verschwunden. Die Forderung, den Zaren zu töten, wurde immer lauter; die Politik des Ministerpräsidenten Graf Loris-Melikow {{[Loris-Melikow]}} konnte niemand täuschen, dem Wesen nach änderte sie nichts in der Beziehung der Regierung zu Gesellschaft und Partei; der Graf ersetzte nur die groben Formen durch feinere, aber er nahm mit der einen Hand wieder, was er mit der anderen gab. So z. B. ließ er einen Teil der administrativ Verbannten zurückkehren, während er gleichzeitig aus Petersburg zahlreiche neue Opfer verbannte. Auf seinen Befehl wurde das Los der zu Zwangsarbeit Verurteilten noch verschlimmert, er entzog ihnen unter anderem das für sie so kostbare Recht der Korrespondenz mit den Angehörigen. Die allgemeine Stimmung unter den Revolutionären war für Fortsetzung des Terrors; man forderte die Hinrichtung des Zaren wie seines heuchlerisch-liberalen Vertrauten. Während die Mehrzahl der Beauftragten des Komitees mit Propaganda und Organisation beschäftigt waren, arbeiteten seine Techniker unermüdlich an der Vervollkommnung der Bomben; man wollte sie als Hilfsmittel bei zukünftigen Attentaten verwenden neben den Minen, die bisher versagt hatten. In jene Glanzperiode der Tätigkeit des Vollzugskomitees fällt auch die Gründung der Militärorganisation des »Volks-Willens«. Die Erkenntnis, daß es notwendig sei, sich in der Armee Anhänger zu werben, nicht in der Form zufälliger Heranziehung einzelner Personen, die von der revolutionären Umgebung aufgesogen wurden, sondern auf dem Wege einer systematischen ›Anhäufung‹ von revolutionären Elementen im Heere selbst, für den bewaffneten Kampf mit der Zarenherrschaft, – solche Erkenntnis war in der Epoche der siebziger Jahre absolut nicht vorhanden. Nur der »Volks-Wille« leistete diese Arbeit unter dem Militär als eine der Aufgaben einer revolutionären Partei. Militärpersonen hatten schon im Prozeß der 193 figuriert und auch im Prozeß der 50; es waren das aber damals gewöhnliche Propagandisten gewesen, die ihr Berufsmilieu verlassen hatten und unter das Volk gegangen waren, zu den Bauern und den städtischen Arbeitern. Die »Narodowolzy«, die den politischen Kampf, den Sturz der Regierung und die Erringung von Freiheiten durch bewaffneten Aufstand in den Vordergrund gestellt hatten, mußten einsehen, daß ohne die organisierte Kraft der Armee auf keinen Sieg der militärisch ungeschulten Volksmassen zu rechnen sei. Die Agenten des Vollzugskomitees begannen daher, Verbindungen mit den Militärkreisen anzuknüpfen, um Kaders einer künftigen Militärorganisation zu formieren zur aktiven Unterstützung eines sei es organisiert oder spontan ausbrechenden Volksaufstandes. Welcher Art diese Organisation und ihr Verhältnis zum Exekutivkomitee sein sollte, das wurde damals noch nicht erörtert. Das wäre eine müßige Sache gewesen, solange noch kein bestimmtes Material zur praktischen Anwendung des Planes da war. Wichtig war, daß die Frage selbst überhaupt gestellt wurde, daß die revolutionäre Partei sich eine Stütze im Heere suchte, um in ihm einen Verbündeten zu haben, der ihr, wenn nötig, in einigen Fällen passiv, in anderen aktiv helfen würde. &&x Im Winter 1879{{/}}1880 wurden Beziehungen zu den Kronstädter {{[Kronstädter]}} Seeoffizieren durch den Leutnant Suchanow und zu den Petersburger Artillerieoffizieren Rogatschew {{[Rogatschew]}} und Pochitonow {{[Pochitonow]}} durch S Degajew {{[Degajew]}} angeknüpft, der bei der Festungsartillerie von Kronstadt gedient hatte und aus der Artillerieakademie wegen politischer Unzuverlässigkeit ausgeschlossen worden war. Der Boden für die Militärorganisation des »Volks-Willens« war schon in früheren Jahren vorbereitet worden; zum Teil durch Selbstbildungszirkel. So 1871{{/}}1872 in der Seeoffiziersschule, wo aus einem solchen Zirkel die Genossen Suchanow, Serebrjakew {{[Serebrjakew]}}, {{Lutzki}} und andere hervorgingen, die man später zum Scherz die »Walfischfänger« nannte. Die Mitglieder des Zirkels hatten nämlich – auf Grund einer Denunziation zu einer Erklärung über ihre »Geheimgesellschaft« gezwungen – der Direktion angegeben, sie hätten die Entwicklung des Fischereigewerbes in Nordrußland studiert. Nach einer anderen von mir gehörten Version planten die jungen Leute tatsächlich, sich mit der Walfischjagd zu befassen, um Geld für die Sache der Revolution zu schaffen. 1878 bildete sich selbständig eine Gruppe aus Seeoffizieren, die in Kronstadt unter den Matrosen Propaganda trieb. Der russisch-türkische Krieg hatte das Ungeheuerliche der russischen Zustände in ganzer Nacktheit aufgedeckt: den gewissenlosen Raub am Staatseigentum, das Fehlen jeder Vorsorge für die Soldaten, die man zerlumpt, hungrig, ohne ärztliche Hilfe ließ. Es war unvermeidlich, daß die Offiziere sich über die tieferen Ursachen Gedanken machten und nach Mitteln suchten, das Übel auszurotten. Bulgarien wurde vom türkischen Joch befreit und erhielt eine Verfassung, Rußland aber blieb nach wie vor in politischer Sklaverei. »Wir dachten,« sagte im Jahre 1884 vor Gericht Pochitonow, ein Teilnehmer an der Belagerung von {{Plewna}}, »daß man, anstatt ein fremdes Land zu befreien, an die Befreiung Rußlands denken sollte.« So gab es in den höheren Militäranstalten, besonders in der Kriegsakademie, eine Anzahl von Offizieren, die von sozialen Bestrebungen und von Freiheitsdrang beseelt waren: Rogatschew, Pochitonow, Butzewitsch {{[Butzewitsch]}} und manche andere. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Vollzugskomitees und Kronstadt begannen im Spätherbst 1879 und dauerten bis zum Frühling 1880. E A Serebrjakew schildert in seinen »Memoiren« sehr anschaulich den Eindruck, den Scheljabow in der ersten Geheimversammlung der Offiziere in Suchanows {{[Suchanows]}} Wohnung in Kronstadt auf sie machte. Zum ersten Male lernten hier Seeoffiziere einen hervorragenden Vertreter einer revolutionären Partei kennen, die sie bis dahin nur vom Hörensagen gekannt hatten. Die Klarheit des Programms des »Volks-Willens«, Scheljabows Beredsamkeit und seine innere Überzeugtheit, sein imposantes Äußere bezauberten die Zuhörer. An diesem Abend wurden sie zu glühenden Revolutionären, wenn auch die meisten eine Stunde zuvor von Politik nichts gewußt hatten und am nächsten Morgen mit einem Schauer an den Abend zurückdachten. Doch für einige – darunter Serebrjakew selber – blieb der Eindruck unauslöschlich. Im Herbst 1880 war der Anschluß Suchanows und seiner Kameraden so eng geworden, daß der Plan einer Militärorganisation vom Vollzugskomitee ausgearbeitet und dann mit Suchanow, Stromberg und anderen Vertretern der Offiziere beraten wurde. Die Grundzüge der Militärorganisation waren folgende: Sie[[1]] sollte wie die allgemeine Organisation von oben her aufgebaut werden, d. h. zentralistisch; organisatorisch sollte sie selbständig und von der übrigen Partei gesondert bleiben. An ihrer Spitze sollte ein Zentralkomitee aus Offizieren stehen, das vom Vollzugskomitee ernannt wurde und ihm untergeordnet blieb. Jeder Heeresangehörige, der der Organisation als Mitglied beitrat, mußte bestimmte Verpflichtungen übernehmen. Die ernsteste Verpflichtung war: auf Befehl des Vollzugskomitees hin sofort mit der Waffe in der Hand auf die Straße zu gehen und die unterstellten Truppenteile ebenfalls dazu aufzurufen. Dagegen sollten die Offiziere sich bis zum Zeitpunkt des aktiven Eingreifens nicht kompromittieren und daher keine revolutionäre Propaganda in ihren Truppenteilen betreiben. Für diese Aufgabe wurden von der Partei, auf Anforderung der Offiziere hin, Arbeiter bestimmt; die Offiziere bezeichneten nur die Soldaten, die am meisten für revolutionäre Einwirkung geeignet waren. Von Zeit zu Zeit sollten die Mitglieder unserer Offiziersgruppen Urlaub nehmen, um Gegenden zu bereisen, wo Verbindungen mit dem Militär vorhanden waren. Sie[[1]] sollten Hinweise von der Partei und Empfehlungen von den Mitgliedern der Militärorganisationen erhalten und mußten Bekanntschaften anknüpfen, geeignete Leute organisieren und die Verbindung der neu hinzugezogenen Offiziere mit dem militärischen Zentrum herstellen. Die örtlichen Parteigruppen des »Volks-Willens« waren verpflichtet, in jeder Hinsicht die Schaffung örtlicher Militärzirkel zu fördern. Hatte sich aber ein solcher Zirkel organisiert, so sonderte er sich von der Parteigruppe ab, wurde in die Parteiarbeit nicht einbezogen und mußte im Kontakt mit dem Militärzentrum arbeiten, ohne in Verbindung mit den Militärgruppen anderer Gegenden treten zu dürfen. Somit hatte sich die Partei aus zwei parallelen Organisationen zusammengesetzt: der zivilen und der militärischen, die untereinander nur durch ihre Zentren verbunden waren. Diese Einteilung war eine Vorsichtsmaßnahme, um die Heeresangehörigen nicht allen zerstörenden Zufälligkeiten auszusetzen, unter denen die Ortsgruppen der Partei litten; letztere wieder aufzubauen, war viel leichter, als etwa einen kompromittierten Militärzirkel. Die Verbindung zwischen den beiden Komitees wurde durch gegenseitige Delegierte hergestellt. Vom Januar 1881 an war der Vertreter der Militärorganisation im Vollzugskomitee Suchanow, die hervorragendste Persönlichkeit unter den Militärs, mit denen wir in Verbindung standen. &&x Das Militärkomitee setzte sich aus den Offizieren Suchanow, Stromberg und Rogatschew sowie aus Scheljabow und Kolodkewitsch vom Vollzugskomitee zusammen; nach Scheljabows Verhaftung trat ich an seine Stelle. Als das Statut bestätigt und die Zentrale gebildet worden war, organisierte Suchanow aus seinen Kollegen in Kronstadt eine Gruppe von Seeoffizieren, nachdem er sie durch eine Reihe von Versammlungen dazu vorbereitet hatte. Einige von diesen Seeoffizieren traf ich bei Suchanow in Petersburg, andere lernte ich in Kronstadt kennen, wohin mich im April 1880 Suchanow gebracht hatte. Jene Gruppe von Seeleuten bestand aus etwa 30 Männern. Es waren nicht nur Leute hinzugezogen worden, die ihre revolutionäre Weltanschauung schon völlig gefestigt hatten, sondern auch »Sympathisierende«. Beim Militär war der Maßstab für die Tauglichkeit dieser oder jener Person zum Organisationsmitglied ein anderer als bei uns. Entsprechend der Art unserer Tätigkeit, die vor allem eine propagandistische war, waren wir viel anspruchsvoller in bezug auf theoretische Vorbereitung der Kandidaten, auch war für die Aufnahme eine gewisse Erfahrung notwendig. Von den Offizieren verlangte man nichts dergleichen: sie alle waren Neulinge und sahen die Sache vereinfacht an. Viele kamen zu uns nicht aus fester Entschlossenheit, bis ans Ende zu gehen, nicht mit vollem Bewußtsein der schweren Verantwortung, die sie für ihre Verschwörertätigkeit zu tragen haben würden, sondern aus Kameradschaftlichkeit, Solidarität und jugendlichem Wagemut. Ihr Mangel an Vorsicht, die mangelnde Erkenntnis der Gefährlichkeit ihrer Lage war offensichtlich, sowohl bei Suchanow wie in noch stärkerem Maße bei seinen Kameraden. Suchanow zahlte dafür mit seinem Leben: er ging mit vollem Bewußtsein in den Tod, weil er nicht in die Illegalität hinübergehen wollte, obwohl er vor der Verhaftung gewarnt worden war. Das Gerücht, daß die Zünder für die Minen und Bomben des 1. März in Kronstadt im Marineamt entwendet worden seien, zirkulierte fast öffentlich in seinem Freundeskreis, und da muß man sich wundern, daß zusammen mit ihm nicht seine ganze Gruppe ins Verderben ging. Wenn die Angelegenheit auf die Verhaftung und die Versetzung {{Glasskows}} zur kaspischen Flotte und auf die administrative Verbannung Strombergs nach Sibirien beschränkt blieb, so geschah das ausschließlich dank dem Solidaritätsgefühl der Seeleute, auch solcher, die mit der revolutionären Bewegung nicht sympathisierten, die aber ihre Kameraden in jeglicher Weise deckten. Bald zählte die Militärorganisation 200 – später noch mehr – Heeresangehörige in den verschiedenen Städten und Garnisonen. &&x &&am &&g1="Beziehungen_zum_Ausland" &&fa Beziehungen zum Ausland &&fe &&ax Der Einfluß der westeuropäischen Auffassung der sozialen Frage auf die russische Revolutionsbewegung hatte seit 1876 völlig aufgehört; seit dieser Zeit war sie selbständig geworden, hatte ihre eigene Form und Richtung bekommen. Auch die Emigration hatte für das revolutionäre Rußland keine Bedeutung mehr; die literarische und Verlags-Tätigkeit wurde jetzt in Rußland selbst gepflegt und wurde hier zum Sprachrohr der neuen Strömungen und Lebensbedürfnisse. Regelmäßige Beziehungen der revolutionären Organisation zu den Emigranten rissen ab, sie erschienen der Partei der Tat als verlorene Glieder. So war die Lage bis zu den Attentaten des 19. November 1879 und 5. Februar 1880, die ganz Europa erschütterten und in allen Kreisen der westeuropäischen Gesellschaft ein ungeheures Interesse für die Tätigkeit der revolutionären Partei in Rußland erweckten. Bald darauf forderte die zaristische Regierung von Frankreich die Auslieferung Hartmans {{[Hartmans]}}, der im Auftrag des Vollzugskomitees unter falschem Namen das Haus erworben hatte, von dem aus der kaiserliche Zug am 19. November in die Luft gesprengt worden war. Wie sehr sich auch die russische Botschaft in Paris abmühte – das republikanische Frankreich blieb bei seiner Weigerung. Das war eine schallende Ohrfeige Europas für den Vertreter des Zaren, eine Niederlage der Regierung, ein Triumph der revolutionären Partei. An diesem Vorfall erkannte der »Volks-Wille«, von welcher Bedeutung die öffentliche Meinung Europas sein konnte. Wir beschlossen, im Auslande die Propaganda für unsere wirklichen Ziele und Bestrebungen zu organisieren und die Sympathien der europäischen Gesellschaft zu gewinnen, indem wir sie über die Innenpolitik des Zarenreichs aufklärten. Wir gedachten den Thron des Zaren, den wir im Innern des Landes durch Dynamit erschütterten, außerhalb der Grenzen zu diskreditieren und womöglich einen moralischen Druck, ja vielleicht sogar eine diplomatische Intervention gegen die in unserm finstern Reiche herrschende Reaktion herbeizuführen. Dazu konnten wir jene revolutionären Kräfte ausnutzen, die für die revolutionäre Arbeit in Rußland verloren gegangen waren, nämlich die Emigranten. Wir schlugen Hartman und Lawrow vor, als Bevollmächtigte der Partei im Auslande eine Agitation im Geiste des Programms des »Volks-Willens« zu entfalten. Als Mittel dazu konnten Vorträge, Versammlungen, hauptsächlich aber Broschüren, Flugblätter und Artikel dienen, die die ökonomische und politische Lage in Rußland darstellten. Hartman sollte zu diesem Zwecke die Großstädte Amerikas bereisen. Alle hervorragenden Persönlichkeiten der westeuropäischen sozialistischen Welt hatten ihm Unterstützung zugesagt; an einige von ihnen, wie z. B. an Karl Marx und {{Rochefort}}, wandte sich das Vollzugskomitee schriftlich mit der Bitte, Hartman als unserem Vertreter bei der Organisierung der Propaganda gegen den russischen Despotismus zu helfen. Der Verfasser des »Kapitals« antwortete mit seiner Zusage; gleichzeitig schickte er uns sein Porträt mit einer anerkennenden Widmung. Nach Hartmans Schilderung zeigte Marx den Brief des Komitees mit Stolz seinen Freunden und Bekannten. Aber nicht nur Karl Marx äußerte diese Hochachtung für die russische revolutionäre Bewegung, die Aufmerksamkeit war allgemein, die Zeitungen stürzten sich heißhungrig auf die Nachrichten aus Rußland, und die Ereignisse der russischen Revolutionschronik galten als die pikantesten Neuigkeiten. Um die Unmasse von Falschmeldungen und Entstellungen zu unterbinden, die die europäische Presse ihren Lesern über unsere Bewegung vorsetzte, mußten unsere ausländischen Agenten mit Korrespondenzen über alle wichtigen Vorgänge in der russischen Revolutionswelt regelmäßig beliefert werden. Das Komitee wählte mich im Herbst 1880 zum Sekretär für Auslandsbeziehungen. Ich führte den Briefwechsel mit Hartman, schickte ihm Artikel, Lebensdarstellungen und Lichtbilder der Hingerichteten und Verurteilten, alle revolutionären Veröffentlichungen usw.. Meine[[Besitz]] letzte Korrespondenz, die ich ihm schickte, betraf die Vorgänge des 1. März, sie enthielt den offenen Brief des Komitees an Alexander III. und eine Zeichnung von der Hand Kobosews {{[Kobosews]}}, die das Innere des ›Käsegeschäfts‹ zeigte. &&x Noch während Alexander Michailow in Freiheit war, mietete das Vollzugskomitee einen Laden in einer der Straßen Petersburgs, in der Sadowaja, die der Zar oft bei seinen Fahrten passierte. Vom Laden aus sollte die Mine gelegt werden. Dort sollte ein Käsehandel eröffnet werden. Für die Rolle des Inhabers schlug ich meinen[[Besitz]] alten Freund Juri Nikolajewitsch Bogdanowitsch {{[Nikolajewitsch Bogdanowitsch]}} vor. Er war zwar nicht in Petersburg, kam aber meiner Aufforderung, dorthin zu reisen, sofort nach. Da er ein sehr praktischer und geschickter Mensch war, wurde er mit der schwierigen Rolle des Käsehändlers betraut. Als seine Frau bezog Jakimowa mit ihm den Laden, und wir begannen an der Mine zu arbeiten. Im Januar 1881, als ich und einige andere Mitglieder des Komitees in der konspirativen Wohnung waren, die ich mit Issajew bewohnte, und die dem Vollzugskomitee zu Besprechungen diente, trat Issajew ein und legte vor uns auf den Tisch ein kleines Bündel dünner Zettel: »Von Netschajew! – aus der Peter-Paulsfestung.« Diese Worte, von Issajew ganz ruhig gesprochen, machten auf uns einen überwältigenden Eindruck. Aus der Festung! Von Netschajew! Ich war neunzehn Jahre alt, als ich in einem entlegenen Winkel des Kasaner Gouvernements zum ersten Male diesen Namen hörte; ich las damals in den Zeitungen den Prozeßbericht. Der Mord an Iwanow {{[Iwanow]}} (wegen angeblichen Verrats) war in seiner ganzen Tragik beschrieben und machte auf mich einen unauslöschlichen Eindruck, alles andere ließ mich unberührt und blieb mir unverständlich. Zum zweiten Male hörte ich den Namen Netschajews im Jahre 1872 in Zürich. Wegen politischen Mordes als Emigrant in der Schweiz lebend, war Netschajew von einem Mitglied der Internationale, dem Polen {{Stempkowski}}, verraten und auf Verlangen der russischen Regierung ausgeliefert worden. Die öffentliche Meinung der Schweiz war gegen Netschajew; die Agitation, die von einer Emigrantengruppe zu seinen Gunsten unternommen wurde, blieb erfolglos; eine von ihr in deutscher Sprache veröffentlichte Broschüre, in der der politische Charakter seiner Tätigkeit auseinandergesetzt wurde, fand keine weite Verbreitung; die Meetings, die man zum gleichen Zwecke einberufen hatte, waren schwach besucht, und als die Vertreter der Emigranten sich an die beiden stärksten Arbeiterorganisationen der Schweiz, den {{Grütli}}- und den Bildungsverein, um Schutz für das bedrohte Asylrecht wandten, da erwiderten beide Vereine, daß sie gemeine Mörder nicht schützten. Abgesehen davon war das Schicksal Netschajews durch die Tatsache der Verhaftung besiegelt. Eine Gruppe der studierenden Jugend – hauptsächlich Serben – beabsichtigten, Netschajew auf dem Wege zur Bahn zu befreien. Man nahm an, daß sich zu diesem Zweck eine Gruppe von 30 Menschen zusammenfinden würde; doch es kamen anstatt der nötigen 30 nur ein paar Mann; der Versuch, Netschajew zu befreien, soll trotzdem damals unternommen worden, jedoch mißlungen sein, da das Publikum mitgeholfen habe, Netschajew wieder zu ergreifen. Wie bekannt, wurde Netschajew zu 20jähriger Zwangsarbeit verurteilt. Formell war der Vertrag mit der Schweiz eingehalten worden: Netschajew war als Strafverbrecher verurteilt worden. Aber anstatt ihn dem Urteil gemäß nach Sibirien zu schicken, ließ man ihn spurlos verschwinden: niemand ahnte, was mit ihm weiter geschehen, ob er lebte oder tot war. So vergingen Jahre, bis jetzt, an diesem Januarabend des Jahres 1881, plötzlich sein Bild vor uns erstand, als er sich aus den Kasematten der Peter-Pauls-Festung an das Vollzugskomitee wandte. Doch wie hatten seine Worte aus dem Alexej-Vorwerk, wo er lebendig begraben war, den Weg zu uns gefunden? Als nach dem Prozeß der 16 Narodowolzy (Oktober 1880) Stepan Schirajew, Mitglied des Vollzugskomitees und Urheber des Attentats auf den kaiserlichen Zug, in die Festung gebracht wurde, setzte sich Netschajew mit ihm in Verbindung und beschloß, sich durch seine Vermittlung an die »Narodnaja Wolja« zu wenden. Durch einen ihm blind ergebenen Gendarmen schickte er an die Adresse eines Studenten, der ein Landsmann Schirajews und ein guter Bekannter Issajews war, einen Brief für das Vollzugskomitee. Dieser Brief trug einen streng sachlichen Charakter; keine Ergüsse, keine Sentimentalitäten, kein Wort von dem, was Netschajew durchlitten hatte und gegenwärtig durchlebte. Schlicht und sachlich warf er die Frage seiner Befreiung auf. Seitdem er im Jahre 1869 ins Ausland geflüchtet war, hatte die revolutionäre Bewegung vollkommen ihren Charakter geändert, sie war unermeßlich in die Breite gegangen, war permanent geworden und hatte drei Phasen durchgemacht: die utopistische Phase des »Ins-Volk-Gehens«, die realistischere der »Land und Freiheit«-Agitation und die darauffolgende der Wendung ins Politische, der Bekämpfung der Regierung nicht nur durch Worte, sondern durch Taten. Und Netschajew? Er schrieb wie ein Revolutionär, der soeben erst aus den Reihen der Kämpfer ausgeschieden ist und an seine in Freiheit gebliebenen Kameraden schreibt. Einen sonderbaren Eindruck machte dieser Brief – alles, was bisher als ein dunkler Fleck an der Persönlichkeit Netschajews gehaftet hatte, das unschuldig vergossene Blut, die Erpressung von Geldmitteln, die Beschaffung kompromittierender Dokumente zu Erpressungszwecken – das ganze Lügengewebe im Namen des Zwecks, der die Mittel heiligt, – das alles war plötzlich verschwunden. Wir sahen einen Geist, der nach langen Jahren der Einzelhaft weder geschwächt noch verdunkelt war, einen Willen, den auch die ganze Last der grausamen Strafe nicht gebrochen hatte, eine Energie, die trotz der Mißerfolge nicht geschwächt war. Wir lasen in der Sitzung des Komitees das Schreiben Netschajews, und uns alle ergriff einmütig der Gedanke: ihn befreien! In den folgenden Briefen enthüllte Netschajew nach und nach vor uns seine Tätigkeit in den verflossenen Jahren. Obwohl er in seiner Kasematte an Händen und Füßen gefesselt lag, arbeitete er doch rastlos. Tag für Tag war er bemüht, das feindliche Milieu, das ihn umgab, unter seinen Einfluß zu bringen. Er studierte den Charakter jedes einzelnen Gendarmen, jedes Soldaten, der ihm als Wächter beigegeben wurde. Er beobachtete, verglich, stellte zusammen, um für jeden eine besondere individuelle Art und Weise seelischer Beeinflussung auszuarbeiten. Er untergrub tagaus, tagein die Disziplin unter den untersten Dienstgraden, die ihn bewachten; er erschütterte in ihren Augen die Autorität ihrer Vorgesetzten, agitierte, propagierte, beeinflußte den Verstand und das Gefühl, zwang zu Eingeständnissen, bemächtigte sich des Willens der Leute; er nutzte den außergewöhnlichen Charakter und die Strenge seiner Haft aus, um seine Person mit einem mysteriösen Schein zu umgeben, der für die Zukunft etwas Besonderes versprach. &&x Auf diese Weise vermochte dieser ungewöhnliche Mensch dank seiner zähen, rastlosen Kleinarbeit, sich etwa 40 seiner Wächter unterzuordnen. Von ihnen hatte er allmählich alle Einzelheiten über die Einrichtung des Vorwerks und der Peterpaulsfestung, über ihr Dienstpersonal, dessen gegenseitige Beziehungen, die Dienstordnung, die Lage der Festung und der Insel, auf der sich damals das Vorwerk befand, erfahren. So hatte er langsam eine Menge von unschätzbaren psychologischen und materiellen Daten gesammelt, die ihn in die Lage setzten, einen Plan für seine Befreiung auszuarbeiten und an dessen Verwirklichung zu gehen, nachdem er ihn vorher jahrelang in seinem Grabe vorbereitet hatte. Getreu seinen alten Traditionen, meinte Netschajew, daß seine Befreiung unter komplizierten, mystifizierenden Umständen stattfinden müsse. Seine Befreier sollten, um den militärischen Dienstgraden zu imponieren, in ordensgeschmückten Militäruniformen erscheinen; sie sollten erklären, daß ein Staatsumsturz vollzogen, Kaiser Alexander gestürzt und sie im Namen des neuen Kaisers dem Insassen des Vorwerks bekanntzugeben hätten, daß er wieder frei sei. All dieses Kulissenwerk war natürlich nicht etwa bindend für uns, sondern nur für Netschajew charakteristisch. Als die Frage seiner Befreiung in der Sitzung des Komitees aufgeworfen wurde, beschlossen wir ohne weiteres, die Durchführung dieser Aufgabe der Militärorganisation anzuvertrauen. Jedoch waren wir darüber einig, das ganze Unternehmen bis zum Frühling hinauszuschieben, um die Festung durch Boote und nicht über das Eis zu erreichen. Außerdem hielt es das Komitee für unmöglich, das Attentat gegen Alexander II. aufzuschieben. Da dessen Vorbereitung die Konzentration aller Kräfte erforderte, sahen wir uns genötigt, Netschajew mitzuteilen, daß wir an das Werk seiner Befreiung erst dann herantreten könnten, wenn das Unternehmen gegen den Zaren zu Ende geführt sein würde. Entgegen den späteren Behauptungen in der Literatur überließen wir keineswegs Netschajew die Entscheidung dieser Frage. Jeder Aufschub der Vorbereitungen hätte das Attentat auf den Zaren mit sicherem Mißerfolg bedroht. Das Komitee teilte Netschajew seinen Beschluß mit, und Netschajew antwortete, er werde warten. Die Verbindung, die mit Netschajew angeknüpft war, wurde eine Zeitlang durch Issajew aufrechterhalten, er traf gewöhnlich an einer bestimmten Stelle der Straße einen der Soldaten aus der Festung, und der übergab ihm den von Netschajew mit Hieroglyphen eigener Erfindung ausgefüllten Zettel. Am 1. April wurde Issajew verhaftet, die Verbindung riß für eine Zeitlang ab und wurde dann endgültig abgebrochen nach dem Verrat Mirskis {{[Mirskis]}} (des Attentäters auf den Gendarmeriechef Drenteln), der gleichzeitig mit Netschajew im Alexej-Vorwerk der Peter-Paulsfestung gefangen gehalten wurde. Die Folge dieses Verrats war die Verhaftung der Gendarmen und Soldaten, die Netschajew ergeben waren; 23 von ihnen wurden vor Gericht gestellt und in Strafbataillone geschickt, andere gemaßregelt. Netschajew selbst starb im Alexej-Vorwerk, aber die näheren Umstände seines Todes blieben bis zur Revolution in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Erst auf Grund der Dokumente im Festungs-Archiv konnte festgestellt werden, daß er am 21. November 1882 im Vorwerk gestorben war, ohne daß die vielen Narodowolzy, die damals dort schon gefangen saßen, je die Möglichkeit gefunden hätten, in Verbindung mit ihm zu treten. Er ist zweifellos, wie mancher andere Bewohner dieser finsteren Kasematte, Hungers gestorben: die Ernährung war, nachdem die Narodowolzy dort untergebracht worden waren, so gering, daß nach dem Zeugnis von Bogdanowitsch nach Verlauf eines Monats die Gefangenen nicht mehr imstande waren zu gehen, ohne sich an den Wänden festzuhalten. Netschajew war eine ganz außerordentliche Figur in der Geschichte der revolutionären Bewegung Rußlands, ein eigenartiger Typus, desgleichen wir nicht wieder begegneten. Wie peinlich auch im Verlauf seines Lebens, seine skrupellose Taktik nach der Regel »der Zweck heiligt die Mittel« war, so kann man doch nicht umhin, seinen eisernen Willen und seinen stählernen Charakter zu bewundern und die Uneigennützigkeit seines ganzen Handelns anzuerkennen. Keine Spur von persönlichem Ehrgeiz war in ihm, er war der revolutionären Sache aufrichtig und grenzenlos ergeben. Er übte so durch seine ganze Persönlichkeit, besonders auf unkomplizierte Charaktere, eine ungeheure, faszinierende Wirkung aus. Die Soldaten, die infolge ihrer Verbindung mit Netschajew verurteilt und später nach Sibirien verbannt worden waren, gedachten nach dem Zeugnis aller jener Verbannten, die sie später kennen lernten, Netschajews, der ihr Leben zugrunde gerichtet hatte, nie mit einem Vorwurf. Sie[[1]] alle sprachen von ihm mit einem ganz besonderen Gefühl, das an Angst grenzte, und sagten, daß sie im Banne seines Willens gestanden hätten. »Es war gar nicht daran zu denken, etwas nicht zu tun, was er einem befahl«, sagte einer von ihnen, »es genügte, wenn er einen nur ansah.« Man erzählte, daß die Soldaten und Unteroffiziere während der Gerichtsverhandlung von Netschajew wie Menschen gesprochen hätten, die noch immer im Banne der Angst vor ihm standen. Sie[[1]] nannten nie seinen Namen; er wurde immer als »er« oder als Nr. 5 bezeichnet. Aber auch im fernen Sibirien war der gewaltige Einfluß dieses Gefangenen, der ihre Seelen sich unterjocht hatte, immer noch nicht geschwunden, weder schwere Erlebnisse, noch Zeit und Entfernung vermochten die Macht dieser Hypnose zu zerstören. Am 26. Januar wurden Kolodkewitsch und Barannikow, zwei unserer liebsten Kameraden, verhaftet. In der Wohnung Barannikows fiel auch noch Kletotschnikow in die Hände der Polizei – dieser unschätzbare Schutzgeist unserer Organisation, der zwei Jahre lang über ihre Sicherheit gewacht hatte. Wir hatten ihn aufs Sorgfältigste gehütet und jeden seiner Schritte mit strengster Konspiration umgeben. Eine Person, die vollständig legal war, die Schwester des Komiteemitgliedes Oschanina, Natalie Olowennikowa {{[Natalie Olowennikowa]}}, die zu diesem Zweck von jeder Beteiligung an der revolutionären Tätigkeit ausgeschlossen worden war, hielt die Verbindung mit Kletotschnikow aufrecht; zu ihr allein durfte er kommen und sie übermittelte alle für die Partei wichtigen Informationen: über bevorstehende Verhaftungen, Haussuchungen, über Spitzel, kurz über alles, was ihm dank seiner Tätigkeit in der III. Abteilung der Kanzlei Seiner Majestät bekannt wurde. &&x Aus irgendeinem mir unbekannten Grunde wurde diese Ordnung nicht eingehalten, und Kletotschnikow begann anstatt der legalen Olowennikowa den illegalen Barannikow zu besuchen, der an allen unseren gefährlichen Arbeiten teilnahm. Da er kurzsichtig war, konnte es geschehen, daß er die Sicherheitszeichen nicht sah, mit denen wir gewöhnlich unsere Wohnungen versahen. So ging er in die Falle, die ihm im Zimmer Barannikows gestellt worden war. Mit zwanzig unserer Genossen verurteilt, starb Kletotschnikow später im Alexej-Vorwerk den Hungertod. Interessant ist noch, auf welche Weise Kletotschnikow den Posten eines Sekretärs der III. Abteilung erlangt hatte. Nach seiner Ankunft in Petersburg aus der Krim bot er dem Komitee seine Dienste an. Da es aber schwer war, für einen Neuangekommenen sofort eine entsprechende Arbeit zu finden, so war er längere Zeit zu einer für ihn sehr peinlichen Tatenlosigkeit verurteilt. Er hatte sich ein Zimmer gemietet und merkte nachträglich, daß seine Wirtin als geheime Agentin der III. Abteilung tätig war. Sie[[1]] lud ihn öfters zu sich zu einer Partie Karten ein. Bei näherer Bekanntschaft erzählte er ihr, daß er arbeitslos sei und sich um eine Stelle bemühe. Da sprach sie ihm von ihren Verbindungen mit der III. Abteilung und bot ihm an, ihm behilflich zu sein, dort eine Stelle zu finden. Kletotschnikow erzählte Alexander Michailow davon und beriet mit ihm, ob er diesen Zufall nicht ausnützen solle, um der Partei auf diese Weise nützlich zu sein. Alexander Michailow und das Komitee fanden, daß man die Gelegenheit ausnutzen müsse, und rieten Kletotschnikow, an seine Wirtin öfters kleine Summen zu verlieren, um sie sich desto geneigter zu machen. Es geschah so, wie Kletotschnikow es wollte. Er bekam eine Anstellung beim politischen Nachrichtendienst und leistete dadurch der Partei ungeheure Dienste. Unter anderem wußten wir im Herbst 1879 rechtzeitig von den bevorstehenden Massenhaussuchungen, bei denen auch eine Haussuchung bei dem Rechtsanwalt Bardowski {{[Bardowski]}} vorgesehen war. Das war einer der glänzendsten und treuesten Verteidiger in den politischen Prozessen (dem Prozeß der 50 usw.). Zweimal war ich vergeblich in seiner Wohnung, um ihn von der bevorstehenden Verhaftung zu unterrichten. Spät abends erst kam er heim, hinter ihm die Gendarmen. Hinter einem Schrank versteckt fand man ein Bündel Nummern der »Narodnaja Wolja«. Er und sein Wohnungsgenosse wurden verhaftet. Bardowski war ein hochgradig nervöser Mensch und litt an Schlaflosigkeit. Erschüttert von der Verhaftung verlor er 24 Stunden später den Verstand und blieb für immer geisteskrank; obgleich er bald darauf in Freiheit gesetzt wurde und seine Frau ihn mit aufopfernder Pflege umgab, vermochte man nicht, ihn zu retten. Sein Bruder, der Friedensrichter in Polen war, wurde im Jahre 1884 in Warschau als Mitglied der polnischen Partei »Proletariat« hingerichtet. – In der ersten Februarhälfte rief das Komitee seine Mitglieder zu einer Beratung zusammen. Es war die Frage zu erörtern, ob man gleichzeitig mit dem Attentat auf den Zaren den Versuch eines Aufstandes machen sollte. Die Mitglieder aus Moskau und den Provinzen sollten über die Erstarkung und Erweiterung der Gruppen und die Stimmung der breiten Massen Bericht erstatten und ihre Meinung äußern, ob es möglich wäre, mit diesen Kräften und unterstützt von den mit der Partei sympathisierenden Kreisen einen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung zu unternehmen. Die Antwort war negativ. Die Zahl der Mitglieder unserer Gruppen und jener, die mit uns unmittelbar verbunden waren, zeigte klar, daß unsere Kräfte zu gering waren, als daß ein offener Aufstand möglich gewesen wäre. Ein Versuch würde voraussichtlich so enden, wie im Jahre 1876 die Manifestation auf dem Kasaner Platz, die mit einer völligen Niederlage und körperlicher Mißhandlung der Teilnehmer ausging. &&x &&am &&g1="Der_1._März_1881" &&fa Der 1. März 1881 &&fe &&ax Am 14. Februar fuhr der Zar durch die Kleine Sadowaja nach dem Michael-Tattersall. Der Tunnel war um diese Zeit bereits fertig, aber die Mine noch nicht gelegt. Als wir davon erfuhren, waren wir über das langsame Arbeiten unserer Techniker außer uns. Die nächste Gelegenheit würde vielleicht einen Monat auf sich warten lassen. In der nächsten Sitzung beschloß das Komitee, alle Vorbereitungen bis zum 1. März zu Ende zu führen. Die Mine und die Bomben mußten zu diesem Termin fertig sein. Unsere Aktion umfaßte drei verschiedene Pläne; alle drei verfolgten das eine Ziel, das zum siebentenmal in Angriff genommen wurde; endlich mußte nun das Attentat ein Resultat zeitigen! Der Hauptplan bestand in einer Explosion von der Käsehandlung aus; von diesem Plan hatten nur die Mitglieder des Komitees Kenntnis; sollte diese Explosion nicht rechtzeitig eintreten, so sollten Ryssakow {{[Ryssakow]}}, Grinewitzki {{[Grinewitzki]}}, Timofej Michailow {{[Timofej Michailow]}} und Jemeljanow von beiden Ecken der Sadowaja Bomben werfen; sollte aber auch das aus irgendwelchen unvorhergesehenen Gründen mißlingen, dann sollte zuletzt Scheljabow sich mit dem Dolch auf den Zaren stürzen und die Sache zum Abschluß bringen. Seit diesem Beschluß lebten wir wie im Fieber. Seit fast 3 Monaten bestand unsere Käsehandlung im Hause {{Mengden}}. Bogdanowitsch und Jakimowa spielten ihre Rolle nach außen hin als die Inhaber des Ladens vorzüglich. Doch im Handel waren sie schwach, und die benachbarten Händler überzeugten sich bald, daß sie keine gefährlichen Konkurrenten waren. Um diese Zeit hatten wir wenig Geld, und der Käseankauf war gering. Wie gering unsere Geldmittel in dieser für uns so wichtigen Periode waren, beweist der Umstand, daß, als ich 300 Rubel für den Ankauf von Ware beschaffte, dieses Geld für uns ein Glück war. Das Aussehen des Ladens war sehr anständig; auf dem Ladentisch lagen allerlei Sorten Käse, nur die Käsetonnen waren leer; wir füllten sie mit der Erde, die wir aus dem Tunnel holten. Wir wußten nicht, wie es kam, aber die Polizei richtete plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf dieses Haus. Am Abend des 27. Februar verhaftete die Polizei Trigoni, der neben einigen anderen im Tunnel arbeitete und wahrscheinlich bespitzelt wurde, und Scheljabow, der gerade bei Trigoni war. Die Nachricht von diesem Unglück traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Suchanow brachte sie uns am Morgen des 28. Februar. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, daß die Polizei einem außerordentlich wichtigen Anschlag auf den Zaren auf der Spur sei und dabei wurde jener Stadtteil genannt, in dem sich der Käseladen befand. Bald kam auch Bogdanowitsch und erzählte, eine angebliche Sanitätskommission wäre dagewesen. Die Sache hing an einem Haar. »Was bedeutet diese Feuchtigkeit?« fragte der Polizeikommissar und wies auf die Spuren der Nässe, die neben einer der mit nasser Erde gefüllten Tonnen sichtbar waren. Zu Ostern habe ich Sahne vergossen, erwiderte ruhig Bogdanowitsch. Hätte der Kommissar in die Tonne gesehen, so würde er gewußt haben, was für eine Sahne das war! Im Hinterzimmer lag in allen Ecken Erde, die dem Tunnel entnommen war. Sie[[1]] war mit Koks und Stroh bedeckt, und eine Matte lag darüber. Die angebliche Sanitätskommission hätte bloß diese Dinge zu entfernen brauchen, und wir wären entdeckt worden. Aber alles ging glücklich vorüber, und da nichts Verdächtiges gefunden wurde, war der Laden, wie Bogdanowitsch sagte, gewissermaßen legalisiert. Das Werk, das wir mit so viel Mühe und übermenschlichen Anstrengungen aufgebaut hatten, das unseren fast zweijährigen Kampf zu Ende führen sollte, war in Gefahr, am Vorabend seiner Verwirklichung zusammenzubrechen. Alles konnten wir ertragen, nur das nicht! Nicht die persönliche Gefahr des einen oder anderen von uns war es, was uns so maßlos erregte. Unsere ganze Vergangenheit, unsere revolutionäre Zukunft, alles hatten wir auf diese Karte gesetzt, auf den 1. März; die Vergangenheit, in der wir 6 Anschläge auf den Zaren ausgeführt hatten, und die uns 21 Todesurteile eingetragen hatte, und die Zukunft – die helle und weite, die wir den kommenden Geschlechtern erobern wollten: dies alles stand für uns auf dem Spiel. Kein noch so eisernes Nervensystem wäre imstande, eine derartige Anspannung auf die Dauer zu ertragen. Und doch schien alles sich gegen uns verschworen zu haben; Kletotschnikow, unseren Schutz und Schirm, hatten wir verloren; der Käseladen war in größter Gefahr. Scheljabow, dieser tapfere Kamerad, der zur Leitung der Bombenwerfer bestimmt worden war und beim Attentat eine der verantwortlichsten Rollen spielen sollte, wurde am Vorabend des Attentats aus unserem Plan gestrichen; man mußte unverzüglich seine Wohnung von allem kompromittierenden Material säubern und sie aufgeben. Die Wohnung, wohin die Bomben gebracht werden sollten, schien nach einer Mitteilung ihrer Bewohner Sablin und Helfman {{[Helfman]}} auch bespitzelt zu werden; dieser verzweifelten Situation setzte es die Krone auf, daß, wie wir zu unserem Entsetzen erfuhren, der Zünder in der Mine noch nicht gelegt worden, und keine von den vier Bomben fertiggestellt war. Am nächsten Tag aber hatten wir den 1. März, einen Sonntag, an dem der Zar vielleicht die Sadowaja passieren würde … Unter diesen Umständen versammelten sich die Mitglieder des Vollzugskomitees am 28. Februar zu einer außerordentlichen Sitzung. Nicht alle Mitglieder waren anwesend, da man keine Zeit gehabt hatte, alle zu benachrichtigen. Außer den Inhabern der Wohnung, Issajew und mir, waren anwesend: Perowskaja, Anna Pawlowna Korba {{[Anna Pawlowna Korba]}}, Suchanow, Gratschewski, Frolenko, Lebedewa; vielleicht waren auch Tichomirow und Langhans{{[Langhans]}} da – genau erinnere ich mich nicht. Und alle beherrschte dasselbe aufgeregte Gefühl, dieselbe Stimmung. Als daher Perowskaja die Frage stellte: ob wir nicht, falls der Zar morgen die Kleine Sadowaja meiden würde, das Attentat mit Bomben ausführen sollten, antworteten alle einmütig: Handeln, handeln! Um jeden Preis muß gehandelt werden. Der Zünder muß gelegt werden. Die Bomben müssen bis morgen fertig sein; neben der Mine oder unabhängig von ihr müssen sie angewandt werden. Nur Suchanow erklärte, er sei nicht imstande, etwas Bestimmtes zu sagen, da man Bomben noch nie angewandt habe. Unverzüglich wurde Issajew nach dem Laden geschickt, um den Zünder zu legen; die Wohnung Scheljabows und Perowskajas wurde mit Hilfe Suchanows und der Offiziere geräumt, Perowskaja zog zu mir. Wir hatten keine Zeit mehr, alle Mitglieder des Komitees, ja nicht einmal jene Genossen, die die Signale geben sollten, zu benachrichtigen. Aber die Rollen waren rechtzeitig verteilt und der Treffpunkt mit allen verabredet worden. Um fünf Uhr abends erschienen Suchanow, Gratschewski und Kibaltschitsch in unserer Wohnung, um die ganze Nacht an der Anfertigung der Bomben zu arbeiten. Am Abend überredete ich Perowskaja, schlafen zu gehen, damit sie morgen im Besitz ihrer Kräfte wäre, ich selbst arbeitete mit den drei Männern bis zwei Uhr nachts mit. Die ganze Nacht brannten die Lampen und das Feuer im Kamin; die Männer arbeiteten die Nacht hindurch. Als Perowskaja und ich um sieben Uhr erwachten, waren zwei Bomben fertig. Perowskaja trug sie in die Wohnung Sablins in der Teleschnaja {{[Teleschnaja]}}; dann ging Suchanow fort; schließlich half ich Gratschewski und Kibaltschitsch, die zwei übrigen Blechbüchsen mit Explosivstoff zu füllen, und Kibaltschitsch trug sie fort. Am 1. März um 8 Uhr früh, nach fünfzehnstündiger Arbeit von drei Personen, waren vier Bomben fertig. Um 10 Uhr kamen in die Wohnung Sablins: Ryssakow, Grinewitzki, Jemeljanow und Timofej Michailow. Perowskaja gab ihnen genaue Anweisungen, wo sie stehen und, nachdem der Zar vorbei sein werde, zusammentreffen sollten. &&x Laut Anordnung des Komitees sollte ich am 1. März bis 2 Uhr nachmittags zu Hause bleiben, um die ›Kobosews‹ bei mir zu erwarten. Es war nämlich verabredet, daß Bogdanowitsch eine Stunde ehe der Zar die Straße passiere den Laden verlassen solle, Jakimowa aber sofort nach dem Signal, daß der Zar auf dem Newski-Prospekt gesehen sei. Der elektrische Strom sollte von einem Dritten eingeschaltet werden, der das Geschäft als Fremder verlassen sollte, falls er nicht unter den Trümmern des Hauses zugrunde ginge. Um 10 Uhr kam dieser Genosse – es war Frolenko – zu mir. Erstaunt schaute ich ihn an, als er aus einem mitgebrachten Paket Wurst und Rotwein auspackte, auf den Tisch stellte und mit der größten Ruhe zu essen begann. Nach dem gestrigen Beschluß und der schlaflosen, in Vorbereitungen zugebrachten Nacht befand ich mich in einem so aufgeregten Zustand, daß es mir unfaßbar erschien, wie ein Mensch jetzt essen oder trinken könne. »Was machen Sie[[1]]?« fragte ich ganz entsetzt. Es schien mir unfaßbar, daß er essen wollte, während ihm in ein paar Stunden der sichere Tod unter den Trümmern bevorstand. »Ich muß vollkommen Herr meiner Kräfte sein,« erwiderte mir ruhig der Genosse und begann zu essen, ohne sich durch mich stören zu lassen. Ich konnte mich vor dieser Willenskraft nur beugen. Dieser Mensch dachte keinen Augenblick an den sicheren Tod, der ihm bevorstand, er hatte nur einen Gedanken, daß er zur Erfüllung seiner Aufgabe alle seine Kräfte brauche. Weder Bogdanowitsch noch Jakimowa waren gekommen; Issajew kehrte dagegen mit der Nachricht zurück, daß der Zar die Sadowaja nicht passiert habe, sondern direkt aus dem Tattersall nach Hause gefahren sei. Ich ging von Hause fort mit der Überzeugung, daß das Attentat infolge irgendwelcher unvorhergesehener Umstände nicht zur Ausführung gekommen sei. In Wirklichkeit schlug der Zar einen anderen Weg ein, aber hier zeigte Perowskaja, wie sehr sie Herrin der Situation war. Sie[[1]] erfaßte sofort, daß der Zar auf dem Rückweg den Katharina-Kanal entlang fahren werde, und beschloß, nur mit den Bomben vorzugehen. Sie[[1]] ging zu den Bombenwerfern, wies ihnen ihre neuen Plätze an und verabredete mit ihnen, daß sie das Signal durch Winken mit ihrem Taschentuch geben werde. Gegen 2 Uhr erfolgten nacheinander zwei Detonationen, die an Kanonenschüsse erinnerten: die Bombe Ryssakows zerschmetterte die Kutsche des Zaren, die Bombe Grinewitzkis traf den Zaren selbst. Einige Stunden später waren sowohl der Zar wie Grinewitzki tot. Als ich nach Issajews Rückkehr auf die Straße ging, war dort alles still. Aber eine halbe Stunde später, als ich bei Uspenski war, kam Iwantschin-Pissarjew mit der Kunde herauf, daß in der Stadt Explosionen erfolgt seien, daß der Zar getötet sei, und man in den Kirchen schon seinem Nachfolger den Eid leiste. Ich stürzte fort. In den Straßen sprach die erregte Menge vom Zaren, von seinen Wunden, von Blut und Tod. Ich kehrte heim, die Freunde hatten von den Vorgängen noch keine Ahnung, und ich konnte vor Erregung kaum hervorbringen, daß der Zar getötet sei. Ich weinte, ebenso die anderen; der Alp, der jahrzehntelang auf dem jungen Rußland gelastet hatte, war beseitigt. Dieser Moment, das Blut des Zaren, rächte die Greuel der Gefängnisse und der Verbannung, die Grausamkeiten und Gewalttaten, die an Hunderten und Tausenden unserer Gesinnungsgenossen verübt worden waren; eine schwere Last fiel von unseren Schultern, die Reaktion (so schien es uns) mußte nun endlich der Arbeit zur Erneuerung Rußlands weichen. In diesem feierlichen Moment waren alle unsere Gedanken dem künftigen Wohl unseres Vaterlandes gewidmet. Bald kam Suchanow freudig erregt, umarmte und begrüßte alle. Das von uns in den nächsten Tagen verfaßte Schreiben an Alexander III. spiegelte treu die allgemeine Stimmung der Petersburger Mitglieder der Partei in jenen Tagen wider. Das Schreiben war maßvoll und voll Takt und hat Anerkennung und Mitgefühl in ganz Rußland hervorgerufen. In Westeuropa veröffentlicht rief der Brief Aufsehen in der ganzen westeuropäischen Presse hervor; selbst die gemäßigtesten und konservativsten Blätter billigten die Forderungen der russischen ›Nihilisten‹ und äußerten die Meinung, sie seien gerecht und vernünftig und gehörten zum größten Teil schon längst zu den selbstverständlichen Bestandteilen des europäischen Lebens. Am 3. März kam Kibaltschitsch zu uns mit der Nachricht, daß die Wohnung der Helfman in der Teleschnajastraße entdeckt und sie selbst verhaftet sei, Sablin aber, ihr Wohnungskamerad, der immer sorglos und frohen Sinnes war, habe sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Während der Verhaftung sei in ihrer Wohnung T Michailow erschienen und habe bei seiner Verhaftung bewaffneten Widerstand geleistet. Unser erster Gedanke war, daß die Wohnung durch Ryssakow verraten worden war; denn wir wußten ganz genau, wer die Adresse der Wohnung kannte und wer sie besuchte. Wir beschlossen sofort, daß Kobosews, anstatt – wie wir vorher beabsichtigt hatten – zu warten, bis der Explosivstoff aus der Mine beseitigt wäre, den Laden sofort verlassen und noch am selben Abend aus Petersburg abreisen sollten. Um drei Uhr kam Bogdanowitsch, um sich von mir zu verabschieden, am Abend kam Jakimowa und zog sich bei mir um; beide, ebenso wie noch einige andere Parteimitglieder, verließen auf Anordnung des Komitees Petersburg noch am gleichen Abend. &&x Kaum verging eine Woche, und wir verloren Perowskaja, die auf der Straße verhaftet wurde. Ihr folgte Kibaltschitsch – wahrscheinlich infolge einer Denunziation seiner Wirtin. Bei Kibaltschitsch wurde Frolenko verhaftet. Kurz darauf Iwantschin-Pissarjew. Der weiße Terror wütete. Viele Jahre später, nachdem im Jahre 1917 das Archiv der zaristischen Regierung geöffnet worden war, überzeugte ich mich, daß der Verräter ein Arbeiter Okladski war, der 1880 in der Sache Kwatkowskis verurteilt worden war. Das Komitee beschloß, daß einige Mitglieder, darunter auch ich, die Stadt verlassen müßten. Aber wir alle brannten vor Ungeduld, die für unsere organisatorischen Ziele so geeignete Zeit auszunutzen; wir sahen rings um uns einen glühenden Enthusiasmus: selbst Leute, die immer passiv und indifferent gewesen waren, baten um Aufträge und um Arbeit und boten ihre Dienste an; alle möglichen Zirkel baten uns, mit ihnen in Verbindung zu treten. Unser Erfolg war berauschend, und wäre nur Ehrgeiz unsere Triebfeder gewesen, so hätten wir jetzt vollauf Befriedigung gefunden. Wer die Periode nach dem 1. März nicht miterlebt hat, kann sich keine Vorstellung von der Bedeutung dieses Tages für uns als revolutionäre Partei machen. Leicht begreiflich, wie peinlich jedem die Notwendigkeit sein mußte, in diesem Moment Petersburg zu verlassen, besonders für jene, die an ihre Kraft und an die Notwendigkeit glaubten, sie gerade jetzt nicht der Arbeit zu entziehen. Ich versuchte, das Komitee zu überzeugen, daß ich jetzt unmöglich aus Petersburg fortkönne und bat um die Genehmigung, bleiben zu dürfen. Ich wurde darin von Suchanow unterstützt, und das Komitee willigte ein, wenn auch leider nicht auf lange. Aber am 1. April kehrte Grigori Issajew nicht mehr nach Hause zurück; ähnlich wie schon viele andere Genossen im Laufe dieses Monats wurde auch er von irgendeinem Verräter auf der Straße der Polizei ausgeliefert. Mittlerweile hatte sich unsere Wohnung in ein förmliches Magazin verwandelt, alles Mögliche war hier aufgestapelt worden; nach der Liquidierung der Arbeiterdruckerei brachte man das Schriftmaterial und alles Zubehör zu uns; als man das Laboratorium schloß, brachte Issajew einen großen Vorrat Dynamit zu uns und alles andere, das aus seiner Wohnung zu entfernen er für wichtig hielt. Nach Frolenkos Verhaftung hatten wir die Hälfte des bei ihm aufbewahrten Paßbureaus übernommen, ebenso die ganze Literatur. Dieser ganze Reichtum durfte der Partei nicht verloren gehen; ich beschloß, nicht eher die Wohnung zu verlassen, bis ich alles in Sicherheit gebracht hätte. Am 2. April fing ich mit dem Packen an. Um 1 Uhr nachmittags kam Gratschewski zu mir. Er teilte mir mit, daß die Genossen mich schon als verloren betrachteten. Außerdem sagte er mir, daß schon vom frühen Morgen an die Portiers straßenweise zum Polizeipräsidium gerufen würden, um durch sie die Persönlichkeit eines am Vorabend verhafteten jungen Mannes festzustellen, der sich hartnäckig weigere, seinen Namen und seine Adresse anzugeben. Niemand von uns zweifelte, daß es sich um Issajew handle. Trotzdem billigte Gratschewski mein Vorhaben, alles bei mir Aufbewahrte zu retten. Ich bat ihn, zu diesem Zweck Suchanow herbeizuholen. Suchanow war so energisch und entschlossen, daß selbst das Unmöglichste für ihn möglich war. Einige Stunden später erschien Suchanow in Begleitung zweier Marineoffiziere; mit dem ihm eigenen Organisationstalent räumte er die Wohnung im Laufe von zwei Stunden vollkommen aus. Gegen 8 Uhr abends, als er fertig war, drang er darauf, daß ich die Wohnung verlasse. Ich war sicher, daß die Polizei vor dem nächsten Morgen nicht zu mir kommen könne, da Issajew seine Adresse nicht angeben würde, und die Portiers unserer Straße noch nicht zur Polizei gerufen worden waren. Als ich am nächsten Tag, dem 3. April, früh morgens hinaus ging, um mich auf der Straße umzusehen, bemerkte ich vor dem Tor eine typische Spitzelgestalt, die dem Portier einschärfte: »Unbedingt vor 12, unbedingt vor 12!« Nun war es Zeit, die Wohnung zu verlassen. Bald erschienen zwei Frauen, die ich noch erwartet und durch das verabredete Signal darüber informiert hatte, daß die Wohnung noch sicher sei. Sie[[1]] nahmen den Rest der Sachen an sich, und kurz nach ihnen ging auch ich. Eine Stunde später kamen die Gendarmen: der Samowar, aus dem ich vor dem Weggehen Tee[[Variante2]] getrunken hatte, soll noch warm gewesen sein … Der 3. April war der Tag der Hinrichtung unserer Zarenmörder: Das Wetter war wunderschön, ein heiterer Frühlingstag, die Sonne strahlte. Als ich das Haus verließ, war das »Volksschauspiel« soeben zu Ende, rings um mich sprach alles von der Hinrichtung. Ich bestieg zufällig die Straßenbahn, die vom Semjonowski-Platz, dem Platz, wo die Hinrichtung stattgefunden hatte, zurückkehrte, und war erfüllt von schmerzlichen Gedanken an Perowskaja und Scheljabow. Alle waren erregt, doch niemand sah man Trauer an. Mir gegenüber saß ein schöner Mann – ein Bürger mit kohlschwarzem Haar, krausem Bart und flammenden Augen. Das schöne Gesicht war von Leidenschaft verzerrt: ein echter Henker, bereit, die Leute zu köpfen! … &&x &&am &&g1="S._L._Perowskaja" &&fa S L Perowskaja &&fe &&ax Sofja Lwowna Perowskaja {{[Sofja Lwowna Perowskaja]}} ist eine jener wenigen Gestalten, die sowohl durch ihre ganze revolutionäre Tätigkeit als auch durch ihr Schicksal der Geschichte angehören – sie war die erste russische Frau, die als politische »Verbrecherin« hingerichtet wurde. Vom Standpunkte der Vererbungslehre und der Lehre vom Einfluß des Milieus ist die Feststellung von Interesse, daß Perowskaja – diese asketische Revolutionärin – Urenkelin des letzten ukrainischen {{Hetmans Rasumowski}}, Enkelin des Gouverneurs der Krim zur Zeit der Regierung Alexanders I[[Zahl]]. und Tochter des Gouverneurs von Petersburg unter der Herrschaft Alexanders II. war. Die Bedingungen, unter denen Perowskaja ihre Kindheit verbrachte, haben Menschlichkeit und Ehrgefühl in ihrer Seele geweckt. Zu jener Zeit der Leibeigenschaft kam es öfter vor, daß sich in den Kindern, im Gegensatz zu den Eltern und im Widerspruch zu deren Sitten, ein Widerwille und Haß gegen den herrschenden Despotismus entwickelte. So war es auch mit Perowskaja. Ihr Vater war ein Vertreter der Leibeigenschaft schlimmster Sorte. Er mißhandelte nicht nur seine Leibeigenen, sondern auch die Mutter seiner Kinder, ja, er zwang dazu auch seinen kleinen Sohn. Sofjas {{[Sofjas]}} Mutter war die Verkörperung der Güte und Sanftmut. In der schweren, drückenden Familienatmosphäre lernte Sofja Lwowna den Menschen, den Leidenden, lieben, so wie sie ihre mißhandelte Mutter liebte, mit der sie bis zu den letzten tragischen Tagen ihres Lebens durch Zärtlichkeit und Liebe verbunden blieb. Während meiner Untersuchungshaft erzählte mir die Aufseherin, daß Perowskaja bei ihrem letzten Zusammensein mit der Mutter sehr wenig gesprochen habe. Wie ein krankes, gequältes Kind habe sie, den Kopf auf den Knien der Mutter, regungslos dagelegen. Zwei Gendarmen, die Tag und Nacht in ihrer Zelle wachten, verließen sie auch in diesen Momenten nicht. Sofja Lwowna hatte kaum selbständig zu denken begonnen, als sie auch schon beschloß, ihre Familie zu verlassen, in der weiter zu leben ihr moralisch unmöglich war. Aber der Vater verweigerte ihr den Paß und drohte, falls sie gegen seinen Willen ginge, sie durch die Polizei in das elterliche Haus zurückholen zu lassen. Doch Perowskaja blieb in ihrem Beschluß fest; sie ging heimlich fort und hielt sich eine Zeitlang bei Freundinnen – Studentinnen – verborgen. Gemeinsam mit einer von ihnen stand sie dann im Prozeß der 193 vor Gericht. Als Mitglied der Tschaikowski-Gruppe war Perowskaja längere Zeit auf dem Lande als Arztgehilfin und Propagandistin der Narodnikiprinzipien tätig. Da soll sie ihre ganze verborgene Zärtlichkeit und weibliche Güte, die sie von der Mutter ererbt hatte, dem arbeitenden Volke gegeben haben. Augenzeugen erzählten, daß in ihrer Beziehung zu den Kranken unendliche Güte und mütterliche Zärtlichkeit zum Ausdruck kam. Welch moralische Befriedigung ihr das nahe Zusammenleben mit den Bauern gab, und wie schwer es ihr war, sich von diesem armseligen, lichtlosen Dorfleben loszureißen, zeigte ihre Haltung auf dem Woronescher Kongreß und ihr Schwanken anläßlich der Spaltung des Bundes »Land und Freiheit«. Damals waren wir beide – sie und ich –, die wir soeben erst das Dorfleben verlassen hatten, noch mit ganzer Seele mit ihm verbunden. Man forderte uns zur Teilnahme am politischen Kampf auf, man rief uns in die Stadt, wir aber fühlten, daß das Dorf unsere Kräfte brauche, wir waren der Überzeugung, daß es ohne uns dort – noch finsterer sei. Der Verstand riet, gemeinsam mit den Genossen zu gehen, die den Weg des politischen Terrors einschlugen. Das Gefühl aber zog uns zurück in die Welt der Elenden und Enterbten. Später erst erkannten wir, daß jene Stimmung der Drang nach einem sittlich-reinen Leben, nach höheren persönlichen Werten war; – damals aber legten wir uns noch keine Rechenschaft darüber ab. Nach einem inneren Kampfe hatten wir unser Gefühl, unsere Stimmung gemeistert; wir verzichteten auf die moralische Befriedigung, die uns das Leben und die Arbeit auf dem flachen Lande gegeben hätte, und stellten uns in Reih und Glied mit den Genossen, die uns durch ihren politischen Instinkt überlegen waren. Seit dem Woronescher Kongreß nahm Perowskaja bei allen terroristischen Unternehmungen des Vollzugskomitees des »Volkswillens« den ersten Platz ein. Sie[[1]] war es, die die Rolle der liebenswürdigen, einfachen Wirtin in dem ärmlichen Häuschen spielte, das in Moskau, am Rande der Stadt, für 700 bis 800 Rubel gekauft worden war, und von dem aus das Attentat auf den kaiserlichen Zug am 19. November 1879 ausgeführt wurde. Im entscheidenden Moment blieb sie mit Stepan Schirajew im Häuschen, um, sobald der kaiserliche Zug sichtbar wurde, das Signal zum Sprengen der Mine zu geben. Immer wachsam, immer auf der Hut, gab sie es rechtzeitig, und nicht sie war schuld daran, daß statt des kaiserlichen Zuges der seiner Begleitung durch die Explosion zur Entgleisung gebracht wurde. Nach der Explosion am 5. Februar 1880 im Winterpalast kam Perowskaja im Sommer nach Odessa, um dort ein neues Attentat zu organisieren. Im Jahre 1881, als das Vollzugskomitee seinen siebenten Anschlag vorbereitete, organisierte Perowskaja gemeinsam mit Scheljabow die Kolonne, die die Aufgabe hatte, die Fahrten des Zaren auszukundschaften und zu signalisieren; sie leitete die Bombenwerfer nicht nur in den Tagen der Vorbereitung, sondern auch während des Attentats am 1. März. Sie[[1]] war es, die, als sich die Situation infolge der veränderten Marschroute des Zaren verschob, den ganzen Plan aus eigener Initiative umstellte; ihrer Geistesgegenwart war es zu verdanken, daß der Kaiser den zwei Terroristenbomben zum Opfer fiel. Sie[[1]] hat den 1. März gerettet und ihn mit ihrem Leben bezahlt. Ich lernte Sofja Lwowna im Jahre 1877 kennen, als sie im Prozeß der 193 angeklagt war. Sie[[1]] war gegen Kaution bis zum Gerichtsverfahren auf freien Fuß gesetzt worden. Jemand brachte sie zu mir zum Übernachten. Ihr Äußeres fesselte beim ersten Blick meine[[Besitz]] Aufmerksamkeit. Mit ihrem blonden Zopf, den hellgrauen Augen und den kindlich-rosigen, runden Wangen, im einfachen russischen Blusenhemd, sah sie ganz wie ein jugendfrisches russisches Bauernmädchen aus. Nur die hohe Stirn widersprach dem harmlosen Aussehen. Den kindlichen Ausdruck bewahrte ihr hübsches Gesicht bis zu ihrem Ende, trotz der tragischen Momente, die sie in den Märztagen durchlebte. An ihrem einfachen Äußeren hätte man nie erraten können, aus welcher Sphäre sie stammte, unter welchen Bedingungen sie ihre Kindheit und Mädchenzeit verbracht hatte. Ihr allgemeiner Gesichtsausdruck mit den weichen, kindlichen Linien verriet nichts von der Festigkeit des Charakters und dem eisernen Willen, den sie anscheinend vom Vater ererbt hatte. Überhaupt war in ihrer Natur weibliche Zartheit mit männlicher Strenge gepaart. Während sie für das Volk eine echt mütterliche Zärtlichkeit hatte, war sie in ihren Anforderungen ihren Gesinnungsgenossen gegenüber streng und unerbittlich. Ihre politischen Feinde und die Regierung bekämpfte sie unermüdlich. Nach dem Prozeß der 193 war ihre Wohnung in Petersburg das Zentrum, in dem die freigesprochenen Kameraden sich trafen. Aber nur diejenigen wurden zu diesen Zusammenkünften zugelassen, die gegen das Gericht protestiert und es nicht als Gericht anerkannt hatten. Der Angeklagte Myschkin hatte durch seine starke Persönlichkeit und seine wunderbare Rede, die er vor Gericht hielt, einen solchen Eindruck auf Sofja Lwowna gemacht, daß der Gedanke, ihn aus seinem Gefängnis zu befreien, zu ihrer fixen Idee geworden war. Der Verwirklichung dieser Idee hat sie viel Kraft geopfert. Im Einklang mit den Idealen der Epoche war Perowskaja eine große Asketin. In ihrer täglichen Lebenshaltung war sie unsagbar anspruchslos; wie streng sie in bezug auf die der Organisation gehörenden Mittel war, davon zeugt, daß sie mich einmal bat, 15 Rubel für sie irgendwo zu leihen, die sie für Arzneien ausgegeben hatte; sie wollte diese Ausgabe nicht mit Organisationsgeldern bestreiten, sondern beabsichtigte, zu diesem Zweck ein Kleid zu verkaufen, das ihr die Mutter geschickt hatte. In jenen unvergeßlichen Tagen, die dem 1. März vorangingen, lernte ich auch ihre zarte Fürsorge für ihre Kampfgenossen kennen, deretwegen sie nie zögerte, ihre eigenen Interessen zu opfern. Als sie nach Scheljabows Verhaftung gezwungen war, ihre Wohnung zu verlassen, übernachtete sie bei Fremden, bald hier, bald dort. »{{Werotschka}}, kann ich bei dir übernachten?« fragte sie mich zwei bis drei Tage vor ihrer Verhaftung. Erstaunt über ihre Frage, entgegnete ich ihr vorwurfsvoll: »Wie kannst du danach fragen? Ist es nicht selbstverständlich?« »Wenn man hier Haussuchung hält und mich bei dir findet,« erwiderte Perowskaja, »so wirst du gehängt – darum frage ich dich.« Ich umarmte sie und antwortete, auf den Revolver zeigend, der am Kopfende meines Bettes lag: »Ob sie dich finden oder nicht, ich werde schießen.« Im schwarzen Gewand, mit gefesselten Händen, ein Brett mit der Inschrift »Zarenmörder« auf der Brust – so brachte man sie alle zum Hinrichtungsplatz: Scheljabow – den Bauer, Kibaltschitsch – den Pfarrerssohn, Timofej Michailow – den Arbeiter, Ryssakow – den Bürger, Perowskaja – aus altem adligem Stamme; – als ob sie alle Stände des russischen Reiches symbolisieren sollten. Auf dem Schafott umarmte Perowskaja Scheljabow, Kibaltschitsch, Michailow, wandte sich aber von Ryssakow ab, der die Adresse der Wohnung in der Teleschnajastraße verraten und dadurch Hesja Helfman {{[Hesja Helfman]}}, Sablin und Michailow den Händen der Henker ausgeliefert hatte, im Wahn, sich dadurch selbst retten zu können. Perowskaja starb, im Leben wie im Sterben sich selbst getreu. &&x Die Bedeutung des 1. März war ungeheuer. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, sich die Zustände jener Epoche zu vergegenwärtigen. Nach jahrhundertelanger Reaktion hatte Alexander II. die Bauern-, Selbstverwaltungs- und Gerichts-Reform durchgeführt und dadurch der Entwicklung Rußlands einen gewaltigen Stoß nach vorwärts gegeben; er lenkte sie in die Bahnen des allgemein-menschlichen Fortschritts. Aber schon die erste und größte dieser Reformen – die Bauernbefreiung – blieb in ökonomischer Beziehung weit hinter den Forderungen der besten Vertreter der damaligen russischen Gesellschaft zurück, und 15 Jahre später, als an Stelle einer elenden Lobhudelei eine ernste Kritik eingesetzt hatte, wurde sie von der Publizistik offen als ein unter dem Druck des interessierten Standes – der Gutsbesitzer – durchgeführtes Kompromiß bezeichnet, das in keiner Weise dem gesteckten Ziele »der Besserung der wirtschaftlichen Existenz des Bauernstandes« entsprach. Die anderen Reformen wurden unter dem Einfluß der Gegner der Reformen und der jetzt vom Zaren selbst an den Tag gelegten reaktionären Gesinnung verstümmelt und durch allerlei Ergänzungen, Ausnahmen, Auslegungen jeglichen Wertes beraubt. So kam es, daß die besten Elemente der Gesellschaft und die Regierung verschiedene Wege einschlugen, und daß erstere jeglichen Einfluß auf die Regierung und Staatsverwaltung einbüßten. Diese Unzufriedenheit der besten Elemente der russischen Gesellschaft hatte sich schon bei Beginn der Herrschaft Alexanders II., in den sechziger Jahren, in den Studentenunruhen Luft gemacht und war in den Prozessen von Tschernyschewski, Michailow, {{Karakosow}}, Netschajew und Genossen zum Ausdruck gekommen. Im Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand führten diese Bewegungen eine Verschärfung der Reaktion herbei: die Reaktionäre nutzten die Lage aus, und Anfang der 70er Jahre war die Spaltung zwischen der Regierung und der Gesellschaft vollständig. Seit jener Zeit war die Auflehnung eines Teils der Untertanen des Zaren gegen seine Methode der Staatsverwaltung chronisch geworden. Dies zog die strengsten Repressalien und die äußerste Unterdrückung nach sich, was wiederum eine schärfere Auflehnung hervorrief. Ende der 70er Jahre war das ganze innere Leben Rußlands vom Kampf gegen die »{{Kramola}}« ({{=}} Revolution) beherrscht. Aber weder die Generalgouverneure und Kriegsgerichte noch der Ausnahmezustand und die grausamen Hinrichtungen, weder Hunderttausende Soldaten noch Scharen von Schutzwachen und Spitzeln und das ganze Gold des Kaisertresors waren imstande, den Herrscher aller Reußen, den Herrn der Geschicke von achtzig Millionen Menschen, vor der strafenden Hand der Revolutionäre zu schützen. Der 1. März war insofern lehrreich, als er der letzte Akt im zwanzigjährigen Kampf zwischen Gesellschaft und Regierung war. 20 Jahre Repressalien, Grausamkeiten und Maßregelungen, die gegen eine Minderheit gerichtet waren, aber auf allen lasteten, – und das Resultat: der Zar wurde getötet. Die ganze Gesellschaft erwartete diesen Tod mit der größten Gewißheit: die einen in höchster Angst, die anderen mit Ungeduld. Eine solche Lage war in der Weltgeschichte beispiellos und jedenfalls geeignet, sowohl Philosophen wie Moralisten und Politiker zu veranlassen, sich in ihr Wesen zu vertiefen. Die Bomben des Vollzugskomitees, die ganz Rußland erschütterten, warfen vor dem Lande die Frage auf: Wo ist der Ausweg aus dieser abnormen Lage? Wo liegen die Ursachen? Wir glaubten, daß die Erfolglosigkeit aller Maßnahmen der Regierung im Kampfe gegen die revolutionäre Bewegung und ihre Unfähigkeit, die Unzufriedenheit durch Beseitigung der energischsten Leute unter den Unzufriedenen aus der Welt zu schaffen, durch die zwanzigjährige Erfahrung, die zum 1. März geführt hatte, genügend bewiesen worden sei. Nach unserer Überzeugung mußte – wenn nicht der Zar – so jedenfalls Rußland daraus seine Schlüsse ziehen. Wir glaubten, daß die frei zum Ausdruck kommende öffentliche Meinung vorschlagen würde, die wirklichen Ursachen der Unzufriedenheit, die in den allgemeinen politischen Zuständen begründet waren, zu beseitigen, statt einzelne ihrer Erscheinungsformen zu bekämpfen. Die ungewöhnlichen Umstände, die die Ereignisse des 1. März begleiteten und ihr großzügiger Charakter schienen dazu beizutragen, daß breite Kreise der Gesellschaft sich über diese Bedeutung des 1. März klar wurden. Der 1. März hat auch die Bauernschaft aufs tiefste erschüttert. An die Stelle der täglichen Sorgen und Lokalinteressen trat plötzlich die Frage: »Wer hat den Zaren getötet und weshalb?« Alle, die zu jener Zeit und später auf dem flachen Lande wohnten, berichten übereinstimmend, daß die Ermordung des Zaren und die Ursachen dieser Tat die Bauern stark bewegt und gezwungen habe, intensiv darüber nachzudenken. Zwei Schlußfolgerungen waren dabei möglich: entweder wurde der Zar durch Sozialisten getötet, die dem Volke Grund und Boden geben und es von der Unterdrückung durch das Beamtentum befreien wollen, oder durch die Gutsbesitzer, die rebellieren, weil der Zar die Bauern befreit hat, und sie die Leibeigenschaft wieder herstellen wollen. In dem einen Fall wurde das Volk durch die Gleichheit der Interessen für die Partei gewonnen, und die Partei fand in den Massen einen Stützpunkt, wie sie ihn selbst durch jahrzehntelange Propaganda nicht erworben hätte; in dem anderen Falle entstand in ihm heftiger Haß gegen die besitzende Klasse, und dieser Haß konnte in Anbetracht der furchtbaren ökonomischen Lage, in der sich das einfache Volk befand, zu einem entsetzlichen Blutbad unter dem privilegierten Stand ausarten. In beiden Fällen hoffte die Partei, die Revolte, zu der die Ermordung des Zaren Veranlassung geben konnte, für ihre revolutionären Ziele auswerten zu können. Der 1. März eröffnete Aussichten auf ein Bündnis der Partei mit dem Volk. Auch für die Partei selbst, für ihre revolutionäre Tätigkeit, waren die Ereignisse vom 1. März von größter Bedeutung. Sie[[1]] hatten das Vollzugskomitee in den Augen seiner Anhänger auf eine bisher unerreichte Höhe erhoben. Von allen Seiten erging an uns der Ruf: »Kommt und herrscht über uns!« Leider mußten wir uns immer wieder sagen, daß, wie reich auch die Ernte sein mochte, es uns dennoch an Schnittern fehlte. Die Kehrseite des Ereignisses war, daß der 1. März weder das Signal zu einem Volksaufstand gegeben hatte, noch die Regierung zu zwingen vermochte, irgendwelche grundsätzlichen politischen und wirtschaftlichen Änderungen vorzunehmen, die den Unzufriedenen Zugeständnisse gemacht hätten. In Wirklichkeit gab sich die Partei nie der Illusion hin, die Zarentötung könne an und für sich einen Volksaufstand zur Folge haben; wir waren uns im Gegenteil immer darüber im klaren, daß dazu noch ungeheuer viel Arbeit und Mühe gehöre. &&x Es ist notwendig, noch auf die durch die Kampfmethoden sowohl der revolutionären Partei als auch der Regierung herbeigeführte Demoralisation einzugehen. Gewalt als Mittel des politischen Kampfes ruft Verrohung hervor, weckt Raubtierinstinkte, veranlaßt zu schnödestem Vertrauensbruch. Freilich gleichen die Revolutionäre die dunkle Seite ihrer Tätigkeit durch das hohe Ziel der Verteidigung der Sache aller Unterdrückten und Enterbten aus, durch die Solidarität und Brüderlichkeit, die die Beziehungen der Kämpfer untereinander kennzeichnen, durch die Selbstlosigkeit ihres Wirkens, den Verzicht auf alles materielle Wohl, auf jegliches persönliche Glück, durch das heroische Ertragen aller Leiden, beginnend mit Verfolgung, Gefängnis, Verbannung, Zuchthaus und mit dem Tod endend. Auf der anderen Seite ging die Zarenregierung mit größter Rücksichtslosigkeit und furchtbarster Grausamkeit gegen die Revolutionäre vor. Der Gedanke wurde in Fesseln, das Wort in Ketten gehalten, die Freiheit geraubt, Todesurteile ereilten die Besten. Die Verbannung auf administrativem Wege war eine tägliche Erscheinung, die Gefängnisse waren überfüllt, der Henker arbeitete rastlos; in den Gefängnissen und Zuchthäusern mißhandelte und peinigte man die »politischen Verbrecher« auf die ungeheuerlichste Art. Um sich Waffen gegen die revolutionäre Gefahr zu beschaffen, hatte die Regierung ein System weitverzweigtester und raffiniertester Spionage ausgebaut: alle Stände, Geschlechter und Altersstufen – angefangen mit 14 jährigen Mädchen und 11 jährigen Knaben – waren unter den Helfershelfern der Gendarmerie vertreten. Doch nichts versetzte der revolutionären Bewegung einen so furchtbaren Schlag wie der geglückte Versuch, einen Revolutionär im Netz des schmutzigen Spitzeldienstes zu fangen. Nichts schmerzte mehr, als in einem ehemaligen Kampfgenossen, den man oft jahrelang als Kameraden und Bruder betrachtet hatte, einen Gendarmerieschergen zu entdecken, der uns zynisch zurief: »Das haben Sie[[1]] wohl nicht erwartet?« Und wie oft wurde mit Erfolg Mißtrauen in unseren eigenen Reihen gesät, Bruder gegen Bruder aufgehetzt, so daß manch einer bereit war, die Hand gegen den eigenen Kampfgenossen zu erheben, in dem man einen Verräter erkannt zu haben glaubte. Ich selbst war zweimal nicht mehr weit davon entfernt, Menschen aus der Welt zu schaffen – in einem Falle eigenhändig –, die ich selbst oder Genossen mit felsenfester Sicherheit als Verräter und Schurken betrachteten, die ihr Leben also durch Verrat verwirkt hatten. Ja, es ging so weit, daß es einem vor den Menschen graute. &&x &&am &&g1="In_Südrußland" &&fa In Südrußland &&fe &&ax Nach den stürmischen Märztagen, denen Issajews Verhaftung und das Auffliegen unserer konspirativen Wohnung gefolgt waren, beschloß das Komitee, daß ich Petersburg verlassen und nach Odessa gehen müsse, um die dortige Arbeit an Trigonis Stelle zu übernehmen. Trigoni war ein Universitätskamerad Scheljabows. Während aber Scheljabow wegen Teilnahme an den Studentenunruhen aus der Universität ausgeschlossen worden war und sich vollständig der revolutionären Tätigkeit widmete, führte Trigoni das juristische Studium zu Ende und war bis 1880 als Rechtspraktikant tätig. Erst in diesem Jahre schloß er sich der Organisation »Volks-Wille« an, beteiligte sich an den Vorbereitungen zum Attentat in der Kleinen Sadowaja und wurde am 27. Februar zusammen mit Scheljabow verhaftet. Trigonis Verhaftung erregte großes Aufsehen. Die Gendarmen fanden, daß er durch seine Bildung, seine Herkunft und sein Vermögen über jene Sphäre weit hinausrage, aus welcher, ihrer Ansicht nach, Revolutionäre sonst hervorzugehen pflegten. Sie[[1]] hatten nicht ganz Unrecht. Trigoni hatte das Aussehen eines Herrn, war verwöhnter als die anderen, und seinem Benehmen nach erriet man in ihm den Rechtsanwalt, obgleich er erst kurz vorher seine Juristenlaufbahn begonnen hatte. Seine Eltern waren Gutsbesitzer in der Krim; die Mutter war eine Weltdame, was sicherlich nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben war. Trigoni hatte in Odessa eine Gruppe des »Volks-Willens« gegründet, teils nach eigenem Ermessen, teils aus Personen, auf die ich ihn vor meiner Abreise aus Odessa hingewiesen hatte, darunter waren: der Schriftsteller Iwan Iwanowitsch Swedenzow {{[Iwanowitsch Swedenzow]}} (der den Schriftstellernamen Iwanowitsch führte) – ein sehr ideal veranlagter, aber nicht besonders aktiver Mensch, ungefähr 35 Jahre alt; dann Olga Puritz {{[Puritz]}}, die Tochter reicher Eltern, ein junges, energisches und sehr begabtes Mädchen; ferner der Student {{Drey}}, Sohn eines Arztes, der unter den jüdischen Armen sehr populär war. Zu der Gruppe gehörte auch noch Wladimir Schebunew {{[Wladimir Schebunew]}}, den ich von meiner Studienzeit in Zürich her kannte. Er hatte schon an der Bewegung teilgenommen, die bestrebt war, die Agitation »ins Volk« zu tragen, war im Prozeß der 193 Mitangeklagter gewesen und arbeitete jetzt illegal. Seine langjährige Erfahrung stellte ihn naturgemäß an die Spitze der Gruppe. Als Agent des Komitees reiste er oft in dessen Auftrag nach Kasan und Saratow. Aber dem »Volks-Willen« fehlte es dort die ganze Zeit über an den erforderlichen Beziehungen, und so hatte Schebunew dort keinen Erfolg. Was Saratow anbelangt, so gab es dort Leute, die sich bereits in den Zeiten des Verbandes »Land und Freiheit« revolutionär betätigt hatten. Schebunew schlug ihnen vor, sich offiziell dem »Volks-Willen« anzuschließen. Dies geschah auch, und die allerdings sehr kleine Gruppe bestand bis Mitte 1882. Schebunew war ein lebhafter und energischer Mensch, verfügte über ein ziemliches Wissen und sprach gern und gut. Er war ehrgeizig und bemühte sich sehr, Mitglied des Komitees zu werden. Seine Fähigkeiten und Verdienste berechtigten ihn auch dazu, und nachdem ich ihn in Odessa gesehen und gesprochen hatte, stellte ich im Komitee den Antrag, ihn aufzunehmen. Er wurde zu diesem Zweck nach Moskau berufen, wurde dort aber bald aus nicht aufgeklärten Gründen verhaftet. Glücklicherweise ahnte das Polizeidepartement weder seine Tätigkeit in Odessa noch seine Beziehungen zum Komitee; so kam er mit einer Verbannung in das Jakutsker {{[Jakutsker]}} Gebiet davon. In Odessa übte er dank seiner lebhaften Natur einen belebenden Einfluß auf die Arbeit der Gruppe aus. Seiner Überzeugung nach war er eher Sozialdemokrat als Narodnik {{[Narodnik]}}. Schebunew betrachtete das städtische Industrie-Proletariat als die einzige Stütze im politischen Kampfe. Außerdem hielt er die Arbeiterklasse für die einzige Trägerin der sozialistischen Ideen und war der Ansicht, daß alle Kräfte der Partei auf Propaganda und Agitation in ihr konzentriert werden müßten. Im Einklang mit dieser Überzeugung richtete er in Odessa sein Hauptaugenmerk auf die Tätigkeit unter den Arbeitern. Später, nach meiner Ankunft in Odessa, vergrößerte sich die Gruppe noch um Georgiewski {{[Georgiewski]}}, der im Jahre 1877 im Prozeß der Bardina verurteilt worden war. Er flüchtete aus Sibirien, kam illegal nach Odessa zurück und trat unserer Gruppe bei. Außerdem berief ich nach Odessa die Genossin Switytsch {{[Switytsch]}}. Dieses prächtige Mädchen lebte unweit in einem kleinen Nest und litt sehr unter dem Mangel an Betätigung. Um diese Zeit beabsichtigten wir, die Flucht der F Moreinis {{[Moreinis]}} aus dem Nikolajewer {{[Nikolajewer]}} Gefängnis zu organisieren. Ihr stand Zuchthaus bevor. Diese Flucht wollten die dortigen wachhabenden Offiziere bewerkstelligen. Einer von ihnen sollte die Moreinis aus dem Gefängnis herausführen, und um sie zu verbergen, mußte eine konspirative Wohnung beschafft werden. Georgiewski und Switytsch begaben sich nach Nikolajew und übernahmen diese Aufgabe. Doch die Flucht gelang nicht, und sie kehrten nach Odessa zurück, um auf Beschluß der Gruppe eine kleine Druckerei einzurichten, in der Flugblätter für die Arbeiter gedruckt werden sollten. Da wir das nötige Material dazu schon besaßen, war die Sache schnell organisiert. Aber die Druckerei existierte nur kurze Zeit, eine einzige Proklamation wurde in ihr gedruckt, und zwar anläßlich des Todes und Begräbnisses des verdienten Revolutionärs Fesjenko, der jahrelang durch schwere Krankheit ans Bett gefesselt gewesen war. Georgiewski hatte Beziehungen zu den Arbeitern, was ihm verhängnisvoll wurde. Man bespitzelte ihn, er wurde verhaftet und gleichzeitig mit ihm auch Switytsch; die Druckerei wurde beschlagnahmt. &&x Ein Mitglied der Odessaer Gruppe, ein Vetter der Olga Puritz, der Student {{Kogan}}, arbeitete unter den Studenten und bildete dort eine Gruppe von 10 Personen. Sie[[1]] sympathisierten mit dem Programm des »Volks-Willens« und beschäftigten sich mit sozialpolitischer Selbstbildung. Durch Swedenzew als ehemaligen Offizier hatten wir Verbindungen mit Militärkreisen, und so lernte ich einige Militärs bei ihm kennen. Es waren dies: der Kommandeur des Lubliner Regiments Kraiski {{[Kraiski]}} und die Offiziere {{Tellier}} (ein Bruder des Verurteilten) und Stratanowitsch {{[Stratanowitsch]}}. Sie[[1]] waren mir gegenüber zuvorkommend und liebenswürdig. Anfangs trugen unsere Gespräche den üblichen literarischen Salon-Charakter. Später, als ich erkannt hatte, daß meine[[Besitz]] Gesellschaft Kraiski angenehm war, sah ich ihn öfters, und nach längerer und näherer Bekanntschaft sprach ich mit ihm von meinen[[Besitz]] revolutionären Ansichten und Sympathien. Er zeigte Interesse und Verständnis für die Idee der politischen Freiheit und sprach dem Sozialismus Berechtigung zu. Kraiski schien mir eine sehr wertvolle Persönlichkeit mit einem starken Willen zu sein, die, wenn sie einmal ihren Weg gewählt hat, ihn nie mehr verlassen würde; ich wollte ihn unbedingt der Partei gewinnen, seine inneren Zweifel hinderten ihn aber, sich uns anzuschließen. Stratanowitsch war ein sehr ehrlicher Mensch mit einfacherem, aber unbestimmtem Charakter. Sie[[1]] beide waren mit dem Oberstleutnant des Prager Fußregiments Michail {{Juljewitsch}} Aschenbrenner {{[Aschenbrenner]}} (dem späteren Gefangenen der Schlüsselburg) sehr befreundet, den ich bereits 1880, kurz vor meiner Abreise nach Petersburg, kennengelernt hatte. Jetzt, bei meinem zweiten Aufenthalt in Odessa, diente Aschenbrenner in Nikolajew, kam aber öfter nach Odessa, und unsere Bekanntschaft erneuerte sich. Um Aschenbrenner gruppierten sich seine Dienstkameraden: {{Talapindow}}, {{Maimeskulow}}, {{Mitzkewitsch}}, {{Kirjakow}} und Uspenski, die alle mit Aschenbrenner durch enge Freundschaft verbunden waren und seine sozialistischen Anschauungen und revolutionären Sympathien teilten. Ich wollte Suchanow, der nach dem Süden kommen sollte, den Weg ebnen und fuhr deshalb öfters nach Nikolajew, wo ich mit all den obengenannten Personen in einer konspirativen Wohnung zusammentraf. Aschenbrenner war ein sehr gebildeter Mensch. Intellektuell überragte er seine Freunde weit und war natürlicherweise das Haupt dieser Gruppe. Sie[[1]] alle waren Menschen reiferen Alters und lebten sehr zurückgezogen. Sie[[1]] hatten sich nie irgendwelcher revolutionären Tätigkeit gewidmet, und als ich immer wieder darauf hinwies, daß man Bekanntschaften anknüpfen müsse, um neue Kreise heranzuziehen, erwiderten sie mir immer dasselbe: es verlohne sich nicht, es seien unter den Offizieren keine entsprechenden Elemente vorhanden. Als sie trotzdem endlich auf mein beständiges Drängen hin mit den Marineoffizieren Beziehungen anknüpften, wurde die Agitation so lebhaft, daß sie die Grenzen der Vorsicht überstieg. Aschenbrenner, der Marx gut kannte, hielt von Zeit zu Zeit ein Referat über das »Kapital« oder über irgendein anderes politisch-ökonomisches Thema. Manchmal, wenn er in Stimmung war, sprach er auch über verschiedene philosophische Systeme, was sein Spezialfach war. Meine[[Besitz]] Bekanntschaft mit diesen Militärs war zu oberflächlich, als daß ich das Individuelle eines jeden von ihnen erkannt hätte. Aschenbrenner schätzte seine Kameraden, mit denen er eng befreundet war, sehr hoch. Er sprach von ihnen als von Menschen, die der Sache des Volkes sehr ergeben und bereit seien, für sie einzutreten. Wir schlugen ihnen vor, in die Organisation »Volks-Wille« einzutreten und sich mit dem Militärzentrum zu verbinden. Zu diesem Zweck sollte Suchanow kommen, aber er wurde verhaftet. Für ihn kam Butzewitsch, der dienstlich nach Nikolajew kommandiert war, um dort die Ingenieurarbeiten zu leiten. Ich gab ihm einen Empfehlungsbrief an Aschenbrenner und schlug ihm sofort eine Zusammenkunft mit den Odessaer Offizieren vor. Aber Butzewitschs Zeit war sehr beschränkt; er eilte nach Nikolajew, und versprach, auf dem Rückwege über Odessa zu kommen; erst im Dezember kam er wieder. Die Aufgabe, die Odessaer und Nikolajewer Offiziere in einer Organisationsgruppe zu vereinigen, die mit dem Zentralorgan zu verbinden wäre, war für Butzewitsch leicht, da sie sich gegenseitig kannten, durch mich und Aschenbrenner schon unterrichtet waren und sich bereit erklärt hatten, auf alles einzugehen, was Butzewitsch vorschlagen sollte. Und tatsächlich, die obengenannten Personen übernahmen die ernsten Verpflichtungen, die die Statuten auferlegten, und versprachen, beim ersten Appell des Militär-Zentrums mit der Waffe in der Hand vorzugehen und die ihnen untergebenen Soldaten mit sich zu führen. Auf diese Weise hatte Butzewitsch seine Mission erfüllt und die Verbindung zwischen den Offizieren des Nordens und des Südens hergestellt. Die ganze Militärorganisation umfaßte damals etwa 50 Personen. &&x &&am &&g1="Das_Parteizentrum_wird_nach_Moskau_verlegt" &&fa Das Parteizentrum wird nach Moskau verlegt &&fe &&ax Ende Oktober bekam ich vom Komitee die Aufforderung, nach Moskau zu kommen. Seit ich Petersburg verlassen hatte, war ein halbes Jahr vergangen. Ich hatte keine Ahnung, wie es um die Zentrale, die mittlerweile nach Moskau verlegt worden war, stehe. Leicht begreiflich, mit welcher Ungeduld ich das Wiedersehen mit jenen Genossen herbeiwünschte, die der Verhaftung in Petersburg entgangen waren. Es waren: Jury Bogdanowitsch, Korba, Gratschewski, Iwanowskaja und andere, die ich nach den Ereignissen, die uns in alle Richtungen versprengt hatten, dort zu treffen hoffte. Odessa war von den Erschütterungen der Märztage fast verschont geblieben, alles war seinen regelmäßigen Gang weiter gegangen; daher trafen mich die Veränderungen, die mich in Moskau erwarteten, vollkommen unvorbereitet. Voll Schmerz sah ich die ganze Bedeutung der Verluste, die das Vollzugskomitee kurz vor dem 1. März und insbesondere nach dem 1. März erlitten hatte. Der Sitz des Komitees war nur deshalb von Petersburg nach Moskau verlegt worden, weil es sich als absolut notwendig erwiesen hatte; diejenigen Mitglieder, die noch nicht in die Hände der Polizei geraten waren, konnten nach den Verhaftungen im März und April nicht länger in Petersburg bleiben. Ein längeres Dableiben hätte geheißen, sein Schicksal selbst zu besiegeln. Denn es war klar, daß irgend jemand, der die Organisationsmitglieder persönlich kannte, sie auf der Straße der Polizei verriet. Jede Verlegung des Zentrums einer revolutionären Partei aus der Hauptstadt in die Provinz muß naturgemäß die Partei schädigen. Wenn wir die revolutionäre Bewegung der 70er Jahre beobachten, so können wir feststellen, daß Petersburg immer der Herd der Bewegung war. Als Zentrum des Staatslebens und aller intellektuellen Kräfte des Landes war es der Ort, wo sich alle oppositionellen Elemente konzentrierten. Die Provinz bekam ihre Anweisungen von hier aus; hier wurden die Losungen des allgemeinen Kampfes formuliert, von hier aus kam die moralische Unterstützung, von hier aus spann die Organisation ihre Fäden. Alle wichtigeren politischen Prozesse, die eine ungeheure agitatorische Bedeutung hatten, fanden hier statt, hier weckten alle revolutionären Akte ihren stärksten Widerhall, hier konzentrierten sich die bedeutendsten literarischen Kräfte Rußlands, besonders jener Teil von ihnen, der mit den revolutionären Strömungen sympathisierte. Die revolutionären Organe wurden nur in Petersburg herausgegeben und von dort aus über ganz Rußland verbreitet. Die Arbeiterbevölkerung Petersburgs war für die Aufnahme der Ideen des Sozialismus und der Revolution am weitesten vorbereitet. In den Petersburger Fabriken war die Propaganda von jeher systematischer und in breiterem Umfange geführt worden als in irgendeinem anderen Industriezentrum. Die studierende Jugend Petersburgs war der Vortrupp der gesamten studierenden Jugend Rußlands: bei den Studentenunruhen in den höheren Lehranstalten war es immer Petersburg, das das Signal gab und an der Spitze einer jeden Bewegung schritt. Seit den 70er Jahren war Petersburg nie ohne revolutionäre Organisation gewesen. Petersburg verlassen, das revolutionäre Zentrum in eine andere Stadt verlegen, hieß den Boden unter den Füßen verlieren, aus dem bisher jede revolutionäre Organisation entstanden und gewachsen war. Ein solcher Beschluß kam beinahe einer Auswanderung gleich und bedrohte die Zukunft der Bewegung mit den schlimmsten Folgen. Moskau, wohin das Vollzugskomitee verlegt worden war, war eine Stadt ohne revolutionäre Tradition. Jede revolutionäre Organisation, die dort entstand, wurde gewöhnlich nach kurzer Zeit durch Verhaftungen zerstört, ohne daß eine andere Organisation die Arbeit der vorhergegangenen unmittelbar fortgesetzt hätte. Im Jahre 1874 gingen dort die {{Dolguschinzy}} zu Grunde und vor ihnen die {{Netschajewzy}}. Auch die Gruppe der Tschaikowzy in Moskau war keine selbständige, dem Boden Moskaus entwachsene Organisation, sie bestand aus einzelnen zugereisten Petersburgern; zahlenmäßig war sie gering, und sie trug nichts Neues in die Bewegung hinein. In den Jahren 1874 bis 1875 arbeiteten in Moskau alle jene, die später im Prozeß der 50 verurteilt wurden. Es waren keine festgewurzelten Moskauer, diese Züricher Studentinnen und Kaukasier, und obgleich sie in den Fabriken weitverzweigte Verbindungen anknüpften, konnten sie in Moskau keine tiefen Wurzeln schlagen. Menschen, die ihre Arbeit hätten fortsetzen können, hinterließen sie nicht. Auch der Verband »Land und Freiheit« hatte in Moskau keine organisierte Gruppe. Der »Volks-Wille« wollte Moskau nicht außerhalb seines Einflusses lassen und hatte bald nach seiner Bildung zwei hervorragende Komiteemitglieder hingesandt: P A Telalow und M N Oschanina. Sie[[1]] gründeten auch bald dank ihrer Energie eine lokale Gruppe, die sehr energisch unter den Arbeitern und der studierenden Jugend arbeitete. Infolge der Verlegung des Zentrums nach Moskau sank Petersburg im revolutionären Sinne vollkommen zur Bedeutung einer Provinzstadt herab. Allerdings bestand dort noch eine lokale Gruppe. &&x Ungeheuer war die quantitative und qualitative Veränderung in der Zusammensetzung des Vollzugskomitees. Es wäre töricht gewesen, sich dieser Tatsache zu verschließen – das Komitee des Jahres 1879 existierte nicht mehr. Wir alle sahen es, aber sonderbarerweise sprach niemand darüber. Wir versammelten uns, berieten die verschiedensten Fragen und gingen wieder auseinander, als sähen wir unsere verzweifelte Situation nicht. Von den früheren 28 Mitgliedern, die die Gründer des »Volks-Willens« und Mitglieder des Vollzugskomitees gewesen waren, waren nur 8 in Freiheit geblieben: drei Frauen – Korba, Oschanina (sehr krank) und ich, und fünf Männer: 1. Gratschewski, ein sehr energischer und der revolutionären Sache fanatisch ergebener Mensch, der als erfahrener Praktiker in der früheren Periode nur die technische Seite der Arbeiten geleitet hatte, ohne an den organisatorischen teilzunehmen. 2. Telalow, ein hervorragender Propagandist und Agitator und Gründer der Moskauer Gruppe, der früher infolge seines Aufenthalts in Moskau an der Tätigkeit des Komitees in Petersburg nicht hatte teilnehmen können. 3. Juri N Bogdanowitsch, Anfang der 70er Jahre Propagandist auf dem Lande, früher zu den »Tschaikowzy« gehörend. Er war ein sehr tüchtiger und tapferer Kamerad, aber im Umgang mit den Menschen sehr weich. 4. Saweli Slatopolski {{[Saweli Slatopolski]}}, der auf die Empfehlung Frolenkos und Kolodkewitschs ins Komitee aufgenommen worden war; weich und gütig, wie er war, gehörte er nicht zu jenen, die sich Ansehen und Einfluß zu verschaffen verstehen. 5. Lew Tichomirow {{[Lew Tichomirow]}}, unser ideologischer Wortführer, Theoretiker und Schriftsteller, zeigte schon im Jahre 1881 verschiedene Eigenheiten. Schon damals trug er wahrscheinlich den Keim zu jenem psychologischen Umschwung in sich, der ihn später zur vollkommenen Verleugnung seiner revolutionären Anschauungen bewogen hat. Aus dem Revolutionär und Republikaner wurde ein Monarchist, aus dem Atheisten ein Frömmler, aus dem Sozialisten ein Anhänger {{Katkows}} und {{Gringmuts}} Zwei reaktionäre Schriftsteller. Schon in Petersburg hatte er uns durch sein Benehmen in Erstaunen gesetzt. So z. B. erschien er nach dem 1. März plötzlich mit der Trauerbinde am Arm, wie die Militär- und Zivilbeamten sie nach dem Tod Alexanders II. trugen. Ein anderes Mal erzählte er uns, daß er in der Kirche dem neuen Kaiser den Eid geleistet hätte. Wir konnten uns diese Komödie nicht erklären, doch Tichomirow erklärte, sie sei notwendig, da sie ihn in den Augen des Portiers legalisiere. Es schien, als sei er vom Verfolgungswahn ergriffen. Als er in Moskau ein möbliertes Zimmer bewohnte, war er fest überzeugt, daß seine Zimmernachbarn Löcher in die Wand gemacht hätten, um die Gespräche in seiner Wohnung zu belauschen. Er gab sofort diese Wohnung auf, begab sich ins {{Troitzki-Sergewski}}-Kloster und ließ sich dort anmelden, um dadurch seine politische Verläßlichkeit zu beweisen und seinen Aufenthalt in Moskau zu legalisieren. Nie hat jemand von uns Illegalen zu solchen Tricks gegriffen, weder vor noch nach ihm. Aus dem Vorhergesagten geht klar hervor, was vom Komitee übriggeblieben war. Die Grundpfeiler unserer Organisation, die Initiatoren und Schöpfer des »Volks-Willens«, waren nicht mehr unter uns – sie waren von der revolutionären Bühne abgetreten, waren zum Teil hingerichtet worden, und die noch Lebenden, die sich in Haft befanden, erwartete ein hartes Urteil. Es war nur noch eine Wüste, es fehlte ebenso an geistigen politischen Arbeitern wie an technischen. Noch im Jahre 1879 konzentrierte das Vollzugskomitee alle revolutionären Kräfte in sich, es hatte alle diese Kräfte in den politischen Kampf gerissen, Ungeheures geleistet, aber gleichzeitig seinen ganzen Vorrat an Kräften verschwendet. Jetzt, im Jahre 1881, blieb nur noch eine kleine Gruppe übrig –, jene, die die Verteidiger in meinem Prozeß 1884 als »Schüler« charakterisiert haben. In ihrer neuen Zusammensetzung konnte die Zentrale des »Volks-Willens« unmöglich die frühere Rolle spielen. Mit dem Verlust seiner hervorragendsten Mitglieder hatte das Komitee seine Kampffähigkeit eingebüßt. Uns blieb nur die propagandistische und organisatorische Arbeit übrig; es war notwendig, unsere noch gebliebenen Kräfte zu sammeln. Die Arbeitsbedingungen waren sehr schwierig geworden. Die Spionage entwickelte sich bis zur Vollendung, Spezialisten und Meister auf dem Gebiete des politischen Polizeidienstes, der Spionage und Provokation, wie Sudejkin {{[Sudejkin]}}, standen der Regierung zur Verfügung, so daß die Anforderungen an die persönlichen Eigenschaften der Berufsrevolutionäre im Verhältnis zu jenen der 70er Jahre gesteigert werden mußten. Wir konnten nur reife Persönlichkeiten brauchen. Aber sie waren so selten. Mittelmäßige Parteiarbeiter für die Provinz waren genügend da, aber entsprechende Kandidaten für die Zentrale, an die wir ganz andere Anforderungen stellen mußten, waren nicht zu finden. &&x Aufs tiefste aufgewühlt durch die Ermordung Alexanders II. erwartete ein bedeutender Teil der Bevölkerung nach dem 1. März neue große Erschütterungen. Die öffentliche Meinung hatte, geblendet durch die Tätigkeit des Komitees, Illusionen in bezug auf die Kräfte, die hinter dem Komitee standen: hatte ja doch das Vollzugskomitee selbst wiederholt in seinen Veröffentlichungen erklärt, daß es den Zarenmord systematisch betreiben und die Waffen nicht eher niederlegen werde, als bis das Selbstherrschertum kapitulierte und freie Institutionen an die Stelle des Zarenregiments träten. In der Tat, als zwei Tage nach dem 1. März die Wohnung Sablins und Hesja Helfmans entdeckt worden war, und Sablin sich das Leben genommen hatte, schlug ich in der Sitzung des Komitees vor, das Käsegeschäft in der Kleinen Sadowaja nicht zu liquidieren, wie die Mehrheit des Komitees es wollte, sondern es noch einige Tage zu behalten, um von dem Laden aus ein neues Attentat gegen Alexander III. vorzubereiten. Bei der Besprechung der Vorgänge vom 2. und 3. März war es uns klar geworden, daß der neue Zar mit seiner Frau am Laden hätte vorbeifahren können. Dies erwägend, war ich der Ansicht, daß wir den Laden noch einige Zeit behalten sollten, um, falls der Zar vorbeifahren sollte, die Mine zu sprengen, die für seinen Vater bestimmt gewesen war. Ich wies darauf hin, daß das Risiko, das die Beteiligten dabei trugen, der Sache wert sei, daß das Vollzugskomitee das Recht habe, dieses Risiko auf sich zu nehmen … Alle übrigen Komiteemitglieder waren gegen mich. Ich konnte meinen[[Besitz]] Unmut nicht beherrschen und rief: »Das ist Feigheit!« Tichomirow und Langhans erwiderten voll Entrüstung: »Sie[[1]] haben kein Recht, so zu sprechen!« Die übrigen schwiegen, es blieb dabei, daß {{Jakimova}} und Bogdanowitsch sofort den Laden verlassen sollten. So geschah es, und als am 4. März der Portier bemerkt hatte, daß der Laden nicht geöffnet wurde, die Inhaber kein Lebenszeichen von sich gaben, benachrichtigte er die Polizei, die gleich darauf erschien. Sie[[1]] fand eine Handvoll Kupfermünzen mit einem Zettel vor, auf dem die Mieterin bat, mit dem Geld den Schlächter zu zahlen, bei dem sie für ihre Katze Fleischabfälle gekauft habe … Darauf setzte im öffentlichen Leben Grabesruhe ein. Wir waren zu geschwächt, sie zu stören, die öffentliche Meinung aber glaubte in ihr die Stille vor dem Sturm zu sehen. Auch die Regierung teilte diese Meinung und erwartete neue tragische Ereignisse. Diese gespannte Erwartung war ein charakteristisches Merkmal der öffentlichen Stimmung jener Zeit. Alle Unternehmungen des Komitees in der vergangenen Periode waren in tiefstes Geheimnis gehüllt gewesen: niemand ahnte, wann eigentlich und in welcher Form der Schlag fallen werde. Niemand wußte je, über welche Mittel und über welche technischen Möglichkeiten der »Volks-Wille« verfügte. Diese völlige Ungewißheit und die gleichzeitige Anerkennung des Vollzugskomitees als Vollstrecker von Rußlands Schicksal drückte, wenn auch in scherzhafter Form, in einer Unterredung mit mir nach den Ereignissen des 1. März Gleb Iwanowitsch Uspenski mit folgenden Worten aus: »Was wird Wera Nikolajewna jetzt mit uns vornehmen?« Unter Wera Nikolajewna verstand er selbstverständlich das Vollzugskomitee. Nach einer kurzen Periode des Schwankens und Zögerns seitens der Regierung war es klar, daß vom neuen Zaren nichts zu erwarten war. Die reaktionäre Richtung in der inneren Politik äußerte sich vollkommen deutlich, das Manifest des 29. April erklärte die Grundsätze des Selbstherrschertums als unerschütterlich: die Verabschiedung Loris-Melikows, {{Miljutins}} und {{Abasas}} zeigte, daß die liberalen Gesten, irgendwie den Bedürfnissen nach Freiheit entgegenzukommen, vorbei waren, und alles den alten Gang gehen werde. Aber wird die revolutionäre Partei, das Vollzugskomitee, zu all dem schweigen? Wird sie tatsächlich, nachdem ihre im Brief an Alexander III. formulierten Forderungen nicht erfüllt wurden, nichts unternehmen? Alle jene, die mit der alten Ordnung unzufrieden waren, glaubten nicht daran, wollten es jedenfalls nicht glauben. Das Benehmen der Regierung bestärkte sie darin: der neue Zar ließ sich nicht krönen, man sprach überhaupt nicht von der Krönung, und als einzige Erklärung dafür diente die Angst vor den Terroristen. Phantastische Gerüchte schwirrten im Publikum über die Absichten und Pläne des Vollzugskomitees. Man erzählte unter anderem, daß in Moskau schon Räume gemietet wären, von wo aus der Krönungszug in die Luft gesprengt werden sollte, und daß man Dachböden gemietet hätte, von wo aus Bomben geworfen werden sollten. Die Kunde ging von Mund zu Mund, daß der Käsehändler Kobosew {{[Kobosew]}} (d. h. Bogdanowitsch in eigener Person) mit terroristischen Absichten die Organisierung der Illumination der Stadt während der Festtage übernommen habe. Es hieß, er beschäftigte sich nach wie vor mit dem Käsehandel, kaufe Käse in der Provinz ein, fülle ihn mit Dynamit und bringe ihn nach Moskau, usw.. In den ersten Tagen nach dem 1. März war es Perowskaja, die, vom soeben Durchlebten in einem fieberhaft erregten Zustande, schon an einen Anschlag auf den neuen Zaren dachte. Sie[[1]] knüpfte Beziehungen zu verschiedenen Schneiderinnen, Wäscherinnen an, die für das Hofpersonal arbeiteten, und suchte auf alle mögliche Weise mit jenen Personen bekannt zu werden, die Zutritt zur kaiserlichen Familie hatten. Persönlich überwachte sie die Ausfahrten des Kaisers aus dem Anitschkow-Palais {{[Anitschkow-Palais]}}, bis sie endlich in der Nähe des Palais verhaftet wurde. Mit ihrer Verhaftung und der Verlegung des Komiteesitzes nach Moskau wurden diese fieberhaften Versuche eingestellt. Wir wußten genau, daß der Zar sich in {{Gatschina}} eingeschlossen hielt und dort wie ein Gefangener lebte, zu dem der Zutritt unmöglich war. Das Komitee unternahm nichts, und es wurden keine terroristischen Projekte, die während der Krönung ausgeführt werden sollten, erörtert. Ja, die Frage des Zarenmordes wurde nicht einmal aufgeworfen. Jedenfalls wurde während meines Aufenthaltes in Moskau bei den Beratungen überhaupt nicht darüber gesprochen, so unmöglich war ein ähnliches Unternehmen bei den Kräften, über die wir damals verfügten. &&x An Stelle jener, die unseren Reihen entrissen worden waren, fand ich als neue Mitglieder: Martynow {{[Martynow]}}, Lebedew {{[Lebedew]}} und Romanenko {{[Romanenko]}}. Als vierter ist noch Stefanowitsch zu nennen, der ebenso wie die alten Komiteemitglieder Telalow und Saweli Slatopolski in Petersburg tätig war. Martynow und Lebedew waren von Beruf Ärzte und gehörten der lokalen Gruppe an, die von Telalow und Oschanina gegründet worden war. Oschanina sprach mir viel von Martynow als einem äußerst interessanten, klugen, originellen Menschen und einem wunderbaren Improvisator im Erzählen. Er war ihrer Ansicht nach unter den Moskauern der Begabteste. Bei meinen[[Besitz]] persönlichen Begegnungen mit ihm und Lebedew machten mir beide keinen besonderen Eindruck. Ihre Bedeutung im Komitee war nicht groß, schon weil sie nur kurze Zeit als Mitglieder darin tätig waren. Martynow, der zur Arbeit nach Petersburg geschickt worden war, wurde schon im Januar 1882 verhaftet; kurz vorher, Mitte Dezember 1881, war Telalow verhaftet worden. Das Polizeidepartement hatte jedoch keine Ahnung, daß Martynow unserer Zentrale nahe gestanden hatte, und so kam er mit administrativer Verbannung davon. Sein Schicksal teilte Lebedew, der im Februar 1882 verhaftet wurde. Zwanzig Jahre später beteiligte sich Martynow, in einem anderen Prozeß nach Archangelsk verbannt, an einer wissenschaftlichen Expedition und wurde für seine Arbeit von der Akademie der Wissenschaften mit der goldenen Medaille ausgezeichnet. Gerasim {{[Gerasim]}} Romanenko kannte ich noch aus Odessa. Er war ein kluger, gebildeter Mensch, von Beruf Jurist. Er hatte eine elegante Gestalt und ein feines, durchgeistigtes Gesicht, das schon das Gepräge eines Lungenleidens trug. Sein bezauberndes Wesen nahmen mich und Kolodkewitsch sehr für ihn ein. Ich sah ihn oft, und wir entschieden über alle Angelegenheiten gemeinsam. Nach Goldenbergs Verhaftung in Jelisawetgrad {{[Jelisawetgrad]}} reiste Romanenko ins Ausland. In der Schweiz traf er Morosow und schrieb gemeinsam mit ihm eine Broschüre über den terroristischen Kampf, die Romanenko unter dem Pseudonym Tarnowski herausgab. Sie[[1]] führten dort aus, daß, wenn das Volk sich passiv verhalte und zur Revolution nicht reif sei, die revolutionäre Intelligenz dazu berufen sei, vermittels des systematischen politischen Terrors Revolution zu machen und dieser Aufgabe alle Kräfte zu widmen. Als die Broschüre nach Rußland gelangte, hatte das Komitee die Absicht, eine Erwiderung darauf in dem Organ des »Volks-Willens« zu veröffentlichen. Der »Volks-Wille« hat seine Aufgabe nie so eng aufgefaßt, wie es in der Broschüre geschah. Der »Volks-Wille« glaubte an das Volk und sah in ihm seinen Stützpunkt. In der Broschüre Morosows und Romanenkos war dagegen der Schwerpunkt der ganzen Bewegung in die Intelligenz verlegt, sie wurde dort zur einzigen Trägerin der revolutionären Idee gemacht, die fähig wäre, auch ohne das Volk die Freiheit zu erobern. Den Gedanken, eine Polemik gegen die Ausführungen der Broschüre Tarnowskis zu eröffnen, hat das Vollzugskomitee dann später aufgegeben. Romanenkos Tätigkeit hat in späteren Jahren ein klägliches Ende gefunden: er betätigte sich Anfang des XX. Jahrhunderts an der Seite des berüchtigten Pogromhetzers {{Kruschewan}}. Weder Romanenko noch Stefanowitsch hatten nach ihrer Rückkehr aus dem Auslande Zeit gefunden, ihre Tätigkeit als Mitglieder des »Volks-Willens« zu entwickeln. Stefanowitsch, der in Petersburg lebte, wurde am 6. Februar 1882 verhaftet, und Romanenko fiel noch früher in die Hände der Gendarmen. Er wurde in Moskau bei Olga Ljubatowitsch am 6. November 1881 verhaftet. Olga Ljubatowitsch war Mitglied des Komitees schon seit dem Jahre 1879 bald nach der Gründung des »Volks-Willens«. Ich kannte sie noch aus Zürich als einen lebhaften, energischen und sehr begabten Menschen. Das Polizeidepartement ahnte bei Romanenko ebensowenig wie bei Martynow und Lebedew, wie nahe sie dem Vollzugskomitee standen. Romanenko wurde mit Rücksicht auf sein Lungenleiden nicht nach Sibirien, sondern nach Taschkent verbannt. Olga Ljubatowitsch wurde abermals nach Sibirien verschickt. Telalow und Stefanowitsch wurden dem Prozeß der 17 angeschlossen und im Jahre 1883 zu Zwangsarbeit verurteilt. Stefanowitsch wurde in die Kara-Bergwerke geschickt, Telalow im Alexej-Vorwerk eingeschlossen, wo er an Unterernährung starb. Die Moskauer Organisation war zweifellos eine der besten Ortsgruppen des »Volks-Willens«; sie war umfangreicher und aktiver als alle anderen. Sie[[1]] befaßte sich mit Propaganda in den verschiedensten Kreisen der Intelligenz; für ihre Arbeit in den Fabriken verfügte sie über eine sogenannte »Arbeiter«-gruppe aus Intellektuellen, die wieder Untergruppen bildeten. Als im Juli 1881 Telalow Moskau verließ, trat an seine Stelle an die Spitze der Arbeitergruppe der uns schon bekannte Chalturin. Aber Chalturin unterschied sich in seinen Anschauungen von Telalow darin, daß er das Zweckmäßigere im Terror sah. Telalow hatte es für notwendig gehalten, alle Kräfte auf die Propaganda und Agitation zu konzentrieren. Der Organisator des Nordrussischen Arbeiterverbandes und der Urheber des Attentates im Winterpalast fand dagegen, daß bei der herrschenden Ordnung des Selbstherrschertums keine umfassende Organisationsarbeit in Rußland möglich sei; um diese Ordnung zu brechen, mußten nach seiner Meinung alle Kräfte auf den terroristischen Kampf konzentriert werden. Bald darauf ging er nach Odessa, um das Attentat gegen den Militär-Staatsanwalt Strelnikow {{[Strelnikow]}} vorzubereiten. Bei diesem Attentat ging er zu Grunde. &&x &&am &&g1="Die_Moskauer_Periode_und_ihr_Ende" &&fa Die Moskauer Periode und ihr Ende &&fe &&ax Wir standen in Moskau vor der Notwendigkeit, den für Petersburg seinerzeit niedergelegten Organisationsplan entsprechend jenen Bedingungen zu ändern, die infolge der Verlegung der Zentrale nach Moskau entstanden waren. Außerdem wollte das Komitee die Meinung seiner Mitglieder über eine neue Unternehmung hören. Es handelte sich um eine Organisation, die unter dem Namen die »Bruderschaft Christi« verschiedene Sektierer und Anhänger der altrussischen Konfession für die Sache der Revolution gewinnen sollte. In die Reihen dieser geheimen Gesellschaft wollte die Partei alle Gegner der offiziell herrschenden Kirche ohne Unterschied des Glaubens eingliedern, wobei die Hauptaufgabe des Bundes der Kampf gegen die herrschende Regierung und sein Endziel ihr Sturz sein sollte. Ganz besonders begeisterte sich für die Idee ein ehemaliger Narodnik-Propagandist aus dem Prozeß der 193, Franscholi {{[Franscholi]}}, der als Agent der Vollzugskomitees nach dem 1. März zusammen mit den Anderen nach Moskau übersiedelt war. Franscholi war aber schon über ein Jahr lang schwer krank und verließ das Bett überhaupt nicht mehr. In der Wohnung, die er mit seiner Frau Eugenie Sawadskaja {{[Sawadskaja]}}, einer Kollegin von mir aus Zürich, bewohnte, war die Druckerei untergebracht, die speziell die Literatur der Bruderschaft herstellte. Das ganze Unternehmen war von vornherein eine Totgeburt; es zeigte eine völlige Unkenntnis des religiösen Lebens des Volkes und blieb gänzlich resultatlos. Es ist aber interessant, festzustellen, daß der Gedanke, die Altgläubigen und Sektierer zum Kampf gegen die Regierung heranzuziehen, schon seit den 70er Jahren in den Köpfen der Revolutionäre spukte. Es schien, als sei ein Bündnis möglich, da das Bedürfnis nach politischer Freiheit, die die Gewissensfreiheit garantiert hätte, bei den schwer verfolgten Altgläubigen sehr rege sein mußte. Den revolutionären Parteien erschien es immer gänzlich ungereimt, daß 11 Millionen des russischen Volkes dem Kampfe gegen den gemeinsamen Feind, von dem sie die schwerste Verfolgung und Bedrückung wegen ihrer religiösen Überzeugungen zu erdulden hatten, gleichgültig gegenüberstehen konnten. Und so ist auch das Interesse für das Schisma und das Sektenwesen in den von der revolutionären Bewegung ergriffenen Kreisen nie erloschen. In den 70er Jahren pflegte jeder Revolutionär außer der Geschichte der Volksbewegungen und der Bauernaufstände unbedingt alles das zu lesen, was es in der russischen Literatur sowohl über die Fragen des {{Artel}} und der Dorfgemeinde als auch über die Geschichte des Schismas und des Sektenwesens gab. So sehr sie aber auch bemüht waren, mit den Sektierern und Schismatikern in engere Fühlung zu kommen, so scheiterten doch alle ihre schwachen Versuche an der harten Lebenswirklichkeit. Die Tschaikowzy Frolenko und {{Anossow}} im Ural, ebenderselbe Frolenko und Kowalski {{[Kowalski]}} im Jahre 1879 im Süden, Alexander Michailow im Jahre 1878 im Saratower Gouvernement, die »Narodnaja Wolja« im Gouvernement Twer, – immer wieder erneuerten wir die vergeblichen Versuche, in die Sektiererschichten des russischen Volkes mit revolutionären Ideen einzudringen. Einen Beweis dafür, wie zäh einmal eingebürgerte Ideen sich zu halten vermögen: noch in den Jahren 1912 bis 1913 vertrat der Veteran der revolutionären Bewegung, Natanson, in Gesprächen mit mir die Idee, daß die Altgläubigen und Sektierer Elemente seien, auf die sich eine revolutionäre Partei im Kampf um die politische Freiheit stützen könne. &&x In Moskau übergab ich dem Komitee zahlreiche Beschwerden über die Behandlung, die der militärische Staatsanwalt Strelnikow in Kiew und Odessa den Verhafteten und ihren Verwandten zuteil werden ließ. Strelnikow nahm Massenhaussuchungen und Verhaftungen vor bei Leuten, deren Namen von Untersuchungsgefangenen genannt worden waren, die aber in keiner Beziehung zu der revolutionären Bewegung standen. Sein Grundsatz war: lieber neun Unschuldige verhaften als einen Schuldigen laufen lassen. Gegen die Angeklagten wurden die schwersten Beschuldigungen erhoben und Geständnisse von ihnen erpreßt. Drohungen wie die, daß sie nie mehr das Gefängnis verlassen würden, wenn sie nicht die geforderten Aussagen machten, waren gang und gäbe. Wenn die Verhafteten sich trotzdem weigerten, die verlangten Aussagen zu machen, so hatte seine Wut keine Grenzen. Man erzählte, daß er in Kiew während eines Verhörs in Gegenwart des Staatsanwalts den Arbeiter {{Piroschenkow}} an der Kehle gepackt und gewürgt habe. Nach einem Fluchtversuch {{Urussows}} fragte er die Gendarmen: »Habt ihr ihn erschlagen?« »Nein.« – »Aber geschlagen habt ihr ihn doch?« – Nein!« »Schlimm genug!« – erwiderte darauf der General. Von verdächtigen Personen, die noch nicht in seine Klauen geraten waren, sprach er nicht anders als: »Ach, wenn ich bloß diesen Schuft schon in meinen[[Besitz]] Händen hätte!« Die Verwandten der Verhafteten peinigte er unerhört. Seine übliche Antwort auf das Flehen der Mütter war: »Ihr Sohn wird gehängt!« Strelnikows Verhalten zu den Juden war einfach empörend. Es war ihm ein Vergnügen, sich an den Qualen seiner Opfer zu weiden. Sein Ruf war der eines herzlosen und grausamen Menschen, der freiwillig die Rolle des Henkers übernommen habe. Ich unterbreitete dem Komitee den allgemeinen Wunsch, diesem Henker das Handwerk zu legen. Sein Vorgehen fügte der Partei großen Schaden zu. Strelnikow riß in den Augen der Öffentlichkeit unsern guten Ruf herunter, da sie keine Kontrolle über die erpreßten Aussagen der Verhafteten haben konnte. Ich wies auch auf das Vermächtnis unserer Genossen Ossinski und Popow hin, Strelnikow zu beseitigen. Mein Antrag wurde angenommen und das Schicksal Strelnikows besiegelt. Ich wurde vom Komitee beauftragt, nach Odessa zu gehen und das Nötige zu organisieren. Nach zwei Wochen Aufenthalt in Odessa hatte ich das nötige Material in Händen. Das Komitee sandte darauf Chalturin zur Vollstreckung des Todesurteils. Er kam am 31. Dezember 1881. Ich übergab ihm zur nochmaligen Prüfung alles, was ich von Strelnikows Gewohnheiten in Erfahrung gebracht hatte. Doch plötzlich verschwand Strelnikow aus Odessa und blieb fast einen Monat fort. Es war schon Mitte Februar, als er wieder in Odessa auftauchte und neue Verhaftungen vornahm, die ununterbrochen bis zu seinem Tode anhielten. Wir beschlossen mit Klimenko {{[Klimenko]}}, der vom Komitee gesandt war, um Chalturin beizustehen, das Attentat auf Strelnikow während seines Spaziergangs zu vollziehen. Ein Gespann sollte bereitstehen, um die Flucht zu ermöglichen. Die Gefahr lag nahe, daß die Massenverhaftungen auch jemand von uns, die wir die Sache organisierten, treffen könnten. Wir beschlossen, die Sache zu beschleunigen. Ich beschaffte die 600 Rubel, die zum Ankauf von Pferd und Wagen nötig waren, und übergab sie Chalturin. Meine[[Besitz]] weitere Anwesenheit in Odessa gefährdete die Sache, da man Helena Iwanowna Kolossowa {{[Helena Iwanowna Kolossowa]}} – ich führte damals diesen Namen – schon in der ganzen Stadt suchte: Menschen, die mich nie gesehen hatten, erzählten einander, daß man die Kolossowa suche. Einige meiner Freunde wurden verhaftet, bei anderen waren Haussuchungen, wobei ihnen ein Lichtbild von mir vorgezeigt wurde. Man erzählte auch, daß der Arbeiter Merkulow, der im Prozeß der 20 Narodowolzy verurteilt und zu dem Zwecke wieder freigelassen worden war, um ihn zum Verräter an seinen früheren Kameraden zu machen, speziell nach Odessa geschickt sei, um mich auf der Straße zu stellen. Alles sprach also für meine[[Besitz]] Abreise. Noch ehe ich Odessa verließ, bekamen wir die Nachricht, daß ein Agent des Komitees, {{Schelwakow}}, der Chalturin an Stelle Klimenkos beistehen sollte, zu uns komme. Am 18. März führten beide mit Erfolg das Attentat auf Strelnikow aus, konnten aber nicht flüchten, und beide wurden hingerichtet. Ich kam Mitte März 1882 nach Moskau zurück und stieg in der ärmlichen, engen Wohnung der {{Andrejewa}} ab; sie war gleich ihrem Bruder Mitglied der Moskauer Ortsgruppe. Meine[[Besitz]] Rückkehr nach Moskau fiel in eine sehr ungünstige Zeit. Im Februar hatten Massenverhaftungen stattgefunden, die in die ganze Arbeit große Verwirrung hineingetragen hatten. Am 10. März flog die Wohnung auf der Sadowaja auf, deren Inhaber Bogdanowitsch war. Oschanina, die vorsichtiger gewesen war, hatte die Wohnung rechtzeitig verlassen. Man wußte nicht, wer kompromittiert, wer bespitzelt sei, und wer jeden Augenblick verhaftet werden konnte, es herrschte jene Ungewißheit, in der alle Beziehungen untereinander zeitweilig abgebrochen werden. Es ging das Gerücht um, daß jemand von der Ortsgruppe »offenherzige Aussagen« mache. Es herrschte die Stimmung »rette sich, wer kann«. Franscholi und Sawadskaja gingen nach Saratow und von dort nach Charkow. Tichomirow und seine Frau gingen nach Rostow am Don und schickten von dort aus eine Genossin zu mir mit der Bitte, ihnen einen Auslandspaß zu beschaffen. Trotz meiner Mahnungen und Proteste gingen sie bald darauf ins Ausland. Oschanina, deren Gesundheit ganz zerrüttet war, ging nach Paris und kam auch nicht mehr nach Rußland zurück. Alle diese Nachrichten und Gerüchte machten den niederdrückendsten Eindruck. Bald darauf kam Slatopolski zu mir, brachte den Aufruf des Vollzugskomitees anläßlich der Tötung Strelnikows und bestand darauf, daß ich Moskau verlasse, ohne andere Mitglieder der Organisation zu sehen. Wir beschlossen, daß ich nach Charkow gehen solle, wo wir keinen Vertreter des Komitees neben der Ortsgruppe hatten, da die Genossin Schebunew, die dort bis vor kurzem gearbeitet hatte, ihren Mann nach Sibirien begleiten wollte. Zwei Wochen später, am 13. April, wurde auch Slatopolski verhaftet. Die Druckerei wurde geschlossen, ihr Personal ging auseinander. Das war das Ende der Moskauer Periode. &&x &&am &&g1="Auf_der_Suche_nach_einer_neuen_Zentrale" &&fa Auf der Suche nach einer neuen Zentrale &&fe &&ax In Charkow fand ich eine kleine Ortsgruppe, die aus tüchtigen und energischen Kampfgenossen bestand. Die Hauptform – ja, die einzige Form der Tätigkeit der Gruppe war die Propaganda unter den Arbeitern. Charkow war in jener Zeit noch eine unbedeutende Provinzstadt, weder als Industrie- noch als kulturelles und Bildungszentrum hervorragend. In der Universität war keine Opposition vorhanden, wie in Petersburg, Moskau und Kiew. Das kleine tierärztliche Institut stand bei den Revolutionären in besserem Ruf als die Universität. Fügen wir noch die Schule für Medizinerinnen hinzu, so war mit diesen drei Anstalten der Betätigungskreis der revolutionären Partei in den Schulen erschöpft. Die Charkower Gruppe hatte wenig Fühlung mit der Intelligenz und der Studentenschaft, und ihre wenigen Anhänger unter den Studenten stellten kein besonders wertvolles Material dar. Der Wirkungskreis der Gruppe erstreckte sich außer auf Charkow noch auf einige Städte der nächsten Umgebung (Poltawa {{[Poltawa]}}, Rostow am Don, Jelisawetgrad usw.). Die Gruppe verfügte über sehr geringe Geldmittel, sodaß der Besuch der umliegenden Städte mit den größten Schwierigkeiten verbunden war. Im Juni erfuhr ich, daß in Petersburg die Komiteemitglieder A Korba, Gratschewski und mit ihnen zusammen der Leutnant A R Butzewitsch, der damals in Petersburg eine sehr rege Aktivität entfaltete, verhaftet worden waren; auch die Dynamitwerkstätte war ausgehoben worden, und gleichzeitig wurden einige Personen verhaftet. Das versetzte dem Vollzugskomitee den Todesstoß. Da Oschanina und Tichomirow ins Ausland abgereist waren, so war ich der einzige und letzte Vertreter des Komitees in Rußland. Meine[[Besitz]] Tätigkeit konzentrierte ich nun darauf, die Kräfte, die uns geblieben waren, zu sammeln, um an Stelle der zerstörten Zentrale eine neue zu schaffen. Die Lage war katastrophal. In Petersburg und Moskau war die Organisation gänzlich zerstört, die Verbindungen mit diesen Städten waren ganz abgebrochen. In Odessa war nach der Strelnikow-Periode und dank der Verräterei Merkulows nichts von der Organisation übrig geblieben. Die Führer der Kiewer und Charkower Organisation hatten noch wenig Erfahrung in der Arbeit. Mit G Tschernjawskaja {{[Tschernjawskaja]}} und Surowzew {{[Surowzew]}}, den letzten Mitgliedern der Moskauer Organisation, die vor deren Liquidierung zu flüchten vermochten (die dritte Genossin, die mit ihnen arbeitete, P Iwanowskaja, kam zu mir nach Charkow), und mit Sergej Degajew {{[Sergej Degajew]}} vereinbarte ich, daß wir alle in Charkow uns versammeln sollten, um den weiteren Plan unserer Tätigkeit auszuarbeiten. In der Zwischenzeit ging ich nach Kiew, um die dortige Gruppe kennenzulernen. Sie[[1]] beschäftigte sich mit Propaganda unter den Arbeitern, der Jugend und anderen Elementen der Gesellschaft, sowohl in Kiew selbst als auch in den nächsten Ortschaften und Städten. Ihrer quantitativen wie qualitativen Zusammensetzung nach war sie der Moskauer Gruppe fast ebenbürtig. Die Genossen, die ich in Kiew kennenlernte, machten auf mich einen ausgezeichneten Eindruck. Ich beschloß, Spandoni {{[Spandoni]}} als den Erfahrensten zur Arbeit im Zentrum heranzuziehen. Er willigte ein und kam seitdem öfters nach Charkow, wo er sich vollständig der Organisation zur Verfügung stellte. &&x Weder nach der Petersburger noch nach der Moskauer Periode hatten wir irgendwelche Geldmittel übrig behalten, und so war für uns die Geldfrage die akuteste. Spandoni wußte einen Ausweg. In seiner Verbannungszeit hatte er Eugenie Subbotina (Mitangeklagte im Prozeß der 50) kennengelernt, die einst gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Schwestern ein großes Vermögen der revolutionären Tätigkeit geopfert hatte. Subbotina äußerte Spandoni gegenüber ihre Bereitschaft, die letzten ihr zur Verfügung stehenden 8000 Rubel dem gleichen Zweck zu opfern, bat sich nur von der revolutionären Partei aus, ihr eine Unterstützung von 25 Rubel monatlich nach ihrem Verbannungsort zu schicken. Das Geld wurde bei einer Verwandten der Subbotina, Wera Andrejewna Schatilowa {{[Andrejewna Schatilowa]}}, aufbewahrt, die einst auch der revolutionären Propaganda nahegestanden hatte, und die ich zufällig aus Moskau, noch vom Jahre 1876 her, kannte. Aber seit 1878, seitdem die Mutter Subbotina und ihre beiden Töchter in die Verbannung geschickt waren und die dritte Tochter Subbotina dort gestorben war, stand Schatilowa der revolutionären Tätigkeit fern. Spandoni hatte Schatilowa den Entschluß Eugenie Subbotinas, das Geld der Partei zur Verfügung zu stellen, mitgeteilt. Ich sollte gleichzeitig nach Orel fahren, wo Schatilowa wohnte, um sie in dieser Angelegenheit persönlich zu sprechen und von ihr das Geld in Empfang zu nehmen. Auf dem Wege dorthin wollte ich einen Abstecher nach Woronesch machen, um dort Surowzew ausfindig zu machen und gleichzeitig jenen Gutsbesitzer zu besuchen, der einst Mitglied der Gruppe »Freiheit oder Tod« gewesen war und nach der Spaltung von »Land und Freiheit« unserer Partei 23 000 Rubel geopfert hatte. Trotzdem beide schon seit Jahren der revolutionären Bewegung fern standen, hoffte ich dennoch auf ihre Bereitwilligkeit, der Partei in dieser kritischen Lage zu helfen. Es waren heiße Sommertage, als ich meine[[Besitz]] Reise antrat. Ich war sehr niedergeschlagen. Das Auffliegen der Petersburger Organisation, das der Moskauer Gruppe, von dem Iwanowskaja mir berichtet hatte, Mißerfolge, die ich bei Versuchen, Verbindungen mit dem Norden herzustellen, erlitten hatte – all das bedrückte mich. Während meines Aufenthaltes in Kiew beauftragte ich ein Mitglied der dortigen Organisation, Nikitina {{[Nikitina]}}, nach Petersburg zu gehen, um sich dort über die Lage zu orientieren. Kaum war sie dort angekommen, als sie auch schon verhaftet wurde. Darauf schickte ich das beste Mitglied der Charkower Organisation, Komarnitzki {{[Komarnitzki]}}, hin. Auch er verschwand spurlos. Aus dem Norden kamen furchtbare Gerüchte über die Tätigkeit Sudejkins. Dieser Gendarm stellte sich allen Verhafteten als Sozialist vor; er sagte, er sei Anhänger der friedlichen Propaganda und bekämpfe daher den Terror. Allen Verhafteten schlug er vor, in den Dienst der Polizei zu treten – wie er erklärte, sollte das geschehen, nicht um Genossen in die Hände der Regierung zu liefern, sondern ausschließlich, um sich über die Stimmung unter der Jugend und in der Partei zu informieren. Er bewertete die Dienste der Verräter nicht besonders hoch. Er machte seinen niederträchtigen Vorschlag auch Komarnitzki, den man beim ersten Blick als einen ernsten, klugen und ehrlichen Menschen erkennen konnte. Er bot ihm 25 Rubel monatlich. In Orel wurde ich von Schatilowa sehr herzlich empfangen. Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse und Sorgen, gemeinsame Freunde und Sympathien verbanden uns. Der herzliche Empfang ließ mich hoffen, daß ich in der Angelegenheit, die mich zu Schatilowa führte, Erfolg haben werde. Aber es war mir unmöglich, mit Schatilowa über die Lage, in der sich die Partei in diesem Moment befand, zu sprechen und sie um Geld zu bitten. Stand ja doch Wera Andrejewna schon seit fünf Jahren der revolutionären Bewegung fern. Ich konnte keine Worte finden, um mit ihr über die Geldangelegenheit zu sprechen. Ich schrieb ihr einen Brief. Ich berief mich auf Spandoni, auf den Wunsch Subbotinas, ich bat, wenigstens einen Teil des Geldes herauszugeben, das Eugenie dem Genossen Spandoni versprochen hatte. Die Antwort der Schatilowa war, es sei ihr unmöglich, meinen[[Besitz]] Wunsch zu erfüllen, sie müsse die schriftliche Anordnung Subbotinas abwarten. Innerlich totwund reiste ich nach Woronesch. Doch hatte ich auch dort keinen Erfolg. Der Gutsbesitzer, auf den ich meine[[Besitz]] Hoffnungen gesetzt hatte, lehnte unter vielen Ausflüchten ab, mir Geld für die Partei, die im Augenblick keinen Erfolg aufzuweisen hatte, zu geben. Surowzew traf ich malariakrank und in den schwersten Verhältnissen lebend an. Er hatte keine Wohnung und übernachtete auf freiem Felde. Wenn es nachts sehr kalt war, kroch er unter ein umgestülptes Boot. Der einzige lichte Eindruck, den ich aus Woronesch davontrug, war eine alte Frau, bei der ich untergebracht worden war. Sie[[1]] war eine Hostienbäckerin, die außerhalb der Stadt in ihrem eigenen Häuschen wohnte. Sie[[1]] begrüßte mich mit warmer Herzlichkeit. Ihr ganzes Gesicht strahlte. Als ich von ihr Abschied nahm, sagte sie mir, bei ihr hätte eine zeitlang Chalturin gewohnt. Sie[[1]] wisse nicht, was wir tun und warum die Regierung uns verfolge. Sie[[1]] sei aber sicher, daß wir gute Menschen seien, und sie sei bereit, uns zu helfen, soweit sie nur könne. Jahrelang blieb das geistige Bild dieser Frau in meiner Erinnerung. Nie hörte es auf, mir ein Trost und eine Freude in schweren Stunden zu sein. Bald darauf kam Surowzew nach Charkow. Er brachte 600 Rubel mit. Das Geld war bei der alten Frau geliehen worden; es waren die Ersparnisse ihres ganzen Lebens, die zukünftige Mitgift ihrer Tochter. Ich war empört, daß Surowzew das Geld genommen hatte. Wir konnten verhaftet werden, ohne die Möglichkeit zu haben, das Geld zurückzugeben. Glücklicherweise erhielt Schatilowa bald die geforderte Bestätigung der Subbotina und schickte Spandoni das Geld. So konnten wir das geliehene Geld zurückerstatten. &&x Laut Vereinbarung kam Sergej Degajew mit seiner Frau im September aus dem Kaukasus nach Charkow. Bald nach seiner Ankunft erhielten wir von dort die Nachricht über das Auffliegen des von A P Korba im Herbst 1881 organisierten Offizierzirkels … Ich hatte Degajew und seine Familie im Herbst 1880 in Petersburg kennengelernt. Meine[[Besitz]] Komiteekollegen stellten ihn als einen sehr fähigen und klugen Menschen hin, der der Partei sehr ergeben sei. Ich war mit diesem Urteil nicht einverstanden, sondern war der Meinung, daß er nichts Individuelles, Eigenes, Festes in sich hatte. Er schien mir vom ersten Augenblick an weich und nachgiebig. Vor[[Präposition]] den Mitgliedern des Komitees, mit denen er zu tun hatte, verbeugte er sich auf eine kriecherische und abgeschmackte Weise. Dank seinem nachgiebigen Charakter stand Degajew in guten Beziehungen zu allen. Wir schätzten ihn, weil er für uns wichtige Verbindungen zu unterhalten wußte. So organisierte er z. B. im Institut der Verkehrswege einen Zirkel, dem auch {{Kunitzki}}, ein hervorragendes Mitglied der polnischen revolutionären Partei »Proletariat«, später angehörte. Auch war Degajew ein nützlicher Vermittler zwischen dem Komitee und den Militärgruppen in Petersburg und Kronstadt. Von Korba erfuhr ich dagegen über Degajew etwas, was nicht besonders geeignet war, ihn in unseren Augen zu heben. Zweimal kam er nämlich mit ihr auf die Frage seiner Aufnahme in das Vollzugskomitee zu sprechen. So etwas kam unter uns Revolutionären nur sehr selten vor und galt nicht gerade als ein Sympathie verdienender Zug. Ich persönlich bemerkte keinen kleinlichen Ehrgeiz an Degajew. Nach seiner Ankunft in Charkow erzählte mir Degajew, wie er jene anderthalb Jahre verbracht hatte, während deren ich ihn nicht gesehen hatte. Nach dem 1. März war er unter Anklage der Beteiligung an dem Attentat in der Kleinen Sadowaja verhaftet worden. Es sei ihm aber trotzdem gelungen, den Krallen der Zarenjustiz zu entgehen. Ich war über dieses Glück nicht wenig erstaunt. Der Einzige, der ihn damals verraten konnte, war der Verräter Merkulow; es war aber keine leichte Sache, sich von den Anzeigen dieses Schurken weißzuwaschen! Später erst stellte ich fest, daß mir Degajew einen sehr wichtigen Vorgang aus jener Periode seines Lebens ganz verschwiegen hatte. Sergej Degajews Bruder Wolodja {{[Wolodja]}} war nämlich mit {{Slatopolskis}} und Sergej Degajews Genehmigung in den Dienst Sudejkins getreten. Er sollte Sudejkin irreführen; ohne ihm tatsächlich irgendwelches Material über die Tätigkeit der Revolutionäre zu liefern, hatte er vielmehr die Aufgabe, der Partei über die Tätigkeit Sudejkins zu berichten. Im Frühjahr 1882 war Sudejkin zu der Überzeugung gekommen, daß Wolodja Degajew für ihn wertlos sei, und verzichtete auf seine Dienste. Daraufhin dachte man in Petersburg etwas Neues aus, um die Verbindungen mit Sudejkin aufrechterhalten zu können: Wolodja Degajew ließ Sudejkin wissen, daß sein Bruder Sergej Verdienstgelegenheit suche und bereit sein würde, Zeichenarbeiten bei ihm zu übernehmen. Sudejkin willigte ein und gab Degajew die in Frage kommende Arbeit. Degajew sah Sudejkin einige Male, führte mit ihm (laut seiner Berichterstattung an Gratschewski) rein geschäftliche Gespräche und verreiste bald darauf nach dem Kaukasus, ohne das für Gratschewski nötige Material beschafft zu haben. &&x &&am &&g1="Die_letzten_Versuche" &&fa Die letzten Versuche &&fe &&ax Nachdem wir im Juni Gratschewski, Korba, Butzewitsch, {{Pribylew}} und andere in Petersburg verloren hatten; nachdem Iwanowskaja, die ich nach Witebsk {{[Witebsk]}} geschickt hatte, um die dortige Druckerei nach dem Süden zu überführen, dort verhaftet worden war; nachdem Franscholi, der aus Saratow zu mir nach Charkow gekommen war, sich aus Gesundheitsrücksichten als untauglich für jede Arbeit erwiesen hatte, betrachtete ich Degajew und Spandoni als die einzigen Kandidaten, die für die Zentrale in Frage kamen. Ich weihte Degajew, wie schon früher Spandoni, in die ganze Lage ein und schlug ihm vor, mit uns beiden an der Spitze der Organisation zu arbeiten. Degajew hörte stillschweigend zu und willigte in den Vorschlag ein. Aber weder Spandoni noch Degajew waren ihrer Aufgabe gewachsen. Sie[[1]] hatten weder eine bestimmte Meinung über die vor uns stehenden Aufgaben, noch waren sie imstande, eigene Initiative zu entfalten. Sie[[1]] ordneten sich mir völlig passiv unter und billigten ohne Widerspuch alle meine[[Besitz]] Vorschläge. Ich empfand das Unzureichende meiner Kräfte, und dieses Bewußtsein verursachte mir viel Qual. Das erste Komitee hatte soviel geleistet, nicht nur, weil ihm so hervorragende Menschen angehörten, sondern auch, weil diese Menschen eine glückliche Zusammenstellung der verschiedenartigsten, einander ergänzenden Typen bildeten. Neben dem Theoretiker Tichomirow standen der Praktiker Frolenko, der Agitator Scheljabow und die Organisatoren Kwatkowski und Alexander Michailow – so hatte sich ein harmonisches Ganzes ergeben. Der Niedergang des Vollzugskomitees begann mit der Verhaftung einzelner Komiteemitglieder, wodurch die Harmonie und das Gleichgewicht des Ganzen zerstört wurde. Ich tat alles mögliche, um etwas Ähnliches wie die alte Zentrale zu schaffen. Vielleicht wählte ich meine[[Besitz]] Mitarbeiter unglücklich, aber ich konnte nur das Material verwenden, das mir zur Verfügung stand. Blickt man heute auf die achtziger Jahre zurück, so stellt man fest, daß einzelne Persönlichkeiten und Gruppen immer wieder dieselben fruchtlosen Versuche unternahmen, das wieder ins Leben zu rufen, was tatsächlich nicht mehr lebensfähig war. Der »Volks-Wille« als Organisation hatte sich überlebt. In Rußland gab es zu jener Zeit nicht mehr so viele revolutionäre Kräfte, daß die Organisation trotz der Massenverhaftungen und des raffinierten Spionagedienstes das hätte leisten können, was sie in den Jahren 1879 bis 1881 geleistet hatte. Doch hatte der »Volks-Wille« das seinige getan. Er hatte Rußland, diesen passiven, unbeweglichen Koloß, erschüttert. Auch gingen seine Erfahrungen für die weitere Entwicklung nicht verloren; das Bewußtsein, die politische Freiheit sei unbedingt notwendig und infolgedessen der aktive Kampf unvermeidlich, blieb den folgenden Generationen eingeprägt, in allen späteren revolutionären Programmen tritt die politische Freiheit als Hauptforderung auf. In seinem Streben nach einer freien Gesellschaftsordnung war der »Volks-Wille« der Vortrupp der russischen Intelligenz. Dieser Vortrupp eilte zum mindesten um ein Vierteljahrhundert der Gesamtarmee voraus und blieb vereinsamt. Die »Narodnaja Wolja« glaubte, daß die Katastrophe des 1. März, die dem Zaren den Todesstoß versetzte, gleichzeitig die lebendigen Kräfte der mit ihrer ökonomischen Lage unzufriedenen Volksmassen entfesseln werde, daß die Massen sich in Bewegung setzen und den günstigen Moment benutzen würden, um ihre politischen Forderungen kundzugeben. Das Volk aber stand dem 1. März teilnahmslos gegenüber, und die Gesellschaft verharrte in Schweigen. So kam es, daß die »Narodnaja Wolja« keine Stützpunkte in der Gesellschaft und keine Basis im Volke fand, und die Versuche vergeblich blieben, die Organisation wieder aufzubauen, um den aktiven Kampf gegen die bestehende Ordnung fortzusetzen. Alle Bemühungen, etwas Dauerhaftes zu schaffen, blieben erfolglos, die neu auftauchenden Organisationen gingen zu Grunde, ehe noch der Augenblick zu aktivem Handeln gekommen war. Die »Narodnaja Wolja« schien nach ihren ersten politischen Erfolgen vollständig isoliert zu sein, und das lag einesteils an dem niedrigen kulturellen Niveau des Bauerntums, das wiederum eine Folge der geringen wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands überhaupt war, zum anderen Teil am Fehlen eines Industrieproletariats im westeuropäischen Sinne, an der Unmöglichkeit, das gedruckte und lebendige Wort an die Volksmassen zu richten. Man mußte erst das Fundament legen, eine neue Partei auf der Grundlage der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands aufbauen. Das mußte das Werk der Zukunft sein. Eine neue Partei mußte entstehen – ihr Keim war der »Bund für die Befreiung der Arbeit«, der Kern der zukünftigen Sozialdemokratischen Partei, die sich aus der Arbeiterklasse aufzubauen begann. Aber, wie das immer so ist, konnte das Alte nicht plötzlich von der Schaubühne zurücktreten. Die Generation, die sich an der Bewegung der »Narodnaja Wolja« beteiligt hatte, die in der glänzenden Periode der Tätigkeit des Komitees erzogen und durch das Beispiel seines heldenmütigen Kampfes beseelt worden war, konnte unmöglich auf die Hoffnung verzichten, den Kampf in demselben Geist und in denselben Formen fortzuführen. Nachdem ich Degajew und Spandoni die allgemeine Lage geschildert hatte und zwar: den vollständigen Zusammenbruch des Vollzugskomitees, das Einstellen seiner ganzen Verlagstätigkeit, die Stillegung seiner Druckereien, den Zusammenbruch seiner Finanzen, die Erschöpfung seiner lebendigen Kräfte in Odessa, Kiew, Charkow, Orel, Moskau und Saratow und den Abbruch der Beziehungen zu Petersburg, – schlug ich vor, vor allen Dingen an die Wiedererrichtung der Zentrale zu gehen; dann mußte die Presse neu ausgebaut werden, denn sie war und blieb der bedeutendste Exponent der Parteitätigkeit. Laut meinem Vorschlag sollten wir die uns in der Zentrale fehlenden Kräfte den Militärorganisationen entnehmen. Zu diesem Zweck sollten die Betreffenden den Militärdienst aufgeben, aus der Militärorganisation als aktive Mitglieder austreten und sich vollauf der Tätigkeit im Zentrum widmen. Geeignete Kräfte außerhalb der Militärorganisation sah ich nicht, während die allgemeine Parteilage nicht annehmen ließ, daß diese Organisation in der nächsten Zukunft für ihre eigenen Zwecke nötig sein würde. Wenn schon im Januar-Februar 1881 das Vollzugskomitee zu der Einsicht gelangt war, daß es an organisierten Kräften für einen Versuch zum militärischen Aufstand fehlte, so konnte davon um so weniger im Jahre 1882, nach so vielen Verlusten, die Rede sein. Die Mitglieder der Militärorganisation waren der Partei gegenüber verpflichtet, auf ihre Aufforderung hin zur Waffe zu greifen. Da in nächster Zukunft eine solche Aufforderung nicht zu erwarten war, so verlor auch die in Frage kommende Verpflichtung der Mitglieder der Militärorganisation jeden reellen Sinn und setzte trotzdem die Betreffenden nutzlos einem äußerst schweren Risiko aus. Unter diesen Umständen hielt ich es für das Zweckmäßigste, fünf der besten Offiziere aus der Militärorganisation abzuberufen, um sie in der Zentrale zu verwenden. Ich wußte, daß die Militärgruppen in Odessa und Nikolajew ihre Existenz kaum fristen konnten und daß in der Petersburger Gruppe ähnliches vorging. Ich schlug vor, daß Degajew beauftragt werde, die Gruppen in Petersburg, Odessa und Nikolajew in dieser Angelegenheit zu besuchen; er sollte sich dann mit seiner Frau in Odessa als Inhaber der Geheimdruckerei niederlassen, die ich in der Zwischenzeit einrichten wollte. Wir handelten diesen Beschlüssen entsprechend. Aber das Glück war uns nicht günstig. Pochitonow, der im Poltawaer Gouvernement diente, konnte sich nicht zu dem von ihm verlangten Schritt entschließen, weil er krank war; die Ärzte meinten, daß er im Falle einer Verhaftung Gefahr laufe, geisteskrank zu werden. Er wurde trotzdem bald darauf verhaftet. Während seiner Haft in der Schlüsselburg ist er tatsächlich wahnsinnig geworden. (Er starb 1896 in einer Petersburger Irrenanstalt.) Rogatschew dagegen hatte sich nach längerer Unterredung mit mir einverstanden erklärt, den Militärdienst aufzugeben und sich ausschließlich der revolutionären Tätigkeit zu widmen. In Odessa hatte Degajew zwar die Einwilligung Aschenbrenners, aber die Absage Kraiskis bekommen. Die Antwort {{Sawalischins}} aus Petersburg, wo Degajew – ganz wie ich vorausgesehen – die Militärorganisation sehr träge vorgefunden hatte, war unbestimmt. &&x Am 15. Oktober – Degajew war noch auf Reisen – suchte mich in Charkow Michajlowski {{[Michajlowski]}} Berühmter russischer Schriftsteller. auf. Der Zweck seines Besuches war folgender: ein Bekannter von ihm, ein Schriftsteller, hatte ihn im Auftrag einer hochstehenden Persönlichkeit (des Grafen {{Worontzow-Daschkow}}) gebeten, als Mittelsmann zwischen der Regierung und der »Narodnaja Wolja« zu sondieren, ob die Partei nicht geneigt wäre, mit der Regierung einen Waffenstillstand zu schließen. Die Regierung wäre des Kampfes müde und wollte Frieden haben. Sie[[1]] wäre sich darüber klar, daß eine Erweiterung des Rahmens der gesellschaftlichen Freiheit notwendig sei, und wäre bereit, den Weg der Reformen einzuschlagen. Sie[[1]] hielte es aber für unmöglich, Zugeständnisse unter dem Druck des Terrors zu machen. Der Terror allein verhinderte die Verwirklichung der Reformen. Sobald der »Volks-Wille« sich entschließen würde, seine terroristische Tätigkeit aufzugeben, sollten Reformen eingeleitet werden. In diesem Falle wäre die Regierung bereit, anläßlich der Krönung ein Manifest zu erlassen mit der Erklärung voller politischer Amnestie, der Pressefreiheit, der Freiheit friedlicher sozialistischer Propaganda. Um ihren aufrichtigen Willen zu beweisen, wäre sie geneigt, einen der Narodowoltzy {{[Narodowoltzy]}} – z. B. Issajew – freizulassen. Ich war der Meinung, daß dieser Vorschlag nur eine Wiederholung jener Komödie sei, die der zarische Staatsanwalt Dobrschinski {{[Dobrschinski]}} gegenüber Goldenberg mit Erfolg aufgeführt hatte. Auch er hatte Goldenberg versichert, daß allein der Terror die Regierung daran hindere, den Weg der Reformen einzuschlagen, und ihn beschworen, der Regierung im Interesse der Freiheit im Kampf gegen ihre politischen Feinde behilflich zu sein. Goldenberg hatte sich betören lassen; doch als er eingesehen hatte, wie er betrogen worden war, erhängte er sich in der Peter-Paulsfestung (im Sommer 1880). Ich persönlich war überzeugt, daß Michajlowskis Mission keinen anderen Zweck verfolge, als entweder der Regierung einen ungestörten Verlauf der Krönung zu sichern, oder Anhaltspunkte zu finden, um die Organisation des »Volks-Willens« auszuspionieren. Als ich Michajlowski darauf hinwies, wie wenig ernst die Angebote der Regierung seien, wie gefährlich es wäre, mit ihr in Verbindung zu treten, stellte er mir die Frage: »Ist die Partei imstande, gegenwärtig irgendwelche terroristischen Akte zu unternehmen?« Ich sah mich gezwungen, das zu verneinen. Da sagte mir Michajlowski: »In diesem Falle habt ihr nichts zu verlieren, könnt aber immerhin manches gewinnen!« Wir einigten uns dahin, daß ich kategorisch ablehnte, mich in Rußland in irgendwelche Verhandlungen in der fraglichen Angelegenheit einzulassen, und daß Michajlowski seiner Mittelsperson erklären sollte, er habe kein Mitglied des Vollzugskomitees in Rußland ausfindig machen können, da sich alle im Auslande befänden. Ich wollte gleichzeitig Tichomirow und Oschanina von der ganzen Angelegenheit unterrichten und ihnen anheimstellen, gegebenenfalls nach ihrem Gutdünken zu handeln, wobei keinerlei von ihnen übernommene Verpflichtungen uns in Rußland binden sollten. Degajew und Spandoni hatten nach ihrem Eintreffen meine[[Besitz]] Entscheidung vollauf gebilligt, und wir schickten eine Genossin nach Paris zu Tichomirow, die wir zu diesem Zweck aus Odessa kommen ließen. Wir begannen nun mit der Einrichtung der Parteidruckerei. Wir konnten auf die literarische Mitarbeit Michajlowskis, der sie mir während seines Besuches in Charkow zugesagt hatte, und {{Lessewitschs}}, den ich einigemal in Poltawa besucht hatte, rechnen. Surowzew holte in Moskau das typographische Material und ließ es nach Odessa schicken. Als Hilfe für Degajew und seine Frau, in deren Wohnung die Druckerei eingerichtet werden sollte, hatte ich eine sehr passende Genossin, die Schwester eines zu Zuchthaus verurteilten Revolutionärs, Marie Kaluschnaja {{Kaluschnaja}}, ausfindig gemacht. Mitte November 1882 begaben sich zuerst Degajews nach Odessa, dann folgten ihnen Surowzew und Kaluschnaja. Spandoni sollte als Verbindungsmann zwischen der Druckerei und der Außenwelt tätig sein; seine Aufgabe war, der Druckerei Manuskripte zuzustellen und gedruckte Schriften abzuholen. &&x &&am &&g1="Das_Ende_meiner_Tätigkeit" &&fa Das Ende meiner Tätigkeit &&fe &&ax Gegen den 20. Dezember kam die Nachricht aus Odessa, daß unsere Druckerei entdeckt und alle fünf Personen, die mit ihr in Verbindung gestanden, also: Degajew mit seiner Frau, Kaluschnaja, Surowzew und Spandoni verhaftet worden waren. Kaum fünf Wochen hatte die Druckerei bestanden, und schon war das ganze Unternehmen zusammengebrochen! Das war ein furchtbarer Schlag! Die letzte Hoffnung auf ein schnelles Wiedererscheinen des Parteiorgans war vernichtet. Die breiten Kreise der Gesellschaft sowie die Regierung beurteilten aber gewöhnlich den Stand der revolutionären Sache nach dem jeweiligen Vorhandensein oder Fehlen einer Parteipresse. Ein schweres, beklemmendes Gefühl erfaßt mich jedesmal, wenn ich an jene dunkle Periode zurückdenke. Ich sah deutlich, daß alle meine[[Besitz]] Bemühungen, die Arbeit wieder aufzubauen, zu nichts führten, und daß meine[[Besitz]] ganze Tätigkeit ergebnislos verlief. Was immer ich auch ausdachte, – alles brach zusammen und riß jene, die ich zur Arbeit herangezogen, in den Abgrund. So gingen damals zu Grunde: Nikitina, Komarnitzki und Iwanowskaja, außer ihnen noch fünf Menschen in Odessa. Ich setzte meine[[Besitz]] ganze Kraft ein, alles blieb vergeblich. Und wie hätte ich nachlassen sollen in einer Zeit, wo junge, freiheitsdurstige Seelen auf mich voll Hoffnung schauten und moralischen Halt bei mir suchten? Ich erinnere mich eines Briefes, den ich damals bekam. Ein mir bekanntes junges Mädchen, das illegal, wie ein gehetztes Wild von der Polizei verfolgt, lebte und nicht mehr wußte, wohin flüchten und was anfangen, schrieb mir: am dunklen Horizont ihrer verdüsterten Seele leuchte nur noch ein heller Stern, und der wäre ich. Nach meiner Verhaftung beging sie Selbstmord – sie warf sich unter einen Zug. Und hatte ich nicht Tichomirow geschrieben, er hätte kein Recht, ins Ausland zu reisen? Daß wir kein Recht hätten, die Arbeit, die wir begonnen hatten, im Stich zu lassen, daß seine Abreise demoralisierend auf die revolutionären Kreise wirke? Alles um mich her wankte, brach zusammen; ich blieb allein, um, wie der ewige Wandrer Eugen Sues {{[Sues]}}, den Leidensweg zu wandeln, ohne das Ende abzusehen. Jetzt noch mehr als in den vorhergegangenen Monaten lebte ich ein Doppelleben: Nach außen hin war ich ruhig, voll Zuversicht, doch in der Stille der Nacht dachte ich voll Schwermut und Grauen: Ist es das Ende? Mein Ende? Am nächsten Tag setzte ich wieder die Maske auf, und meine[[Besitz]] Penelopenarbeit {{[Penelopenarbeit]}} begann von neuem. Als im Oktober Michajlowski mich in der obenerwähnten Angelegenheit besuchte, fragte er mich beim Abschied, welche Absichten ich hätte, was ich zu tun gedächte? Ich erwiderte ihm: »Ich werde weiter die gerissenen Fäden aufnehmen und die Enden zusammenknoten.« Michajlowski nahm meinen[[Besitz]] Kopf in seine beiden Hände und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Erst viel später, als ich seine, nach seinem Tode erschienenen Zeilen über mich las, begriff ich, was ihn, der mir gegenüber nie impulsiv gewesen war, zu diesem Benehmen veranlaßt hatte: er küßte mich für meine[[Besitz]] Unbeugsamkeit, mit der ich das einmal gesteckte Ziel verfolgte. Ich glaube kaum, daß irgendeiner meiner oberflächlichen Bekannten meine[[Besitz]] wirkliche Stimmung von damals bemerkte oder erriet. Aber jene, die mir näher standen, fragten mich wiederholt, warum ich so oft in Gedanken verloren in die Ferne schaue? Es lag wohl daran, daß meine[[Besitz]] Seele ununterbrochen wiederholte: wie schwer, wie grenzenlos schwer ist das Leben! Und die Augen verloren sich unbewußt ins Weite, weil in dieser Weite irgendwo das Ende lag! Aber noch Schlimmeres stand bevor. Das Auffliegen der Geheimdruckerei in Odessa war nur die äußere Seite des Unglücks, es gab noch eine andere, einstweilen verborgene, die die verhängnisvollsten Folgen hatte. Die Druckerei war am 20. Dezember von der Polizei beschlagnahmt worden. Am 23. Januar 1883 erging an mich die Aufforderung, schleunigst zu meinen[[Besitz]] Freunden zu kommen. Als ich dort eintrat, blieb ich wie versteinert stehen. Vor[[Präposition]] mir stand Degajew, der Inhaber der Druckerei, die in Odessa aufgeflogen war. »Was ist geschehen? Wieso sind Sie[[1]] hier?« fragte ich ihn hastig, zitternd vor Freude und Erregung. »Ich entfloh,« flüsterte Degajew. Er war bleich, erregt und hatte das Aussehen eines Menschen, der von Unruhe aufgerieben war. Dabei erzählte er mir folgendes: es sei ihm ein Rätsel, wieso die Polizei die Druckerei aufgespürt habe. Vielleicht waren es die mit dem Buchdruckermaterial gefüllten Kisten gewesen, die durch ihre Schwere die Aufmerksamkeit der Gepäckträger geweckt und eine Denunziation veranlaßt hatten. Nach seiner Verhaftung dachte er sofort an Flucht. Er gab Kiew als seinen letzten Aufenthaltsort an, ehe er nach Odessa gekommen war. Er bat, man möge ihn zur Untersuchung seiner Sache dorthin befördern. Nach längerem Zögern willigten die Gendarmen ein. Als die Gendarmen ihn spät abends in einer Droschke zum Bahnhof schafften, schleuderte er ihnen im Moment, als sie durch öde Felder zwischen der Stadt und dem Bahnhof fuhren, Tabak in die Augen, sprang aus der Droschke und entfloh. In Odessa – so erzählte Degajew weiter – fand er eine Zuflucht bei den Offizieren, die er während seines Besuches der Militärorganisation kennengelernt hatte. Nach einigen Tagen begleitete ihn einer dieser Offiziere in einem Wagen nach Nikolajew, von dort aus war er am Abend nach Charkow gekommen. &&x »Wo haben Sie[[1]] hier übernachtet? Haben Sie[[1]] etwa die ganze Nacht auf der Straße verbringen müssen?« fragte ich voll Mitleid. – »An einem schlimmen Ort,« erwiderte Degajew in sichtbarer Verlegenheit. Auch ich geriet in Verwirrung, die sich dadurch erklärte, daß ich die Bezeichnung »ein schlimmer Ort« in einem ganz bestimmten Sinne verstanden hatte; bei Degajew rührte sie aber davon her, daß, wie sich später herausstellte, er sein Obdach nicht bei Dirnen, sondern ganz wo anders gefunden hatte. Weder ich noch die Genossin Tschernjawskaja, die ich veranlaßte, mit Degajew zusammen eine Wohnung zu nehmen, machten uns über Degajews »Flucht« irgendwelche Gedanken. Wir analysierten weder die Umstände der Flucht, noch gingen wir seinem Bericht auf den Grund. Degajew war ja kein Neuling in der revolutionären Bewegung, und im Laufe seiner revolutionären Tätigkeit war er mehr als einmal in schwierigen Situationen gewesen, aus denen sich herauszuwinden ihm immer gelungen war. Das gegenseitige Vertrauen war zudem die Grundlage unserer Beziehungen. Degajews äußeres Wesen erklärten wir uns durch die Tatsache, daß er seine Frau – die ja eigentlich der revolutionären Partei nicht angehörte und nur des Mannes wegen das Risiko der Geheimdruckerei auf sich genommen hatte – in den Krallen der Gendarmen wußte. Erst später erinnerte ich mich an einzelne sonderbare Äußerungen, die man als Warnungen von seiner Seite hätte deuten können, wenn uns nicht jeder Verdacht vollkommen fern gelegen hätte. So sagte er mir einmal, von den in Odessa Verhafteten plaudere einer aus der Schule. Wer das sein könnte, fragte ich ihn. »Jemand von den Illegalen,« erwiderte er. Und als ich darauf hinwies, daß alle dort Verhafteten – seine Frau, Surowzew, die Kaluschnaja – ganz zuverlässige Leute wären, bestand er dennoch auf dem Gesagten. Damals wußte ich nicht, was davon zu halten wäre. Erst später kam ich auf den Gedanken, seine Andeutungen könnten eine Warnung oder noch eher eine niederträchtige Unterstellung enthalten. In der Tat ließen die Gendarmen die Kaluschnaja bald nach der Verhaftung frei. Sofort wurde das Gerücht laut, sie hätte verraten. Allem Anscheine nach hatten die Gendarmen selbst dieses Gerücht absichtlich verbreitet. Das ehrliche Mädchen, empört bis aufs Äußerste, feuerte auf den Gendarmerieoffizier {{Katanski}} Revolverschüsse ab. Dafür zu Zuchthaus verurteilt, verübte Kaluschnaja später in dem Karaer {{[Karaer]}} Zuchthaus nach der berühmten {{Sigida}}-Exekution Selbstmord. Wollte nicht Degajew mit seinen Andeutungen den Verdacht auf Kaluschnaja lenken? Aber zu jener Zeit war ich ahnungslos. Einst, als Degajew und Tschernjawskaja bei mir waren, fragte mich Degajew, ob ich in Charkow ganz sicher wäre. Ich antwortete mit Überzeugung: »Vollkommen sicher.« »Sind Sie[[1]] dessen so gewiß?« fragte er noch einmal. »Gewiß,« erwiderte ich, »ausgenommen der Fall, daß ich Merkulow auf der Straße begegne. Doch das scheint mir ganz unwahrscheinlich.« Später einmal fragte Degajew gelegentlich, wann ich früh morgens meine[[Besitz]] Wohnung verlasse. Ich konnte auch in dieser Frage unmöglich etwas Verdächtiges vermuten und erwiderte: »Gewöhnlich um 8 Uhr morgens. Ich wohne«, erklärte ich, »in Charkow mit den Ausweispapieren einer Hörerin der Kurse zur Ausbildung von Arztgehilfinnen, und diese gehen gewöhnlich um diese Zeit zu den Vorträgen.« Ein anderes Mal fragte mich Degajew, ehe er mich verließ, ob ich nicht in unserem Hause noch einen anderen Ausgang außer der Gartentür hätte. Ich antwortete, daß es einen solchen noch gäbe, ich ihn aber nie gebrauchte. Degajew nutzte alle diese Informationen aus. Ein oder zwei Tage später, am 10. Februar, ging ich wie gewöhnlich um 8 Uhr aus dem Hause. Kaum hatte ich etwa zehn Schritte gemacht, als ich auf Merkulow stieß. Ein Blick – wir erkannten einander. Er ging ruhig weiter. Kein Gendarm, kein Schutzmann in der Nähe. Ich setzte meinen[[Besitz]] Weg fort und überlegte die Lage. Es war keine Möglichkeit vorhanden, irgendwo zu verschwinden. In der Nähe gab es weder Durchgangstore, noch wohnte ein Bekannter hier. Ich überlegte, was ich in der Tasche hatte. Ein Notizbuch mit zwei, drei Namen von Personen, die der Organisation fern standen, außerdem den Abschnitt einer Postanweisung über nach Rostow abgesandte Parteigelder. Diesen mußte ich vernichten. Ich ging immer weiter. Plötzlich war ich von Gendarmen umgeben, die wie aus dem Boden gewachsen von allen Seiten auftauchten. Ein Augenblick später – und ich befand mich unter der Eskorte von zwei Gendarmen im Schlitten, der uns nach dem Polizeirevier brachte. In einem besonderen Zimmer begann man mit der Leibesvisitation. Ich bemerkte sofort, daß die zu diesem Zweck herbeigerufenen Frauen in dieser Sache keine Erfahrung hatten. Ich nahm aus dem Geldbeutel die Postquittung und steckte sie in den Mund. Die Frauen schrien um Hilfe. Ein Gendarm lief herein und packte mich an der Kehle. Ich lachte zum Schein auf, als ob ich zeigen wollte, daß es zu spät wäre. Der Gendarm ließ meinen[[Besitz]] Hals frei. Es war nicht leicht, den steifen Papierzettel zu schlucken, es gelang mir erst später. Ein Gendarmerieoffizier nahm ein kurzes Protokoll auf. Auf seine Frage nach meinem Namen antwortete ich: »Wenn ihr mich verhaftet habt, so müßt ihr doch wissen, wer ich bin.« In diesem Moment betrat Merkulow das Zimmer. Mit seiner frechen Miene und üblichen schnellen Redeweise fragte er: »Na, haben Sie[[1]] das erwartet?« »Schuft!« entfuhr mir die Antwort. Und unwillkürlich machte ich eine drohende Handbewegung. Der Feigling fuhr zurück. Man beförderte mich in das Gefängnis, ließ mich dort die Sträflingskleidung anziehen und zwang mich, Milch zu trinken. Man befürchtete, ich hätte Gift geschluckt, da man die Stückchen gelben Kalis, die ich im Geldbeutel hatte und als chemische Tinte gebrauchte, für Zyankali hielt. Die Polizei wollte mich auf jeden Fall am Leben erhalten. Am nächsten Tage war ich in Begleitung von zwei Gendarmen unterwegs nach Petersburg. &&x &&am &&g1="In_Untersuchungshaft" &&fa In Untersuchungshaft &&fe &&ax Es war an einem Sonnabend – der Tag neigte sich seinem Ende zu – als wir Petersburg erreichten. Ich wurde im Hause des Polizeidepartements in einer Zelle untergebracht. Da der folgende Tag ein Sonntag war, konnte ich ungestört meinen[[Besitz]] Gedanken nachhängen. Woran dachte ich? An wen? – An meine[[Besitz]] Mutter, die ich seit Jahren nicht gesehen, an das bevorstehende Wiedersehen mit ihr, an den Gram, der sie erwartete … Im Polizeidepartement blieb ich drei Tage. Später erfuhr ich, daß meine[[Besitz]] Verhaftung in den höheren Sphären der Gesellschaft freudige Überraschung hervorgerufen hatte. Als Alexander III. die Nachricht von meiner Verhaftung erhielt, soll er freudig erregt ausgerufen haben: »Gott sei Dank, endlich ist diese schreckliche Frau arretiert!« Der Sohn des damaligen Justizministers Nabokow {{[Nabokow]}} erinnerte sich später noch aus seiner Kindheit, wie hoch erfreut sein Vater über das Telegramm war, das die Nachricht von meiner Verhaftung brachte. Im Polizeidepartement drängten sich die Beamten müßig in den Gängen und gafften mich an. Die vorhergegangenen politischen Prozesse, in denen mein Name so oft genannt worden war, machten mich augenscheinlich zum Gegenstand ihrer Neugier. Man zeigte mich auch den hohen Würdenträgern: dem Direktor des Polizeidepartements, Plehwe {{[Plehwe]}}, dem Minister des Inneren, Graf D A Tolstoj, und dem Staatssekretär des Inneren, Orchewski {{[Orchewski]}}. Plehwe benahm sich grob. Nachlässig mit dem Kopf nach den an der Wand aufgestellten Stühlen weisend, stieß er undeutlich durch die Zähne: »Nehmen Sie[[1]] sich einen Stuhl!« Als ich mich gesetzt hatte, begann er mich zu verhöhnen. Es wäre unmöglich, jemanden von den Studierenden zu verhaften, der nicht mit Begeisterung von mir spräche. »Kann eine solche Begeisterung für Sie[[1]] wirklich etwas bedeuten?« Er zuckte verächtlich die Achseln und fuhr ironisch fort: »Vielleicht wären Sie[[1]] jetzt nicht abgeneigt, jene gesellschaftliche Stellung einzunehmen, die Sie[[1]] einst verschmäht haben.« Als ob er in die Seele eines vom illegalen Leben zermürbten Menschen tief hineinblicken wollte, fügte er noch hinzu: »Übrigens sind Sie[[1]] vielleicht so müde, daß sie sich über das eingetretene Ende freuen.« Orchewski benahm sich höflicher. Er verhielt sich wie ein guterzogener Mensch aus besseren Kreisen. Den Takt wahrend, weich in seinen Manieren, bemühte er sich, mich zu einer politischen Unterhaltung zu bewegen. Ich wich diesen Versuchen aus und erklärte, daß es zweckmäßiger wäre, meine[[Besitz]] politischen Auffassungen vor Gericht darzulegen. Tolstoj war gutmütig und einfältig, wie es seinem hohen Alter entsprach. »Wie bescheiden Sie[[1]] aussehen!« begrüßte er mich. »Ich erwartete etwas ganz anderes« … Er begann sofort über die klassische Bildung zu sprechen, über den Widerwillen, den die Revolutionäre gegen dieses System hegten, über die bösen Ränke, die sie gegen sein Leben schmiedeten. Dann ging er zu den politischen Morden über, zu den Attentaten gegen die Mitglieder des Herrscherhauses insbesondere. Er sagte: »Was können Sie[[1]] durch diese Methode erreichen? Sie[[1]] werden einen Zaren töten – an seine Stelle tritt ein anderer.« Er sprach geistlos, schwach und in einem Tone, wie etwa ein Großvater zu seiner Enkelin. Es lohnte sich nicht einmal, ihm zu erwidern. »Schade,« sagte er zum Schluß, »daß ich zu wenig Zeit habe, ich würde Sie[[1]] bekehrt haben.« Ich wollte nicht, daß er das letzte Wort behalte und sagte deshalb: »Ich bedauere ebenfalls. Ich glaube, ich hätte Sie[[1]] zu einem Narodowoletz {{[Narodowoletz]}} gemacht.« Dieser Scherz ist zum geflügelten Wort geworden. Der Staatsanwalt Dobrschinski fragte mich bei der nächsten Vernehmung: »Stimmt es, daß Sie[[1]] die Hoffnung gehabt haben, den Grafen Tolstoj zu ihrem Glauben zu bekehren?« Ich antwortete lächelnd: »Warum sollte ich nicht?« Ich wurde aus dem Polizeidepartement in die Peter-Pauls-Festung gebracht. Dort blieb ich bis zur Gerichtsverhandlung, also 20 Monate lang. Anfangs wurde ich einige Male ins Polizeidepartement zum Verhör gerufen. Ich hatte sofort nach meiner Verhaftung erklärt, daß ich nicht die Absicht habe, etwas von meiner revolutionären Tätigkeit bis zum 1. März 1881 zu verheimlichen, da meine[[Besitz]] Aussagen lediglich schon bekannte Ereignisse und Menschen, die bereits verurteilt worden waren, berühren würden. Was dagegen die spätere Zeit betrifft, so könne ich über sie keine Aussagen machen. Da mir die Fahrten nach der Stadt und die Gespräche mit den Staatsanwälten lästig und peinlich waren, bat ich, mir Papier und Schreibzeug in meine[[Besitz]] Gefängniszelle zu geben, damit ich dort meine[[Besitz]] Aussagen niederschreiben könne. So ist das Dokument entstanden, das viele Jahre später im Jahre 1917 nach dem Sieg der Revolution entdeckt und veröffentlicht worden ist. Anderthalb Monate waren vergangen, als einmal ein hochgewachsener, älterer Gendarmeriegeneral in meine[[Besitz]] Zelle trat. »Mein Name ist Sereda {{[Sereda]}},« sagte er. »Ich bin durch Allerhöchsten Befehl bestellt worden, die politische Propaganda in den Truppen des ganzen Reichs zu untersuchen.« Er nahm meine[[Besitz]] Hand und küßte sie trotz meines Widerstandes. »Sie[[1]] sind ein guter Mensch«, sagte er. »Ihr Unglück war, daß Sie[[1]] nach der Heirat keine Kinder gehabt haben!« Nach dieser eigenartigen Einleitung erklärte er mir auf meine[[Besitz]] Frage, ob er die Absicht habe, einen Monsterprozeß einzuleiten, um auf diese Weise Karriere zu machen, daß er nur die aktivsten Revolutionäre vor Gericht zu stellen gedächte. Er hat auch tatsächlich so gehandelt: er hat dem Gericht 14 Angeklagte, darunter 6 Militärpersonen, übergeben, obgleich er es mit Dutzenden hätte machen können. Dann begann der General, mir sein Herz auszuschütten. Er sei kein Reaktionär und kein Anhänger des bestehenden Systems. Er sei nur durch seine Schulden gezwungen, im Dienst zu bleiben. Er sei für die Freiheit, wenn er auch keine Sympathie für politische Morde empfinde. Er verstehe den Barrikadenkampf, könne aber auf keinen Fall den Dolchstoß in den Rücken begreifen. Nach diesem Besuch ließ man mich in Ruhe. Meine[[Besitz]] Aussagen waren noch vor diesem Besuch fertiggestellt und abgeliefert worden. Sie[[1]] stellten eine Skizze der revolutionären Bewegung und gleichzeitig eine Autobiographie dar. Sereda hatte sie vor seinem Besuch bei mir gelesen; sie machten auf die Gendarmen einen starken Eindruck. Einer von ihnen sagte mir, daß sie von Hand zu Hand gingen und wie ein Roman gelesen würden. Der Staatsanwalt, der spätere Justizminister N W Murawjow, hat einige Jahre später meinem Mann A V[[Steno]] Filipow, der im Justizministerium als Beamter tätig war, eine Abschrift zum Lesen gegeben. &&x In mein Leben trat Stille ein. Der übererregte Zustand, hervorgerufen durch die Verhaftung, durch das Neue der Lage, durch den Rückblick in die Vergangenheit, anfangend mit der Kindheit und endend mit dem Eintritt ins Gefängnis –, ein Rückblick, den wahrscheinlich alle anstellen, die das Gefängnis betreten und ihr Leben als beendet ansehen, und der so natürlich ist –, diese Erregung legte sich allmählich, und das graue, einförmige Leben begann, das nur durch Lesen ausgefüllt wurde. Tage und Wochen hindurch sprach ich kein Wort. Ich hatte alle zwei Wochen einmal ein Wiedersehen von 20 Minuten mit Mutter und Schwester. So schrieb es das Gesetz vor. Zwei Gitter, einen Meter voneinander entfernt, trennten uns. Kein einzigesmal durfte ich die Hand der Mutter küssen. Einmal, als mir besonders schwer zumute war, bat ich den Inspektor, mir das doch zu erlauben. Ich hatte so ein starkes Bedürfnis, mich an sie anzuschmiegen, mit meinen[[Besitz]] Lippen ihre kleine, warme Hand zu berühren. Vergeblich! Das Gesetz ließ es nicht zu. Im Frühling erwachte in mir die Sehnsucht nach Blumen. Nur ein Blümchen wenigstens wollte ich haben. Meine[[Besitz]] Schwester brachte mir eine Hyazinthe mit, doch ich durfte sie nicht bekommen. Es war verboten, in der Festung irgend etwas den Gefangenen zu übergeben, und der Inspektor blieb unerbittlich. Im Sommer reiste meine[[Besitz]] Mutter in das Kasaner Gouvernement, meine[[Besitz]] Schwester Olga auf die Insel Ösel {{[Ösel]}} zur Kur, und ich sah lange Zeit hindurch niemand. Schweigen, ewiges Schweigen ringsum. Viel später las ich einmal in den Erinnerungen des im {{Petraschewskiprozeß}} verurteilten {{Achscharumow}}, daß er, als er sich in der Festung in ähnlicher Lage befand, sich bemühte, die Tätigkeit seiner Stimmbänder zu bewahren, indem er laut las. Ich selbst kam nicht auf diesen Gedanken. Meine[[Besitz]] Stimmbänder wurden immer schwächer, die Stimme brach und schwand dann ganz; meine[[Besitz]] tiefe Altstimme wurde dünn vibrierend, wie nach einer langen Krankheit: die Worte lösten sich schwer und stockend von der Zunge. Gleichzeitig mit diesem physischen Zusammenbruch veränderte sich auch meine[[Besitz]] ganze Psyche. Es entstand der Wunsch, die Stimmung – zu schweigen. Ich wollte immer schweigen, und wenn es doch notwendig wurde, zu sprechen, irgend etwas zu sagen, so war dazu eine ungeheure Willensanstrengung und große Selbstüberwindung erforderlich. Im Herbst kehrte meine[[Besitz]] Mutter nach Petersburg zurück und besuchte mich wieder regelmäßig. Mir wurde es sehr schwer, zum Wiedersehen hinauszugehen. Und je länger, desto schwerer wurde mir dieses Hinaustreten aus meiner Einsamkeit, aus meinem Schweigen. Wozu? Wozu das Tempo meines Lebens unterbrechen, die natürliche Tagesordnung und die Stimmung verändern? Wozu das seelische Gleichgewicht durch ein Wiedersehen von 20 Minuten zerstören, in welchem man nicht weiß, was sagen, worüber sprechen, wonach fragen, um dann nach der Rückkehr in die Zelle lange keine Ruhe zu finden und schließlich wieder für zwei Wochen im Schweigen zu erstarren? Jedesmal, wenn die Gendarmen die Tür aufschlossen und ihr monotones »zum Wiedersehen« erschallte, hatte ich den dringenden Wunsch, zu sagen, daß ich dieses Wiedersehen nicht mehr wolle. Und nur der Wunsch, Mutter und Schwester nicht zu erschrecken, nicht zu ängstigen, ließ mich immer wieder aufstehen und hinausgehen. Wieder verging viel Zeit. Einmal, ich weiß nicht mehr genau wann, wurde meine[[Besitz]] Einsamkeit durch folgenden Zwischenfall unterbrochen: Man rief mich eines Tages in die Kanzlei. Dort erwartete mich Romanow, einer der zehn Staatsanwaltsadjunkten, die die Untersuchung im Prozeß führten. »Wera Nikolajewna,« sagte er sofort, »ich bin zu Ihnen in einer besonderen Angelegenheit gekommen, und ich wende mich an Sie[[1]], weil ich sicher bin, daß Sie[[1]] die Wahrheit sagen werden.« Verwundert und beunruhigt durch diese Einleitung fragte ich ihn, um was es sich handle. Er fuhr fort: »Es handelt sich um die Flucht Wasili Iwanows {{[Wasili Iwanows]}} aus dem Kiewer Gefängnis. Zwei Gefängnisaufseher, die der Mithilfe an der Flucht beschuldigt wurden, hat man zu Zwangsarbeit nach Sibirien verurteilt und schon abtransportiert. Unterdessen aber hat der Offizier Tichonowitsch {{[Tichonowitsch]}}, der in Ihren Prozeß mitverwickelt ist, kategorisch erklärt, daß er Iwanow während seines Dienstes ohne irgendwessen Mithilfe aus der Zelle und aus dem Gefängnis hinausgeführt habe. Diese Aussage bestätigt Nikitina, die die Flucht organisierte und die Verhandlungen darüber mit Tichonowitsch führte. Beider Aussagen habe ich bei mir, Sie[[1]] können sie lesen. Trotzdem lehnt Iwanow hartnäckig Tichonowitschs Aussagen ab und behauptet, daß seine Flucht durch den Ofen mit Hilfe der Aufseher erfolgt sei. »Wir brauchen notwendig Ihre Aussage: davon hängt das Schicksal der zwei Verurteilten ab. Die Sache wird noch einmal untersucht, und die Verurteilten werden eventuell zurückgeholt. Sagen Sie[[1]] also, welche Aussage entspricht tatsächlich der Wahrheit.« Er übergab mir zwei große Hefte, und ich las in ihnen die Aussagen Tichonowitschs und Nikitinas. Diese Aussagen entsprachen vollkommen dem, was mir seinerzeit Iwanow von seiner Flucht erzählt hatte. Die Gefängnisaufseher hatten keine Ahnung davon. Die Öffnung im Ofen war gemacht worden, um von der richtigen Spur, d. h. vom Offizier, der die Tür geöffnet, abzulenken; tatsächlich war sie so klein, daß ein Mensch von so starkem Körperbau, wie Iwanow ihn besaß, nie hätte hindurchkommen können. Warum Iwanow sich trotz der kategorischen Aussage Tichonowitschs auf seine Aussage versteifte und die Aufseher dadurch zu Zwangsarbeit verurteilen ließ – war mir unbegreiflich. Sein Benehmen war inkorrekt. Ich mußte entweder ihn, den Kameraden, mit dem ich durch Partei- wie auch durch persönlich-freundschaftliche Beziehungen verbunden war, der Lüge bezichtigen, oder Teilnehmer seiner Lüge werden und die Aufseher ihrem Schicksal überlassen. Ich zögerte: ich schämte mich in beiden Fällen. Ich bat Romanow um einige Minuten Bedenkzeit; dann schrieb ich, als ich mich entschlossen hatte, meine[[Besitz]] Erklärung nieder, daß ich genau wisse, daß die Aufseher nichts von der Flucht aus dem Gefängnis gewußt hätten. Ich erinnere mich lebhaft dieser Episode, die mich seinerzeit stark erregt hatte. Später las ich das vorzügliche Drama von Romain Rolland »Die Wölfe« aus der Zeit der französischen Revolution. Dort ist der Konflikt zwischen der Partei und dem Gerechtigkeitsgefühl breit ausgebaut und endet zum Nachteil des letzteren. Im Frühling 1884 rief man mich abermals in die Kanzlei: Dort fand ich Dobrschinski und den General Sereda. Sie[[1]] saßen mit ernsten Gesichtern am Tisch, der mit Folianten bedeckt war. »Erkennen Sie[[1]] diese Handschrift?« fragte mich Dobrschinski und legte ein ungebundenes Heft vor mich hin. Ich kannte diese Handschrift nicht und sagte »nein«. Da wandte er das Heft um und zeigte mir die Unterschrift Sergej Degajews. Dobrschinski blätterte im Heft und zeigte mir einzelne Stellen, während er andere mit der Hand bedeckte. Es war kein Zweifel: vor mir lag ein Dokument von höchster Wichtigkeit, es verriet der Regierung alles, was der Verfasser dank seinen Beziehungen zur Partei wußte. Nicht nur die Parteifunktionäre waren beim Namen genannt, selbst die unbedeutendsten Personen, die jemals der Partei irgendwelchen Dienst erwiesen hatten, waren verraten. Die Militärorganisation im Norden wie im Süden war bis auf den letzten Mann verraten. Alle Fäden der Organisation befanden sich in den Händen der Regierung. Ich war betäubt. Degajew! Das hatte Degajew getan! Ich sprang auf und ging mehrere Minuten lang erregt im Zimmer auf und ab, während Dobrschinski und Sereda schweigend in ihren Akten blätterten. Als ich auf meinen[[Besitz]] Platz zurückkehrte, zeigte mir Dobrschinski die Aussagen einiger anderer Offiziere. Alle begannen mit denselben beschämenden Worten: ich bereue meine[[Besitz]] Verirrung und bekenne usw.. Es bereuten Männer von 35 bis 40 Jahren. Kraiski, an den ich so fest geglaubt und auf den ich so viele Hoffnungen gesetzt hatte als auf einen Menschen mit starkem Charakter, der nie zurückweichen werde, – auch er »bereute« … &&x Alle diese Verschwörer, die geschworen hatten, auf das erste Signal hin sich mit der Waffe in der Hand zu erheben und ihr Leben dem Volke zu weihen, sie alle sagten sich jetzt kleinmütig los von der Sache, für welche sie hatten kämpfen wollen, der sie ihr Wort verpfändet hatten. Sie[[1]] hätten sich »verirrt« – sie, die jahrelang über Revolution und Barrikadenkämpfe diskutiert hatten. Diese Aussagen machten einen unsagbar kläglichen Eindruck auf mich. Aber was bedeutete das alles im Verhältnis zu dem, was Degajew getan hatte! – Er hatte den Glauben an die Grundlagen des Lebens erschüttert – den Glauben an den Menschen, jenen Glauben, ohne den der Revolutionär überhaupt nicht mehr fähig ist zu handeln. Er log, spielte Komödie, betrog; er forschte aus, um dann zu verraten, er heuchelte. Viele Fäden verbanden mich mit ihm und seiner Familie; er war mit einer Anzahl Kameraden, die uns gemeinsam teuer waren, befreundet. Er war kein kleiner, unerfahrener Offizier aus der Provinz, der bis dahin in einer engen, grauen Alltagssphäre gelebt und die Schlingen der Polizei nicht gekannt hatte. Vier Jahre lang hatte er in den Reihen der revolutionären Partei gearbeitet, Hand in Hand mit den erlesensten Genossen, hatte mehr als einmal mit Gendarmen zu tun gehabt, öfters seine Freiheit aufs Spiel gesetzt und sich einen politischen Ruf erworben. Seine Flucht war also nur vorgetäuscht gewesen. Die Polizei hatte ihn freigelassen, um seinen Verrat zu verhüllen. Mit dem Verrat begann er, dann wurde er zum Agent-Provocateur. Absichtlich lockte er neue Menschen in die revolutionäre Tätigkeit, um sie dann der Polizei auszuliefern. Einen solchen Verrat überleben, war ein Unglück, das zu ertragen, über menschliche Kräfte ging; – das hieß, die Menschen ihrer moralischen Schönheit berauben, die Schönheit der Revolution und die des Lebens einbüßen. Von den Höhen meiner Ideale fühlte ich mich in den tiefsten Erdensumpf hinabgezerrt … Als ich das nächstemal zum Wiedersehen hinausging, begriffen die Meinigen sofort, daß mir etwas Furchtbares widerfahren sei. Ich wollte sterben. Ich wollte sterben und mußte trotzdem leben. Ich mußte leben, um vor Gericht zu erscheinen – um diesen letzten Akt in der Laufbahn des aktiven Revolutionärs zu vollenden. Als Mitglied des Vollzugskomitees hatte ich noch mein letztes Wort zu sagen – meine[[Besitz]] letzte Pflicht zu erfüllen, wie sie alle meine[[Besitz]] Vorgänger erfüllt hatten. Und als Kamerad all jener, die Degajew verraten hatte, mußte ich unser gemeinsames Schicksal bis zuletzt teilen. Aber das Leben war nur noch möglich, wenn ich die Zeit durch irgend etwas ausfüllte, das in keinerlei Beziehungen zu dem, was ich jetzt erlebt hatte, stand. Ich mußte irgendeine Arbeit finden, die mir keinen Augenblick Zeit zum Nachdenken ließ. Ich warf mich auf das Studium der englischen Sprache, mit einem solchen Eifer, daß ich nach zwei Wochen {{Macaulays}} Geschichte Englands im Original lesen konnte. Doch wäre mir das trotz allen Eifers unmöglich gewesen, wenn ich nicht vor Jahren auf das Drängen der Institutsvorsteherin hin mit großem Widerwillen und kleinem Erfolg einige englische Stunden bei unserer Engländerin genommen hätte. Offenbar waren Spuren davon im Gedächtnis zurückgeblieben. Sobald ich die englische Sprache beherrschte, vergrub ich mich tagelang in die Bücher und ließ mir keine Minute zum Nachdenken. Schon bald nach meiner Verhaftung hatte ich eifrig zu lesen begonnen, und nie in meinem Leben habe ich mit einer solchen Hingabe und so produktiv gelesen, wie zu jener Zeit in der Festung. Mein Bildungsgang war eigentlich unregelmäßig und systemlos gewesen. Vom Institut schon gar nicht zu reden, denn dort war das Lesen nicht nur verboten, es war überhaupt keine Bibliothek für die Schülerinnen vorhanden. In Zürich, an der Universität, hatte das Studium der Medizin so viel Zeit verschlungen, daß fast keine zum Lesen übrig blieb. Und nach meiner Rückkehr nach Rußland ließ die revolutionäre Tätigkeit keinerlei tieferes Studium zu. In den revolutionären Kreisen, in welchen ich mich bewegte, schaute man zur Wissenschaft mit großer Hochachtung empor, aber die Verhältnisse waren derartig, daß man sich ihr nicht widmen konnte. Während meines Dienstes im Samaraer und Saratower Gouvernement beanspruchte die ärztliche Arbeit einen äußerst großen Aufwand von Zeit und Kraft, und als 1879 mein illegales Leben begann, erlaubten die Nervenanspannung und die Gefahren nicht, an Bücher auch nur zu denken. Die revolutionäre Sache erforderte die ganze Spannkraft, die Gedanken mußten ausschließlich auf die Fragen der Parteibewegung konzentriert werden. Und so wurde es immer schwieriger, an seine eigene Bildung zu denken. In jener Periode, als das Parteiorgan »Narodnaja Wolja« in Petersburg erschien, lag die redaktionelle Hauptarbeit auf unserem Theoretiker – Tichomirow. Nach einiger Zeit erklärte er dem Vollzugskomitee: Wollt ihr, daß ich schreiben soll, dann befreit mich von den Pflichten eines Mitgliedes der Verwaltungskommission, überhaupt von jeder praktischen Arbeit. Es sei – sagte er – ganz unmöglich, die literarische Arbeit mit der praktischen zu verbinden. Um schreiben zu können, muß man lesen, alles verfolgen, was in der Presse geschrieben wird, es gründlich durchdenken – dazu sei absolut notwendig, von Arbeiten befreit zu sein, die eine geistige Konzentration verhinderten. Das Vollzugskomitee konnte sich der Richtigkeit dieser Argumente nicht verschließen und überließ Tichomirow ausschließlich der literarischen Arbeit. Erst jetzt im Gefängnis war ich imstande, meinen[[Besitz]] wissenschaftlichen Interessen nachzugehen: ich las viel Geschichte, politische Ökonomie, Soziologie – und ganz besonders studierte ich zu jener Zeit alles, was Spencer {{[Spencer]}} auf dem Gebiet der Psychologie und Biologie geschrieben hat. In den Briefen, die ich aus der Peter-Paulsfestung an meine[[Besitz]] Mutter und Schwester schrieb, ging ich auf alle diese von mir gelesenen Werke ein. Die Festungsbibliothek, die sehr reichhaltig war, lieferte mir genügend Material, und als ich dieses durchstudiert hatte, bekam ich die Erlaubnis, auch die noch nicht gebundenen Werke, die noch nicht im Katalog eingetragen waren, zu entleihen. Die Bücher halfen mir über das Schwerste hinweg. Sie[[1]] waren es, die von Anfang an den Schmerz in mir betäubten, der an mir nach allen in der Freiheit erlittenen Niederlagen und Mißerfolgen zehrte. Sie[[1]] halfen mir über die moralische Erschütterung hinweg, die der Verrat Degajews herbeigeführt hatte. Übrigens wurde die schwere moralische Qual noch durch eine physische etwas abgelenkt: durch die Feuchtigkeit in meiner Zelle bekam ich ein Geschwür am Finger, das mir die heftigsten Schmerzen verursachte. Man mußte das Geschwür öffnen, und erst da kam der Arzt auf den Gedanken, meine[[Besitz]] Zelle näher zu besichtigen. Sie[[1]] war groß, aber dunkel, feucht, schmutzig und voll Schimmel und Staub. Nach der Besichtigung erklärte er, daß ich in eine andere Zelle überführt werden müsse. Am 16. oder 18. September 1884 wurden mir die Anklageakten eingehändigt. Mit noch 13 Personen wurde ich vor das Militärgericht gestellt. Bald erschien auch der vom Gericht gestellte Verteidiger. Ich entschuldigte mich, daß ich von seinen Diensten keinen Gebrauch machen könne. Nachdem er mit mir allein geblieben war, flüsterte er mir zu: »Sudejkin ist tot. Degajew hat ihn getötet und ist entflohen.« Für einen Augenblick schwand die Dunkelheit, die auf meiner Seele gelastet hatte. Ein sonderbares Gefühl – konzentriert und höchst widerspruchsvoll, erfaßte mich. Blitzartig tauchte es auf und verschwand. &&x &&am &&g1="Die_Gerichtsverhandlung" &&fa Die Gerichtsverhandlung &&fe &&ax Am 21. September 1884 abends überführte man mich aus der Peter-Paulsfestung in das Untersuchungsgefängnis. Warum man dazu die späte Abendstunde wählte, war mir nicht klar. Das ganze Gefängnissystem war derartig organisiert, daß es naturgemäß zu Nervenzerrüttungen führen mußte. In dieser Nacht schloß ich keinen Augenblick die Augen. Die Aufseherinnen, die sich die ganze Nacht laut im Korridor unterhielten, ließen mich nicht einen Moment schlafen. Als man mich am nächsten Tag zu einem Wiedersehen mit meiner Mutter und Schwester führte, schwankte mir der Boden unter den Füßen. Das Wiedersehen fand ohne Gitter statt, so daß ich zum ersten Male nach 20 Monaten Untersuchungshaft die Hand meiner Mutter küssen konnte. Wir konnten zusammen sitzen und sprechen, so viel wir wollten. Aber gewöhnt an das zwanzig Minuten lange Wiedersehen und das ewige Schweigen, war ich bald so müde, daß ich selbst die Mutter bat, fortzugehen. Am nächsten Tag begannen die Gerichtsverhandlungen. Um 10 Uhr führte man mich durch endlose Korridore, Gänge und Treppen in das Zimmer, wo schon meine[[Besitz]] 13 Mitangeklagten standen, jeder von zwei Gendarmen mit gezogenen Säbeln bewacht. Weder einander die Hand reichen noch uns umarmen durften wir. Übrigens war es auch besser so: Wie leicht hätte man die Geistesgegenwart verlieren und in Schluchzen ausbrechen können! Wie fahl waren die Gesichter, die einst vor Lebensfreude gesprüht hatten – gebrochene Gestalten standen vor mir – es war ein Anblick, bei dem es nicht leicht war, seine Ruhe zu bewahren. Dazu kam noch der bittere Gedanke, daß wir hier nicht infolge unserer revolutionären Tätigkeit waren, sondern infolge des Treubruchs und Verrats eines falschen, verräterischen Freundes. Während der ganzen Verhandlung fühlten wir ununterbrochen die Hand Degajews sichtbar oder unsichtbar wie eine Schmach über uns, und sie drückte uns gleich einem Alp nieder. Stundenlang dauerten die Verhandlungen. Nur eine der Angeklagten suchte die Richter mit einem großen Aufwand von Redseligkeit von ihrer Unschuld zu überzeugen. Die übrigen waren schweigsam und wortkarg. Nur Ludmilla Wolkenstein {{[Ludmilla Wolkenstein]}} war heiter und sorglos, der Vorsitzende ermahnte sie jeden Augenblick, sich nicht mit den Nachbarn zu unterhalten, nicht zu nahe an sie heranzurücken usw.. Ich dagegen war vollkommen erschöpft. Nach der Stille und Einsamkeit in der Peter-Paulsfestung waren meine[[Besitz]] Nerven nicht mehr imstande, den Wechsel der Umgebung zu ertragen. Ich war unfähig, bis zum Schluß der Sitzungen im Verhandlungssaal zu bleiben und zog mich immer vorher zurück, um in meiner Zelle meinen[[Besitz]] Nerven eine Ruhepause zu gewähren. In den Pausen kamen Mutter und Schwester: das bedeutete noch eine weitere Nervenanspannung, bis ich ihnen schließlich sagen mußte: »Geht fort, ich habe keine Kraft mehr!« Weder in der Voruntersuchung noch in der Gerichtsuntersuchung hatte ich versucht, die auf mir lastende Verantwortung auch nur um ein Jota zu verringern. Ich brauchte also weder eine Verteidigung noch einen Verteidiger. Trotzdem forderte ich einen Rechtsanwalt, Leontjew II {{[Leontjew II]}}, auf, als Verteidiger zu mir zu kommen; ich erklärte ihm, daß mein eigentliches Ziel sei, durch seine Vermittlung meine[[Besitz]] letzten Anordnungen zu treffen; durch die Mutter konnte ich es nicht, weil während des Wiedersehens immer eine Aufseherin anwesend war. Die rührendste Erinnerung, die ich aus jenen Tagen habe, ist ein wunderschöner Rosenstrauß, den mir die Schwester am letzten Verhandlungstag brachte. Während der ganzen Zeit in der Festung durfte ich keine Blumen empfangen. Einen anderen schönen Augenblick bereitete mir der warme Gruß meiner einstigen französischen Lehrerin, die mich als zwölfjähriges Mädchen im Institut gekannt hatte, und mir nun während der Verhandlung ihre Grüße schickte. Endlich trat der denkwürdigste Tag meines Lebens, der bedeutendste Moment der Gerichtsverhandlung ein: der Vorsitzende erklärte: »Die Angeklagten haben das letzte Wort.« Wieviel Inhalt und Bedeutung liegt in diesen Worten! Dem Angeklagten wird die einzige und vielleicht die letzte Gelegenheit gegeben, sein sittliches Antlitz zu enthüllen, eine moralische Rechtfertigung seiner Taten der Öffentlichkeit zu geben und frei das auszusprechen, was er sagen will, was er sagen muß und was er sagen kann. Noch einige Minuten, und diese letzte Gelegenheit, die letzte Möglichkeit ist vorbei, wird zur Vergangenheit, wird unwiderruflich vorüber sein. Wird diese Gelegenheit verpaßt, so kommt sie nie wieder; der Mensch, der vor Gericht in Erwartung seines Urteils steht, wird nie mehr imstande sein, seine Stimme zu erheben, niemand wird ihn je hören, seine Stimme wird im Zuchthaus ersticken oder auf dem Schafott sterben … Wie viel qualvolle Unruhe habe ich in der Einsamkeit meiner Zelle in Erwartung dieses Tages und dieser Stunde ausgestanden. Ich war in diesem Prozeß die Hauptfigur – diejenige, auf der die Hauptverantwortung lastete. Die vorhergegangenen Prozesse der Jahre 1879 bis 1884: Alexander Solowjows, Alexander Kwatkowskis, der der Märzangeklagten, die der 20 und der 17 Narodowolzy, in denen vielfach mein Name genannt wurde – schufen mir, der zuletzt Verhafteten, eine Ausnahmestellung. Diese Stellung legte mir Verpflichtungen auf; als letztes Mitglied des Vollzugskomitees und Vertreterin der Partei mußte ich vor dem Gericht mein letztes Wort sagen. Meine[[Besitz]] Stimmung war aber nicht danach, Reden zu halten. Ich war sehr niedergedrückt durch die allgemeine Lage in unserer Heimat; es konnte kein Zweifel mehr bestehen, der Kampf war zu Ende; auf Jahre hinaus hatte die dunkelste Reaktion gesiegt; sie war desto schwerer zu ertragen, als sie unerwartet kam, denn man hatte anstatt ihrer eine Erneuerung, eine Umwandlung erwartet. Der Kampf wurde unerhört grausam geführt, man zahlte mit dem Leben, man glaubte, hoffte und vertraute. Aber das Volk war stumm und verstand uns nicht. Die sogenannte Gesellschaft verstand uns und schwieg trotzdem. Die Geschichte war gegen uns: um 25 Jahre waren wir dem Gang der Ereignisse – der allgemeinen politischen Entwicklung der Gesellschaft und des Volkes vorausgeeilt, und wir blieben einsam. Die Elite der russischen revolutionären Kräfte, gering an Zahl, doch kühnen Geistes, war hinweggefegt worden von der Bühne des Lebens, war zertreten und vernichtet. Meine[[Besitz]] Kameraden aus dem Vollzugskomitee starben nacheinander, die einen auf dem Schafott, die anderen langsam an Hunger in den Mauern des Alexej-Vorwerks. Die ganze Organisation der »Narodnaja Wolja« war nur noch ein Trümmerhaufen, und auf diesen Trümmern feierte die »Arbeit« Sergej Degajews ihre Triumphe. In dieser Zeit, im Jahre 1884, lag die einst so stolze Partei, die danach gestrebt hatte, die Autokratie niederzuwerfen, die nicht nur Rußland erschüttert, sondern die ganze zivilisierte Welt in Staunen versetzt hatte, zerschmettert am Boden, ohne daß eine Hoffnung vorhanden war, daß sie in nächster Zukunft aus ihrem Zusammenbruch wieder erstehen könnte. Und während ich von der langen Untersuchungshaft in der Festung körperlich völlig gebrochen und seelisch von den schweren Erschütterungen zermürbt war, trat der Moment ein, wo es galt, um jeden Preis die letzte Pflicht gegenüber der zerschmetterten Partei und den zu Grunde gegangenen Kameraden zu erfüllen; ich mußte mein Glaubensbekenntnis öffentlich ablegen, vor Gericht die moralischen Gründe klarlegen, durch die wir uns in unserer Tätigkeit leiten ließen, das soziale und politische Ideal entwickeln, das wir anstrebten. Die Stimme des Vorsitzenden ertönte, mein Name wurde genannt. Eine natürliche Stille trat ein: die Augen aller, der Unsrigen wie der Fremden, richteten sich auf mich, und alles lauschte, noch ehe die Worte meinen[[Besitz]] Lippen entflohen. Mir war bange: was dann, wenn plötzlich mitten im Reden meine[[Besitz]] Gedanken sich verwirren würden, wie mir's schon manchmal in jenen schicksalsschweren Tagen geschehen war? &&x Unter allgemeiner Stille, die Nerven gespannt durch die allseitige Aufmerksamkeit, in nur schwer beherrschter Erregung sprach ich mein Schlußwort: &&rl=10 &&rr=10 »Der Beurteilung des Gerichtshofs unterstehen gegenwärtig meine[[Besitz]] Handlungen, die ich seit dem Jahre 1879 begangen habe. Der Staatsanwalt hat in seinem Plaidoyer seiner Verwunderung sowohl über deren Art als über deren Anzahl Ausdruck gegeben. Diese Verbrechen haben aber, wie jedes andere Verbrechen auch, ihre eigene Geschichte. Sie[[1]] stehen in festgegliedertem, logischem Zusammenhang mit meinem ganzen vergangenen Leben. Während der Untersuchungshaft habe ich wiederholt darüber nachgedacht, ob mein Leben einen anderen Verlauf hätte nehmen können, als dies der Fall ist, und ob es wo anders als auf der Anklagebank hätte enden können? Und jedesmal habe ich mir geantwortet: Nein! Mein Leben begann unter sehr günstigen Verhältnissen. Für meine[[Besitz]] Erziehung bedurfte ich keiner Leitung, ich brauchte nicht am Gängelbande geführt zu werden. Meine[[Besitz]] Familienangehörigen waren entwickelte und liebevolle Menschen, so daß ich keinen Kampf auszufechten hatte, wie das so oft zwischen der alten und der jungen Generation der Fall zu sein pflegt. Materielle Not und Sorge um das tägliche Brot oder um wirtschaftliche Unabhängigkeit habe ich nicht gekannt. Als ich mit siebzehn Jahren das Institut verließ, kam mir zum erstenmal der Gedanke, daß sich nicht alle in den gleichen glücklichen Verhältnissen befänden wie ich. Die unklare Vorstellung, daß ich einer kulturellen Minderheit angehörte, regte mich dazu an, über die Pflichten nachzudenken, die mir meine[[Besitz]] Stellung im Hinblick auf die übrige kulturlose Masse auferlegte, die von einem Tag in den andern unter dem Druck schwerer physischer Arbeit dahinlebt und das entbehrt, was man gewöhnlich mit dem Namen ›Güter der Zivilisation‹ zu benennen pflegt. Diese Vorstellung von dem Kontrast zwischen meiner Lage und der Lage, in der sich die Menschen meiner Umgebung befanden, gab mir zum erstenmal den Gedanken ein, daß ich mir ein Lebensziel stecken müsse, das dem Wohle dieser Mitmenschen zu gelten habe. Die russische Publizistik jener Zeit und die Frauenbewegung, die zu Beginn der siebziger Jahre lebhaft entbrannt war, gaben mir eine fertige Antwort auf meine[[Besitz]] Fragen und Wünsche; sie wiesen mir die ärztliche Tätigkeit als ein Arbeitsfeld, das meinen[[Besitz]] philanthropischen Neigungen Genüge tun mußte. Damals war die Frauenakademie in Petersburg bereits eröffnet, doch zeichnete sie sich von Anfang an durch Hinfälligkeit aus, die auch heute noch für sie kennzeichnend ist; sie lag von jeher in den letzten Zügen. Da mein Entschluß aber fest gefaßt war, und ich nicht infolge irgendeines Zufalles von dem einmal beschrittenen Wege abweichen wollte, beschloß ich, ins Ausland zu reisen. So gestaltete ich denn mein Leben wesentlich um und reiste nach Zürich, wo ich mich an der Universität immatrikulieren ließ. Das Leben im Auslande ist von dem in Rußland sehr verschieden. Das, was ich dort zu sehen bekam, war mir vollkommen neu. Ich war darauf durch das, was ich früher gesehen und früher gelernt hatte, nicht vorbereitet, auch nicht auf eine richtige Bewertung alles dessen, was ich dort vorfand. Die Idee des Sozialismus griff ich anfänglich beinahe instinktiv auf. Mir schien, sie wäre nichts anderes, als eine Erweiterung jener philanthropischen Gedanken, die mich früher bereits erfüllt hatten. Eine Lehre, die Gleichheit, Brüderlichkeit und allgemeines Menschenglück verhieß, mußte geradezu blendend auf mich wirken. Mein Gesichtskreis erweiterte sich: an Stelle von allerhand Phantastereien traten nun Vorstellungen von Volk und Menschheit. Zudem kam ich in einer Periode ins Ausland, da die jüngsten Ereignisse in Paris und die Revolution in Spanien in der ganzen Arbeiterwelt Westeuropas lebhaften Widerhall fanden. Unter anderem lernte ich auch die Lehre und die Organisation der Internationale kennen. Erst später vermochte ich zu beurteilen, daß vieles von dem, was ich damals zu sehen bekam, nur äußerlich zur Schau getragen war. Außerdem betrachtete ich die Arbeiterbewegung, die ich kennengelernt hatte, nicht als ein Produkt des westeuropäischen Lebens, und glaubte, dieselbe Lehre müsse für alle Zeiten und überall Geltung haben. Für die sozialistischen Ideen begeistert, trat ich im Auslande dem ersten revolutionären Kreise bei, dem auch meine[[Besitz]] Schwester Lydia angehörte. Die Organisation dieses Kreises war sehr locker; jedes Mitglied durfte aktiv vorgehen, wann immer und in welcher Form es ihm beliebte. Die Betätigung bestand in sozialistischer Propaganda, getragen von der vagen Hoffnung, das Volk wäre schon – infolge seiner Armut und seiner sozialen Lage – sozialistisch von Haus aus, und es bedürfe nur eines Wortes, um den sozialistischen Ideen Aufnahme zu verschaffen. Das, was wir damals soziale Revolution nannten, trug eher den Charakter einer friedlichen Umgestaltung – wir glaubten nämlich, die dem Sozialismus feindliche Minderheit würde angesichts der Unmöglichkeit eines Kampfes gezwungen sein, der Mehrheit nachzugeben, die ihre eigentlichen Interessen erkannt hatte, so daß von Blutvergießen keine Rede sein könne. Fast vier volle Jahre blieb ich im Auslande. Stets war ich in gewisser Weise konservativ, indem ich meine[[Besitz]] Entschlüsse nicht schnell faßte; hatte ich sie aber einmal gefaßt, so ließ ich nur schwer davon ab. Als daher der Kreis im Frühjahr 1874 beinahe vollzählig nach Rußland zurückkehrte, blieb ich allein im Ausland zurück, um mein Medizinstudium fortzusetzen. Die Laufbahn meiner Schwester und anderer Mitglieder unseres Kreises nahm ein sehr trauriges Ende. Sie[[1]] wirkten zwei oder drei Monate als Arbeiterinnen und Arbeiter in Fabriken, kamen dann für zwei bis drei Jahre in Untersuchungshaft, wurden endlich vor Gericht gestellt, das einige von ihnen zu Zwangsarbeit, andere zur Ansiedelung oder zur Verbannung nach Sibirien verurteilte. Als sie noch in Untersuchungshaft waren, ließen sie den Ruf an mich ergehen, nach Rußland zurückzukehren, um die Angelegenheiten unseres Kreises zu fördern. Da ich mir hinreichende medizinische Kenntnisse erworben hatte und glaubte, eine Promotion zum Doktor der Medizin und Chirurgie würde nur dazu dienen, meinen[[Besitz]] Ehrgeiz zu befriedigen, begab ich mich nach Rußland. Hier kam ich sofort in eine Krisis herein: die Bewegung des ›In-das-Volk-Gehens‹ hatte bereits Fiasko gemacht. Trotzdem fand ich noch Menschen zur Genüge, die mir sympathisch waren, denen ich vertraute und mit denen ich zusammenkam. Ich beteiligte mich gemeinsam mit ihnen an der Ausarbeitung jenes Programms, das unter dem Namen: Programm der Narodniki bekannt ist. Ich begab mich aufs Land. Das Programm der Narodniki verfolgte, wie dem Gericht bekannt ist, Ziele, die gesetzlich unzulässig sind – handelte es sich doch darum, eine Übergabe des ganzen Landes in die Hand der Bauerngenossenschaften zu erreichen. Doch zunächst sollte die Rolle der unter dem Volke lebenden Revolutionäre in einer Betätigung bestehen, die in allen Staaten nicht anders als kulturell genannt wird. So kam denn auch ich mit ausgesprochen revolutionären Absichten aufs Land – aber ich denke wegen meines Verhaltens den Bauern gegenüber und wegen meines Wirkens unter ihnen wäre ich nirgends auf der Welt als eben nur in Rußland verfolgt worden –, ja, ich hätte vermutlich als ein nicht untaugliches Glied der Gesellschaft gegolten. Als Arztgehilfin trat ich der Semstwoorganisation bei. Sehr bald hatte sich eine ganze Liga gegen mich gebildet, in der zuoberst der Adelsmarschall und der Chef der Landpolizei, zuunterst aber – der Landgendarm, der Amtsbezirksschreiber und andere mehr standen. Allerhand Gerüchte wurden über mich in Umlauf gesetzt; so – ich hätte keinen Paß, während ich doch meinen[[Besitz]] legalen Paß hatte, mein Diplom wäre gefälscht und anderes mehr. Wenn die Bauern sich weigerten, ein für sie unvorteilhaftes Geschäft mit dem Gutsbesitzer abzuschließen, so hieß es, ich sei daran schuld; wurde dem Schreiber das Gehalt herabgesetzt, so hieß es gleichfalls, mich allein träfe die Schuld. Geheime und öffentliche Erkundigungen wurden eingezogen; der Chef der Landpolizei kam angefahren; einige Bauern wurden verhaftet: beim Verhör wurde mein Name genannt; zweimal wurde ich beim Gouverneur verdächtigt, und nur dank der Bemühungen des Vorsitzenden der Semstwoverwaltung ließ man mich ungeschoren. Es bildete sich eine Polizeispitzelatmosphäre um mich her: man begann mich zu fürchten. Die Bauern machten Umwege durch die Hinterhöfe, um mich in meinem Hause aufzusuchen … &&x Diese Umstände waren es eben, die mich dahin brachten, mir selber die Frage vorzulegen: Was kann ich unter solchen Verhältnissen tun? Ich sage es frei heraus: ich befand mich, als ich mich auf dem Lande ansiedelte, in einem Alter, in dem man keine groben Fehler, im Sinne von Taktlosigkeiten etwa, begeht – in einem Alter, in dem die Menschen für fremde Ansichten duldsamer und aufnahmefähiger werden. Ich wollte den Boden sondieren, ich wollte in Erfahrung bringen, was der Bauer selbst denkt und wünscht. Ich sah, daß keinerlei Tatsachenmaterial gegen mich vorlag, daß ich recht eigentlich wegen meiner geistigen Einstellung, wegen meiner Richtung verfolgt wurde: man mutmaßte, es wäre ganz ausgeschlossen, daß sich ein Mensch, der einiger Bildung nicht entbehrte, auf dem Lande niederlassen könne, ohne daß er im geheimen furchtbare Ziele verfolge. So war ich denn der Möglichkeit einer sei es auch nur physischen Annäherung an das Volk beraubt, und nicht allein, daß ich überhaupt nichts tun konnte, nein – es war mir sogar verwehrt, auch wenn es sich um die alleralltäglichsten Dinge handelte, mit ihm umzugehen. Da wurde ich stutzig: Hatte ich vielleicht Fehler gemacht, die ich künftig vermeiden könnte, indem ich irgendwo anders hin übersiedelte, um dort das Experiment zu wiederholen? Es fiel mir schwer, die Pläne, die ich einmal gefaßt hatte, wieder aufzugeben. Vier Jahre hatte ich Medizin studiert und hatte mich an den Gedanken gewöhnt, unter den Bauern zu arbeiten. Hierüber sann ich nun nach, sammelte auch Nachrichten über die Erfahrungen Anderer und überzeugte mich davon, daß es weder an meiner Person lag noch an den Verhältnissen jener Gegend, sondern an den allgemeinen Bedingungen – genauer gesagt, daran, daß es in Rußland keine politische Freiheit gibt. Bis zu diesem Augenblick waren meine[[Besitz]] Aufgaben gemeinnützig-altruistische gewesen: sie berührten meine[[Besitz]] persönlichen Interessenkreise nicht. Nun war ich zum erstenmal in der Lage, an mir selber die Unzulänglichkeiten unserer Regierungsform zu erfahren. Bereits früher war an mich des öfteren die Aufforderung ergangen, der Vereinigung ›Land und Freiheit‹ beizutreten und unter der Intelligenz zu wirken. Weil ich aber an meinem einmal gefaßten Entschlusse festhielt, hatte ich diese Aufforderungen bisher abgelehnt und blieb bis zur äußersten Möglichkeit auf dem Lande. So war es denn nicht etwa leichtsinniges Verhalten, sondern bitterste Notwendigkeit, die mich dazu brachte, auf meine[[Besitz]] ursprünglichen Ansichten zu verzichten und einen anderen Weg zu beschreiten. Damals kam vereinzelt die Meinung auf, das politische Element müsse bei den Aufgaben einer revolutionären Partei eine gewisse Rolle spielen. In der Vereinigung ›Land und Freiheit‹ hatten sich zwei Gruppen gebildet, die entgegengesetzte Ziele verfolgten. Als ich mit dem Dorfe fertig war, erklärte ich der Vereinigung ›Land und Freiheit‹, daß ich mich gegenwärtig für ungebunden hielte. Damals hatte ich zwischen zweierlei zu wählen: entweder – ich tat einen Schritt rückwärts, reiste wieder ins Ausland und promovierte dort, diesmal aber nicht um unter Bauern, sondern um unter Reichen zu arbeiten, was ich nicht tun wollte, oder – und eben dieses zog ich vor – meine[[Besitz]] Energie und Kraft daran zu setzen, die Widerstände zu brechen, an denen meine[[Besitz]] Wünsche gescheitert waren. Nachdem ich der Vereinigung ›Land und Freiheit‹ beigetreten war, erhielt ich die Aufforderung, am Kongreß in Woronesch teilzunehmen; dort hatte sich die Partei zwar noch nicht gespalten, es wurde aber mehr oder weniger bestimmt ausgesprochen, zu welchen Ansichten die einzelnen Mitglieder neigten. Die einen sagten, man müsse die alten Richtlinien beibehalten, d. h. auf dem Lande bleiben und einen Volksaufstand in irgendeiner Gegend organisieren; die anderen wieder waren der Meinung, man müsse in den Städten leben und müsse seine Wirksamkeit gegen die Regierung richten. Von Woronesch fuhr ich nach Petersburg, wo die Vereinigung ›Land und Freiheit‹ bald auseinanderfiel. Man trug mir an, Mitglied des Vollzugskomitees der Partei ›Volks-Wille‹ zu werden, und ich erklärte mich hierzu bereit. Mein vergangenes Leben hatte mich zur Überzeugung gebracht, daß der einzige Weg, auf dem die bestehende Ordnung verändert werden konnte, der Weg der Gewaltanwendung sei. Den Weg des Friedens konnte ich nicht beschreiten: bekanntlich haben wir keine Pressefreiheit – so ist es denn unmöglich, daran zu denken, bestimmte Ideen durch das gedruckte Wort zu verbreiten. Hätte mir gleichviel welches Organ der Gesellschaft einen anderen Weg außer dem der Gewaltanwendung gewiesen – möglich, daß ich ihn gewählt, sicher aber, daß ich es versucht hätte, ihn zu gehen. Ich sah aber weder in den Semstwos noch beim Gericht, noch in irgendwelchen anderen Körperschaften Protest rege werden; auch die Literatur suchte nicht auf eine Umgestaltung des Lebens, wie wir es führen, hinzuwirken – so sah ich denn den einzigen Ausweg aus der Lage, in der wir uns befinden, in der Anwendung von Gewalt. Nachdem ich mir diesen Grundsatz zu eigen gemacht hatte, ging ich auf eben diesem Wege bis ans Ende. Stets habe ich von der Persönlichkeit, sowohl von andern, als – selbstredend – auch von mir selber, Konsequenz und Übereinstimmung von Wort und Tat verlangt, und mir schien – wenn ich theoretisch zu der Erkenntnis gekommen war, daß man nur durch Gewaltanwendung etwas erreichen könne, so wäre ich damit auch verpflichtet, unmittelbar an den Gewaltmaßnahmen teilzuhaben, die von der Organisation, der ich mich angeschlossen hatte, unternommen werden würden. Sehr vieles nötigte mich hierzu. Ich hätte nicht mit ruhigem Gewissen andere zur Beteiligung an Gewaltmaßnahmen hinzuziehen können, wenn ich selber daran nicht beteiligt gewesen wäre: nur meine[[Besitz]] persönliche Beteiligung gab mir das Recht, mit verschiedenen Vorschlägen an andere Personen heranzutreten. Die Organisation ›Volks-Wille‹ zog es eigentlich vor, mich für andere Aufgaben zu verwenden – so für Propaganda unter der Intelligenz –, ich wollte und verlangte aber eine andere Betätigung: ich wußte, daß auch das Gericht stets sein Augenmerk darauf richten würde, ob ich an einer Aktion unmittelbar beteiligt war, und daß die öffentliche Meinung mit besonderer Wut über jene herfällt, die an Gewaltakten unmittelbar beteiligt waren, so daß ich es einfach für eine Lumperei gehalten hätte, andere auf einen Weg zu drängen, den ich selber nicht zu beschreiten gesonnen war. Das ist die Erklärung für jene ›Blutgier‹ vom Staatsanwalt gebrauchter Ausdruck, die so fürchterlich und unbegreiflich erscheint und die in Handlungen zum Ausdruck kommt, deren einfache Aufzählung dem Gericht als zynisch erscheinen würde, wenn sie nicht Motiven entsprängen, die keinesfalls – wie mir scheint – unehrenhaft sind. In dem Programm, an das ich mich bei meinem Wirken hielt, war die wesentlichste Seite, die für mich die größte Bedeutung hatte – Vernichtung des absolutistischen Regimes. Ob unser Programm eine Republik oder eine konstitutionelle Monarchie vorsieht – dem messe ich eigentlich keine praktische Bedeutung bei. Ich meine[[Meinung]], auch wenn man eine Republik anstrebt – im Leben durchsetzen wird sich nur jene Form der Staatsbildung, zu der die Gesellschaft sich als vorbereitet erweisen wird –, so daß diese Frage für mich keine besondere Bedeutung hat. Für die Hauptsache, für das Allerwesentlichste halte ich, daß bei uns solche Verhältnisse geschaffen werden, in denen die Persönlichkeit die Möglichkeit hat, ihre Kräfte allseitig zu entwickeln und sie ganz und gar in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Und mir scheint, so wie die Dinge bei uns liegen, sind diese Verhältnisse nicht gegeben.« &&x &&rl=0 &&rr=0 Als ich geendet hatte, fragte der Vorsitzende weich: »Haben Sie[[1]] alles gesagt, was Sie[[1]] sagen wollten?« »Ja,« erwiderte ich. Und keine Macht der Welt hätte mich bewegen können, noch weiter zu sprechen – so groß war meine[[Besitz]] Erregung und meine[[Besitz]] Erschöpfung. Die mitfühlenden Blicke, das Händedrücken und die Begrüßungen der Kameraden und Verteidiger in der darauffolgenden Pause zeigten mir, daß meine[[Besitz]] Rede Eindruck gemacht hatte. Der Justizminister Nabokow hatte bemerkt, daß der Rechtsanwalt Leontjew die Rede stenographiert hatte, und er wandte sich an ihn nach der Sitzung mit der Bitte, ihm eine Abschrift der Rede zu geben. Die letzte Pflicht war erfüllt, und eine unendliche Ruhe zog in meine[[Besitz]] Seele ein. Man sagt, daß man den Segen einer solchen Seelenruhe nur vor dem Tode empfindet. Die Vergangenheit mit ihren so peinlichen Erlebnissen, ihren qualvollen Eindrücken der verschiedensten Menschen, der einen, die durch ihre Tapferkeit und Selbstverleugnung in höchstes Staunen versetzten – der anderen, die durch ihre schmachvolle Feigheit in die größte Verzweiflung stürzten – alles, was zurücklag, was ich an Großmut und Gemeinheit durchlebt hatte, all das verschwand irgendwie in der Ferne. Der Vorhang der Unwiderruflichkeit senkte sich über die Tragödie, die bis zum letzten Akt durchkostet worden war. Ja! Die Vergangenheit verschwand, und die Zukunft, die schreckliche Zukunft mit ihrem Scheiden aus dem Leben, mit ihrer Trennung von den Menschen – war noch nicht da. Es war eine Atempause. Ein ereignisvoller Zeitabschnitt im Leben hatte seinen Abschluß gefunden, die tote Periode der herannahenden Zukunft hatte noch nicht einmal eine Vorstellung im Bewußtsein erweckt. Ich begann so leicht, so unbehindert zu atmen. Vorbei war die Periode meines Lebens, in der ich im Dienste der Idee gestanden, vorbei mit all ihren Erinnerungen, die einen dunklen Schatten auf sie geworfen hatten. Und stand ich denn nicht vor dem Tode? Bedeutet denn der bürgerliche Tod einem Menschen, der sich der sozialen Tätigkeit gewidmet bat, nicht dasselbe, was für einen Privatmenschen der physische Tod ist? Und wie dieser sterbend Seligkeit empfindet, so empfand auch ich sie beim Rückblick auf mein Leben; ich war mir dessen bewußt, daß ich alles getan hatte, was in meinen[[Besitz]] Kräften gelegen hatte, daß ich alles, was ich von der Gesellschaft und vom Leben je genommen, dieser Gesellschaft und dem Leben zurückerstattet hatte. Alle moralischen und physischen Kräfte waren verbraucht – nichts blieb übrig – sogar der Wille zum Leben war verschwunden. Und während mich das Gefühl, meine[[Besitz]] Pflicht vor der Heimat, der Gesellschaft, der Partei erfüllt zu haben, beruhigte –, wurde ich erst ganz Mensch, die Tochter meiner Mutter, die Schwester meiner Schwester; mitten zwischen den Trümmern waren sie allein mir geblieben. Ich fühlte mich wie ein Schwerverwundeter, über dem lange das Messer des Chirurgen geschwebt hatte. Endlich ist die Operation gemacht, sie ist vollendet. Die Narkose ist geschwunden, der Kranke sieht sich im sauberen, kühlen, weißen Bett. Hände und Füße sind ihm abgeschnitten, aber alle Unruhe und Befürchtungen liegen hinter ihm, er hat keine Schmerzen, er ist glücklich, ohne die Tiefe des Unglücks, das seiner harrt und im nächsten Augenblick schon an seine Tür pochen wird, zu erfassen. Das Urteil lautete: Tod durch den Strang; und noch sieben Kameraden – unter ihnen sechs Offiziere – waren gleich mir zum Tode verurteilt worden. Nach Verkündigung des Todesurteils kam der Inspektor des Untersuchungsgefängnisses zu mir in die Zelle und sagte: »Die zum Tode verurteilten Offiziere haben beschlossen, ein Begnadigungsgesuch dem Zaren zu unterbreiten. Aber Baron Stromberg zögert. Er möchte Ihre Meinung kennen, ehe er sich entscheidet; soll er dem Wunsche der Kameraden willfahren und das Gesuch unterschreiben?« »Sagen Sie[[1]], bitte, Stromberg,« erwiderte ich, »daß ich nie jemand raten werde, etwas zu tun, das ich unter keinen Umständen selbst tun würde.« Der Inspektor schaute mich vorwurfsvoll an. »Wie grausam Sie[[1]] sind!« sagte er. Nachdem das Gericht das Urteil gesprochen hatte, besuchten mich meine[[Besitz]] Mutter und meine[[Besitz]] Schwester am darauffolgenden Sonntag. Ich ahnte nicht, daß ich sie zum letztenmal sah. Die Schwester scheint es entweder gewußt oder geahnt zu haben, denn lange stand sie auf der Schwelle, und ihr trauriger Blick riß sich nur schwer von mir los. Mir wurde sonderbar bang zumute unter diesem langen, schmerzerfüllten Blick. Noch eine Minute – und ich hätte es nicht ausgehalten; aber die Tür verschloß sich – für immer. Montag gegen 1 Uhr – ich beendete gerade mein Frühstück – stürzte die Aufseherin in die Zelle mit den Worten: »Man ist gekommen, Sie[[1]] zu holen!« In zehn Minuten war alles eingepackt; der Gefängniswagen führte mich in die Peter-Paulsfestung. Dort bezog ich wieder die Zelle Nr 43. Im Korridor war alles still; in Erwartung, daß der Aufseher bald mit dem Tee[[Variante1]] kommen werde, legte ich mich auf die Matratze und schlief fest und tief ein. Mir träumte, ich sei wieder mit der Mutter zusammen, schmiegte mich an sie und sagte ihr wie einst: Mütterchen, wie schön bist du: wirklich zum Verlieben! … Oder ich sehe die Schwester, die mir einen Strauß Teerosen gebracht hat, noch zarter und duftiger, als die früheren … Das Schloß dröhnte, und noch ehe ich Zeit hatte, aufzuspringen – stand in der Kammer der dicke und grobe Offizier Jakowlew {{[Jakowlew]}} in Begleitung eines Gendarmen und eines Soldaten. Ohne mich zur Besinnung kommen zu lassen, begann er ein Schriftstück zu verlesen, das er in der Hand hielt. Ich verstand nichts, konnte einfach nichts verstehen. Der Schlaf hielt noch immer Körper und Geist gefangen. Was bedeutete das? Irgendwelche Worte, eine zusammenhanglose Aufzählung von Gegenständen: ein Paar Schuhe, ein Kopftuch aus Leinwand, ein {{Arschin}}, zwei {{Werschock}} … ein Blechkrug … 5000 Spießruten … ich begriff nichts! &&x »Warten Sie[[1]] einen Augenblick«, sagte ich und bedeckte die Augen mit der Hand. »Ich schlief und bin noch nicht munter; kommen Sie[[1]] etwas später.« Nach einer Viertelstunde trat der Offizier wieder ein; wieder verlas er das Papier. Nun begriff ich. »Gehen Sie[[1]] in die andere Zelle« – sagte der Gendarm. Es war die nächste Zelle neben mir, die leer war. In ihr durchsuchte mich gewöhnlich eine Frau, die speziell zu diesem Zweck kam. Sie[[1]] war auch jetzt hier. Ich trug ein elegantes, blaues Tuchkleid. Die Mutter hatte es mir zum Gerichtstag gebracht. Ich zog das und alles übrige bis auf den letzten Faden aus; ich nahm auch das Heiligenbildchen ab, mit dem mich die Mutter gesegnet hatte. Auf der Matratze lag ein Haufen Lumpen. Die Frau warf mir ein grobes, noch ungewaschenes Bauernhemd über und ein ebensolches Kopftuch; um die Füße wickelte sie mir grobe Lappen und schob mir dann ungeheuer große Pantoffeln hin; dann gab sie mir einen Rock aus grauem Soldatentuch. Ich schaute verwundert diesen Rock an: er war ganz zerfressen, nicht von Motten, sondern von irgendeiner großen, gefräßigen Raupe, die ganze lange Streifen ausgefressen hatte. Dann gab sie mir einen langen Arrestantenmantel mit dem gelben Fleck auf dem Rücken. Das Futter war durchtränkt von Schmutz, Schweiß und Fett: man sah, daß ihn jemand sehr lange getragen hatte. Er war mir viel zu groß, fiel weit über die Schultern, und die Ärmel bedeckten die Hände. Höchstwahrscheinlich hätte man mir diesen Anzug gegen einen neuen umgetauscht, wenn ich protestiert hätte. Doch ich protestierte nicht; ich war einem fremden Willen untergeordnet; ich zog es vor, zu schweigen. Die ungeheuerliche Wandlung hatte stattgefunden; ich kehrte in meine[[Besitz]] Zelle zum Aschenbrödel verwandelt zurück. Die Veränderung war so ungeheuer, der Kontrast so stark, daß ich Lust hatte, wild, unnatürlich aufzulachen; zu lachen über mich selbst, über das blaue Tuchkleid, über das Rebhuhn, die Birnen, die man mir vor einigen Stunden zum Frühstück von Hause gebracht hatte. Die Zelle hatte auch ein anderes Aussehen; das mußte niederdrückend auf die Vorstellung wirken. Zwei Matratzen, die auf der Pritsche gelegen hatten, waren verschwunden, anstatt ihrer lag ein Strohsack da; von zwei Kissen war nur noch eins vorhanden; an Stelle der Decke lag ein Stück alter Flausch; auf dem Tische stand anstatt des weißen Wasserkruges ein Blechkrug. Ein alter, zerbeulter Krug – es sah aus, als wäre er absichtlich verstümmelt worden; ganz verrostet und der Rand voll scharfer Kanten; wenn man mir des morgens jetzt anstatt wie bisher Tee[[Variante2]], heißes Wasser gab, dazu Schwarzbrot und Salz, mußte ich lange eine ungefährliche Stelle zum Trinken suchen, um mir die Lippen nicht zu verwunden … Mit der veränderten Umgebung verschwand auch die Seelenruhe, die mir in den vorhergegangenen Tagen eine solche Erquickung bereitet hatte. Die Gedanken sprangen und arbeiteten fieberhaft erregt. Ich dachte jetzt weder an mich noch an die mir nahestehenden Menschen, auch nicht an das, was mich erwartete. Die Gedanken richteten sich – ich weiß nicht warum – auf das Schicksal der revolutionären Bewegung im Westen und bei uns. Ich dachte an die Vererbung der Ideen, an ihren Übergang aus einem Lande ins andere. Szenen aus der fernen Vergangenheit erstanden wieder in der Erinnerung, die Phantasie arbeitete fieberhaft. Bücher hatte ich keine, aber selbst wenn ich sie gehabt hätte, ich wäre jetzt nicht imstande gewesen, mich darauf zu konzentrieren. Nur das Evangelium gab man mir. Einst, in der Kindheit, hatte ich mich daran begeistert, jetzt entsprach es nicht meiner Stimmung. In den ersten Tagen berührte ich es nicht; dann später, als ich alles durchdacht und die Erregung sich allmählich gelegt hatte, las ich einzelne Worte, Phrasen, deren Sinn mir unverständlich blieb. Es war ein rein mechanisches Lesen; dann begann ich den Text erst ins Französische und dann ins Deutsche zu übertragen. Jeden Sonnabend besuchte der Doktor Wilms die Gefangenen der Peter-Paulsfestung. So kam er auch diesmal. Er schritt durch den Korridor mit dem Inspektor {{Lesnik}}, und sie unterhielten sich laut und lachend. Das Lachen brach jäh ab, als der Gendarm meine[[Besitz]] Tür öffnete und er mich erblickte; das alte strenge Gesicht mit den groben Zügen verzog sich: seit zwei Jahren besuchte er mich, und nun erblickte er mich zum erstenmal in dieser veränderten Gestalt. Er wandte sein Gesicht ab und fragte wie üblich: »Wie steht es mit Ihrer Gesundheit?« Wie sonderbar, eine derartige Frage an einen Menschen zu richten, der zum Tode verurteilt ist! »Es geht« – erwiderte ich. Am achten Tage hörte ich abends, wie Türen im Korridor geöffnet und geschlossen wurden. Allem Anscheine nach passierte jemand die Zellen. Man öffnete auch meine[[Besitz]] Tür. Ein alter General, der Kommandant der Festung, trat mit dem Inspektor und dem übrigen Gefolge ein. Er hob das Papier, das er in der Hand hielt, hoch und las langsam und laut: »Seine Majestät der Kaiser hatte die Gnade, Ihre Todesstrafe in lebenslängliche Zwangsarbeit umzuwandeln.« Glaubte, erwartete ich überhaupt, daß man mich hinrichten werde? War ich bereit zu sterben? Nein – ich dachte nicht daran. Man hatte nach dem 1. März Sofja Perowskaja hingerichtet, und ich glaube, diese erste Hinrichtung einer Frau hatte allgemein einen peinlichen Eindruck hervorgerufen. Damals war die Hinrichtung einer Frau noch keine übliche Sache, und seitdem waren drei Jahre vergangen. Aber wenn das Todesurteil vollzogen worden wäre, so wäre ich vollkommen ruhig gestorben; der Stimmung nach war ich zum Tode bereit. Ich hätte aber auch keinen Enthusiasmus empfunden; meine[[Besitz]] Kräfte waren verbraucht, ich hätte einfach den schnellen Tod auf dem Schafott dem langsamen vorgezogen, dessen Unausbleiblichkeit ich zu jener Zeit klar erkannte. So gingen 10 Tage bis zum 12. Oktober 1884 hin; an diesem Tage führte man mich aus der Festung fort – ohne daß ich gewußt hätte, wohin. Es war die Schlüsselburg, die mich aufnahm. Dort begann mein jenseitiges Leben, ein mir bisher noch unbekanntes Leben, das Leben eines Menschen, der jeder Rechte, der bürgerlichen wie der menschlichen, beraubt ist. &&x &&nsr &&am &&g0="ZWEITER_TEIL:_20_Jahre_in_Kasematten" &&fa Zweiter Teil 20 Jahre in Kasematten &&g1="Der_erste_Tag" Der erste Tag &&fe &&ax Am 12. Oktober 1884 früh morgens – in der Zelle der Peter-Paulsfestung war es noch dunkel – wurde die Tür aufgerissen, und in die Zelle stürzte einer der diensthabenden Soldaten. Er war einer der boshaftesten Wächter: eine graue Ratte, dem der Dienst, die Pflicht, die Verantwortung und nicht zuletzt die Gefangenen, die er wie ein Kettenhund seit langen Jahren behütete, zum Überdruß geworden waren. Das Leben hatte ihn allem Anscheine nach nicht verwöhnt, und jetzt, alt, krank und erbittert wie er war, ließ er seine Wut über das Schicksal überall da aus, wo er nur konnte. Ich erinnerte mich: Gleich nach meiner Ankunft in der Festung hatte er mich, ehe er die Tür abschloß, wütend angeknurrt: »Hier ist das Singen verboten!« Ich war starr. Ich dachte überhaupt nicht an Singen. »Singen?« – sagte ich – »Ja, wem wird denn das hier überhaupt einfallen.« Und tatsächlich, war denn nicht jeder, der in diese Festungsmauern eintrat, erfüllt von ernsten Gefühlen und wichtigen Gedanken? Singen, hier, in diesen Mauern, die durch das Leiden so vieler Generationen geheiligt waren, hieß das nicht, sie profanieren? Jetzt stürzte dieser Wächter in meine[[Besitz]] Zelle, warf wütend einen kurzen Schafspelz auf mein Lager, ein Paar riesengroße Filzstiefel daneben und zischte durch die Zähne: »Stehen Sie[[1]] auf! Aber schnell! … Ziehen Sie[[1]] sich warm an …« Was bedeutet das? Was wird mit mir geschehen? Seit dem Augenblick meiner Verhaftung war mir klar geworden, daß ich mir nicht mehr selbst gehörte. Seitdem fragte ich mich nie mehr, was werde ich tun, sondern stets, was wird man mit mir tun? Denn die Freiheit verlieren ist gleichbedeutend mit dem Verlust des Rechtes auf seinen Körper. Ich machte eilig Toilette. Sie[[1]] war nicht kompliziert: Fußlappen, Filzpantoffeln, ein alter, schmutziger Rock aus Uniformtuch – von Motten zerfressen – ein von fremdem Schweiß durchtränkter Arrestantenmantel und ein weißes Kopftuch. Seife hatte ich seit zehn Tagen keine mehr bekommen. Auch auf Kamm, Zahnbürste und Zahnpulver haben Verurteilte keinen Anspruch. Und während ich mich anziehe, arbeiten die Gedanken fieberhaft immer in derselben Richtung: was wird mit mir geschehen? Führt man mich etwa zur Hinrichtung? … Aber erst vor drei Tagen wurde mir die Begnadigung vom Kommandanten verlesen: lebenslängliche Zwangsarbeit! … In den zwei Jahren meiner Einzelhaft war mein Kopf etwas wirr geworden: Mögliches und Unmögliches konnte ich nicht mehr klar auseinanderhalten, das Unmögliche schien möglich … Nun, vielleicht werde ich hingerichtet! Oder sie werden die Kameraden hinrichten und mich dazustellen, damit ich das alles sehe und miterlebe. Warum nicht? So erging es doch Dostojewski und anderen … Weshalb sollten sie es nicht wiederholen? … Aber weshalb sagte der Wachthabende: »Ziehen Sie[[1]] sich warm an!« Also soll ich irgendwo hingeführt werden, und unterwegs wird es kalt sein. Aber wohin, wohin? Vielleicht auf einen großen Platz, der voller Menschen ist, und wo das Schafott aufgerichtet ist? … Oder nach Sibirien? Oder ich sitze im Schlitten zwischen zwei Gendarmen, und der Schlitten rast fort aus Petersburg nach den Kara-Bergwerken, wo die Frauen sind, die vor mir verurteilt wurden … Draußen ist Herbst, und gestern war noch kein Schnee zu sehen, aber die großen Filzstiefel und der Halbpelz wecken Vorstellungen von Schneeflächen, Schlitten und einem Dreigespann. In Begleitung der Gendarmen durchschritt ich den Korridor, wir stiegen die Treppe hinab und betraten die Kanzlei. Hier stand am Tisch der Inspektor und am Fenster noch ein Mann in Zivilkleidung, mit dem Rücken mir zugewandt. »Geben Sie[[1]] die Hand,« sagte der Inspektor. Ich streckte die Hand aus ohne zu begreifen. In demselben Augenblick drehte sich der Unbekannte um und nahm für einen Augenblick vorsichtig meine[[Besitz]] Hand, so wie sie der Arzt nimmt, wenn er den Puls fühlt. »Was bedeutet das?« dachte ich. Wahrscheinlich ist das ein Feldscher! Aber wozu? Wozu braucht er meinen[[Besitz]] Puls zu fühlen? Steht mir etwas bevor, wobei ich ohnmächtig werden kann? … Ein dunkler, unmöglicher Gedanke durchflog mein Gehirn. Und ich fühlte, wie mein Herz langsamer zu schlagen begann … Ich sammelte alle meine[[Besitz]] Kräfte. Und der vermeintliche Feldscher wandte sich wieder zum Fenster. Und wieder sagte der Inspektor: »Geben Sie[[1]] die Hand.« Gleichzeitig wandte sich das Individuum mir zu und in seinen Händen klirrte eine Kette. Das Entsetzen vor der Ungewißheit wich der Wut vor der Wirklichkeit. Eine durch nichts zu hemmende Raserei packte mich! Wie? Ich bin doch ein freier Mensch! Und Ketten werden mir angelegt, dieses Sinnbild der Sklaverei! … Und mit diesen Ketten will man meine[[Besitz]] Gedanken, meinen[[Besitz]] Willen fesseln! … Am ganzen Körper zitternd, stampfte ich voll Empörung mit dem Fuße auf und rief, während man meine[[Besitz]] Hand fesselte, voll heißer Erregung, mich an den Inspektor wendend: »Sagen Sie[[1]] meiner Mutter! … sagen Sie[[1]] ihr, daß, was auch immer mit mir geschehen sollte, – ich immer dieselbe bleiben werde! …« »Gut, gut«, murmelte der Inspektor fast erschrocken. »Und sagen Sie[[1]] ihr noch, sie möge nicht um mich leiden: wenn ich nur Bücher haben werde und von Zeit zu Zeit Nachrichten von ihr – so brauche ich nichts mehr! …« »Gut, ich werde alles bestellen … alles«, wiederholte verlegen der Inspektor. Wir passierten den Korridor zwischen zwei Reihen Soldaten und betraten einen kleinen Hof. Im Innern des Hofes standen ein geschlossener Wagen und daneben zwei bewaffnete Gendarmen. Während ich einige Schritte zum Wagen machte, erblickte ich einen der diensthabenden Soldaten, – einen frohsinnigen und gutmütigen Menschen. Er war klein, hatte ein rotes Gesicht mit rötlichem Bart und einer großen Schramme von der Wange bis zur Schläfe. Immer, wenn ich ihn traf, schaute er mich freundlich an und lächelte, als ob er sagen wollte: »Ach Frauchen! Sie[[1]] werden immer blasser und schmaler! Lassen Sie[[1]] es gut sein! Das Leben hat auch seine Freuden! …« Und jedesmal wurde mir in meiner Einsamkeit leichter zumute. Jetzt hatte er sich scheinbar absichtlich mir in den Weg gestellt: sein Gesicht war ernst und traurig. Unsere Augen trafen sich, und die Kehle schnürte sich mir zu: er schaute mich voll Mitgefühl an … Ach, weine nicht … sieh zu, Wera, daß du nicht in Tränen ausbrichst! Weinen in diesem Augenblick, das wäre schmachvoll, redete ich mir selber zu … Aber wie war ich gerührt, wie gerührt. Diesen teilnahmsvollen Blick nahm ich mit in das lebendige Grab, und dort war er mir ein Trost. Dieser einfache russische Mensch, dieser kleine Soldat, der mich gewissenhaft überwachte, war in seiner Seele mit mir! … Er fühlte mit mir, er litt um mich! Er war der Letzte und Einzige, der mich in Freundschaft in das neue, nachtdunkle Leben begleitete. »Wohin führt man mich?« fragte ich den Inspektor, als wir im Wagen saßen. »Ich weiß nicht,« sagte er. &&x Wir fuhren die Newa entlang. Die Minuten schienen Stunden … Doch der Wagen hielt, wir stiegen aus: vor mir war ein kleiner Landungssteg und ein Dampfer; keine Seele darauf sichtbar. Die Gendarmen packten mich und trugen mich fast auf das Verdeck. Dann stiegen wir in die Kajüte, deren Fenster sorgsam verhängt waren. Der Dampfer setzte sich in Bewegung und fuhr … fuhr … Nach etwa 2 bis 3 Stunden erschien ein Offizier und fragte, ob ich Hunger hätte. »Nein.« Nach einigen Minuten erschien er wieder und fragte, ob ich Tee[[Variante1]] wünschte. Ich erwiderte abermals »Nein!« Mögen sie doch nicht kommen, mögen sie doch nicht fragen. Ich will schweigen. Ich muß schweigen. Ich kann meine[[Besitz]] eigene Stimme nicht mehr hören … In den 20 Monaten der Einzelhaft, wo ich nur einmal in zwei Wochen mit Mutter und Schwester sprach, hat sich diese unglückliche Stimme so verändert, sie klingt so dünn … sie klingt verräterisch … Der Dampfer fuhr und fuhr und führte mich ins Unbekannte. Anfangs glaubte ich, wir führen vielleicht nach irgendeinem weiten, entlegenen Hafen. Und von dort mit der Eisenbahn oder einem Wagen weiter. Oder vielleicht gar nach {{Keksholm}}? Ich hörte einmal etwas von dieser Festung in Finnland. Oder vielleicht nach Schlüsselburg? In der Peter-Pauls-Festung hatte ich gelesen, daß in Schlüsselburg für die Narodowolzy ein Gefängnis für 40 Menschen erbaut worden war, und während der Gerichtsverhandlung hatte ein Kamerad aufgeschrien: »Wir gehen alle – nach Schlüsselburg!« Nach ungefähr fünf Stunden hielt der Dampfer an. Die Gendarmen führten mich aufs Verdeck. Dort packten sie mich wie mit eisernen Klammern an den Händen, hoben mich hinaus und führten mich irgendwohin … Vor[[Präposition]] uns erhoben sich weiße Mauern mit hohen, weißen Türmen. Hoch oben auf der höchsten Spitze glänzte ein vergoldeter Schlüssel. Ich zweifelte nicht mehr: es war Schlüsselburg. Der zum Himmel erhobene Schlüssel sprach wie ein Sinnbild, daß es für jene, die hier eintreten, kein Herauskommen gibt. In Begleitung einer Menge Menschen: Offizieren, Gendarmen und Soldaten, schritten wir durchs Tor. Und hier bot sich mir ein völlig unerwarteter Anblick. Es schien eine Idylle. Ein Sommeraufenthalt? Eine landwirtschaftliche Kolonie? Etwas in der Art, so ruhig und einfach … Links ein großes, weißes, zweistöckiges Gebäude, eine Kaserne … es hätte ebensogut ein Institut sein können. Rechts … einzelne kleine Häuschen, weiß gestrichen, vor jedem kleine Gärtchen, und in der Mitte eine große, grüne Wiese mit einzelnen Baumgruppen. Die Bäume sind zwar schon entblättert, doch es ist sehr schön. Und ganz im Hintergrund eine weiße Kirche mit einem großen, goldenen Kreuz. Dieses Kreuz spricht von Frieden und Ruhe und erinnert an das heimatliche Dorf … Das Tor öffnet sich weit, und hinter mir drängt sich der ganze Menschenknäuel hinein und die Treppe hinauf. Wir betreten ein ziemlich geräumiges Zimmer. In einer Ecke des Zimmers steht eine Badewanne. »Die Hände,« sagt der Inspektor. Ich strecke sie aus, und er nimmt mir die Ketten ab. Dann verschwinden alle Anwesenden. Nur ich, ein junger Mensch in der Uniform eines Militärarztes und eine Frau bleiben im Zimmer zurück. Der Doktor sitzt mit dem Rücken mir zugewandt am Tisch, und die Frau entkleidet mich. Nach einigen Minuten stand ich nackt da. Ob ich gelitten habe? … Nein. Ob ich mich schämte? … Nein. Mir war alles gleichgültig. Meine[[Besitz]] Seele war weit von meinem Körper entflohen. Es blieb allein der Körper, der weder Scham noch moralischen Schmerz kennt … Der Arzt stand auf, trat an mich heran und betrachtete mich von allen Seiten. Dann schrieb er etwas auf und verließ das Zimmer. Man hatte mich für immer hierher gebracht … Ich sollte nie mehr dieses Gebäude verlassen, aber trotzdem hatte man es für nötig gehalten, mich auszuziehen und im Buche zu vermerken, ob ich an meinem Körper besondere Merkmale habe! … Vor[[Präposition]] vier Jahren hatten sie genau dasselbe mit meiner Schwester Eugenie nach ihrer Verurteilung getan. Empört darüber, hatte ich das dem Minister des Inneren, dem Grafen Tolstoj erzählt, als er nach meiner Verhaftung mich zu sehen wünschte. »Das ist Mißbrauch der Amtsgewalt,« hatte er erwidert. »Das darf nicht sein …« Und nun, ungeachtet seiner Worte, oder vielleicht gerade, weil ich mich so empört hatte, – geschah mir dasselbe! Ich protestierte nicht, biß, kratzte nicht … Wenn wir in der Kindheit vom alten Rom lasen, wie die Cäsaren zur Belustigung der Volksmassen junge Frauen, Christinnen, nackt in die Zirkusbühne hinausführen ließen, um dann Löwen auf sie loszulassen, – was lernten wir da? Diese Frauen schrien weder, noch sträubten sie sich gegen die Behandlung, die man ihnen zuteil werden ließ! Und auch ich hatte meinen[[Besitz]] Gott, meine[[Besitz]] Religion. Die Religion der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Und zum Ruhme dieser Idee mußte ich alles ertragen. Nach dem Bade, das man mich sodann nehmen ließ, wahrscheinlich um festzustellen, ob ich nichts Verborgenes bei mir habe, verschwand die Frau, und man führte mich nach oben. Ich bezog die Zelle Nummer 26. Die Tür fiel ins Schloß, und in tödlicher Erschöpfung fiel ich auf den Strohsack nieder. &&x Ein neues Leben begann. Ein Leben inmitten tödlicher Stille, auf die man fortwährend unwillkürlich lauscht und die man immer hört. Stille, die dich nach und nach erfaßt, dich umgarnt, dir in alle Körperporen, in den Verstand, in die Seele dringt. Wie unheimlich ist sie in ihrer Lautlosigkeit, wie schrecklich in ihrer Stummheit mit ihren plötzlichen Unterbrechungen. Allmählich schleicht sich an dich das Gefühl eines Geheimnisses heran; alles wird ungewöhnlich, rätselhaft, wie in einer Mondnacht, in der Einsamkeit des stummen Waldes. Alles ist geheimnisvoll, unbegreiflich. In dieser Stille wird das Reale trüb und unwahrscheinlich und das Phantastische real. Alles verwirrt sich. Der lange, graue, einförmige Tag, erschöpfend in seiner Tatenlosigkeit, wird dem traumlosen Schlaf ähnlich … und Nachts träumt man … so grell, so brennend, daß man Mühe hat, sich zu überzeugen, daß das nur Träume sind … Und so lebt man dahin in einem Zustand, wo der Traum Leben scheint und das Leben ein Traum. Und die Töne! Diese verfluchten Töne, die plötzlich unerwartet hörbar werden, dich erschrecken und wieder ersterben … Irgendwo hörst du ein Zischen, als ob eine große Schlange unter der Erde sich hervorwinde, um dich mit ihrem kalten, schlüpfrigen Leib zu umringeln … Aber es ist nur das Wasser, das da unten in der Wasserröhre zischt. Man träumt von Menschen, die in steinernen Särgen eingemauert sind … Man hört einen leisen, leisen, erstickten Schrei … und hat das Gefühl: ein Mensch erstickt unter einem Berg von Steinen … Oh nein, das ist doch nur der leise, ganz leise Husten eines Tuberkulösen. Wenn irgendein Geschirr klirrt … die Phantasie zeichnet sogleich Ketten und gefesselte Menschen. Und was ist hier real, was Phantasie? Grabesstille und plötzlich ein leichtes Rascheln an der Tür: der Gendarm schaut durch den »Judas« in deine Zelle. Wie ein elektrischer Strom trifft es dich. Entsetzen ergreift dich … Und die nächtlichen Träume, diese wahnwitzigen Träume! Du siehst Flüchtlinge, Verfolger, Verfolgte, Gendarmen, Schießerei … Verhaftung. Du siehst, wie man jemand zur Hinrichtung führt … eine erregte Menschenmenge, rohe, wutverzerrte Gesichter … Aber noch öfter siehst du die Folter. Man foltert mit heißem Dampf, der durch feine Röhrchen aus den Wänden dringt, aus dem Fußboden und aus der Decke: er brennt, er peitscht. Es ist furchtbar, es gibt keine Rettung, die Zelle ist verschlossen … Nur eine gesunde Stimme blieb noch in meiner Seele wach, die wiederholte ununterbrochen: »Sei tapfer, Wera, sei fest! Denk an das ganze russische Volk und an das Elend, in dem es lebt! Denk an die Enterbten in der ganzen Welt, an ihre Fron, ihr freudloses Leben; denk an die Erniedrigung, den Hunger, das Elend dieser Menschen … Sei stark! Weine nicht über die Niederlage im Kampfe, weine nicht über die zugrundegegangenen Kameraden. Weine nicht über die Trümmer deines Lebens! … Fürchte nichts! Fürchte nichts! In dieser geheimnisvollen Stille, hinter diesen tauben Steinen sind unsichtbar deine Freunde. Nicht dir allein ist das Leben so schwer, auch sie leiden gleich dir … Denke an sie! Sie[[1]] sind hier! Sie[[1]] behüten dich gleich unsichtbaren Geistern, sie bewachen dich … Nichts wird geschehen … nichts … du bist nicht allein … du bist nicht allein …! &&x &&am &&g1="Die_ersten_Jahre" &&fa Die ersten Jahre &&fe &&ax Man hatte uns alles geraubt; die Heimat und die Menschheit, Freunde, Kameraden und die Familie, man hatte uns abgeschnitten von allem Lebendigen. Selbst das Tageslicht wurde uns durch die matten Doppelfenster geraubt. Die Festungsmauern verdeckten den weiten Horizont, die grünen Wiesen, und vom weiten Himmel war nur ein kleiner Streifen vom Hof aus sichtbar. Von allen Menschen waren uns nur Gendarmen geblieben, die uns gegenüber taub wie Standbilder waren, mit regungslosen Gesichtern. Das Leben ging hin ohne Eindrücke; Tage, Monate, Wochen unterschieden sich in nichts voneinander. Manchmal schien es mir, daß es nichts in der Welt gäbe außer mir und der Zeit, die sich dahinschleppt in ihrer Endlosigkeit. Es war keine Uhr da; es gab nur alle zwei Stunden die Ablösung der äußeren Wache; ihre schweren, regelmäßigen Schritte hallten dumpf im leeren Gefängnishofe wider … Die Zelle, die anfangs weiß gestrichen gewesen war, verwandelte sich in einen düsteren Kasten; der Asphalt-Fußboden wurde mit schwarzer Ölfarbe gestrichen, die Wände oben grau, unten bleifarben, fast schwarz. Niemand konnte sich beim Anblick dieser Zelle des Gedankens erwehren: das ist ein Sarg. Übrigens sah das ganze Innere des Gefängnisses wie ein Grabgewölbe aus. Ab ich eines Tages zur Strafe in den Karzer geführt wurde, sah ich es bei nächtlicher Beleuchtung. Gleich Lichtern in Friedhofskapellen brannten vierzig Lampen neben vierzig fest verschlossenen Türen, hinter denen vierzig Gefangene, lebendig begraben, ihrem Ende entgegensahen. Von allen Seiten umgaben uns Geheimnisse und Ungewißheit: wir durften niemand von den unsrigen sehen, noch mit Verwandten im Briefwechsel stehen. Kein Lebenszeichen durfte von ihnen zu uns, noch von uns zu ihnen dringen. Wir durften von niemand und von nichts wissen, niemand sollte wissen, wo wir uns befanden … »Sie[[1]] werden von Ihrer Tochter erst wieder etwas hören, wenn sie im Grab liegen wird,« hatte der stellvertretende Minister des Inneren, Orschewski {{[Orschewski]}}, zu meiner Mutter gesagt. Selbst unsere Namen wurden der Vergessenheit übergeben; statt ihrer wurden wir mit Nummern bezeichnet, wir wurden staatliche Gegenstände … Wir kannten auch nicht die Gegend, die uns umgab, – wir sahen sie nie. Wußten auch nicht, welche Gefangenen sich hier befanden. Alles, was lieb und nah gewesen war, verschwand. Es blieb nur das Unbekannte, Fremde, Unbegreifliche. Alles beherrschte die Stille. Nicht die Stille, in der die Nerven sich erholen, – jene unheimliche Stille, die den Menschen ergreift, wenn er lange mit einem Toten allein bleibt. Der Mensch horcht auf, lauscht, bereitet sich auf etwas vor und wartet … Diese Stille kann doch unmöglich ewig dauern? Sie[[1]] muß doch mit irgend etwas ein Ende nehmen! Das Vorgefühl von etwas Drohendem nagt an der Seele. Es muß doch irgend etwas geschehen – unwiderruflich geschehen … Es muß schrecklich werden, – viel, viel schrecklicher als alles bisher Erlebte … So vergingen Tage und Nächte und wieder Tage und Nächte, die einander vollkommen glichen. So vergingen Monate, so verging das ganze erste Jahr … &&x Ich war in diesen Jahren sehr niedergedrückt. Doch wen hätte Schlüsselburg nicht niedergedrückt? Und woran hätten wir Narodowolzy uns in Schlüsselburg aufrichten sollen? Die revolutionäre Bewegung war zerschmettert, die Organisation zerstört, das Vollzugskomitee bis auf den letzten Mann zugrundegegangen. Enger zog sich die Schlinge der Selbstherrschaft zusammen, und als wir aus dem Leben ausschieden, hinterließen wir keine Erben, die den begonnenen Kampf hätten fortsetzen können. Der verdüsterten Seele drohte der Zusammenbruch. Aber eine innere Stimme erhob sich und rief warnend: »Halt ein!« Es war nicht Todesangst, die so sprach. Der Tod war erwünscht, er verschmolz mit der Idee des Martyriums, mit dem Begriff der Heiligkeit, der sich in der Kindheit durch die Traditionen des Christentums gebildet und sich später durch die ganze Geschichte der Kämpfe für die Rechte der Unterdrückten vertieft hatte. Die Angst vor dem Wahnsinn, dieser geistigen und körperlichen Erniedrigung des Menschen, hielt mich zurück. Aber zurückhalten, das bedeutete: zum Normalen streben, zur seelischen Gesundung. Und dabei halfen die Freunde. Die stummen Wände Schlüsselburgs begannen ihre Sprache zu sprechen, Verbindungen mit den Kameraden wurden hergestellt. Das gab Wärme, Liebe, und die eisige Rinde Schlüsselburgs schmolz. Auch andere Einflüsse setzten ein; strenge Worte, harte Lehren. Einmal fragte mich mein Nachbar, ein mir unbekannter Mensch, was ich tue? »Ich denke an die Mutter, und – weine,« erwiderte ich. Mein Nachbar fuhr mich an. Er fragte mich, ob ich die Erinnerungen Simon Mayers {{[Simon Mayers]}}, des Kommunarden {{[Kommunarden]}}, gelesen habe. Ob ich mich der Szene auf dem Schiff erinnere, wo man während des Sturmes den Kommunarden die Köpfe zu rasieren beginnt? Er stellte mir als Beispiel diesen Simon Mayer hin. Er belehrte mich! Das entriß mich meinem Zustande. Simon Mayers Erinnerungen hatte ich gelesen. Der Szene auf dem Schiff und noch vieler anderer erinnerte ich mich sehr gut. »Wozu diese Predigt?« dachte ich, »ich bedarf ihrer nicht.« Aber gerade dieser Belehrung bedurfte ich. Wenn mein Nachbar mir Mitgefühl gezeigt hätte, mich freundlich getröstet haben würde, so hätte es sicherlich nicht geholfen: seine Worte hätten meiner Stimmung entsprochen. Aber er tadelte mich offen; er belehrte mich, er kränkte mich. Und diese Kränkung wurde meine[[Besitz]] Rettung. Sie[[1]] stand im Widerspruch zu meinem seelischen Zustand, sie war unvereinbar mit ihm. In der Einsamkeit nimmt jede Kleinigkeit ungeheure Dimensionen an; sie durchdringt das Bewußtsein; sie bohrt darin herum. So war es auch jetzt. Ich konnte die Gedanken an die Worte des Nachbars nicht mehr loswerden. Die Wand, die uns trennte, erinnerte ununterbrochen an unser Gespräch, und jedesmal weckte die Erinnerung daran ein Gefühl der Kränkung und Gereiztheit. Mein Gram, meine[[Besitz]] Schwermut erlitt eine Störung, und das war gut und heilsam. Es gab noch etwas Anderes, unvergleichlich Größeres: Das Gericht war der letzte abschließende Akt des revolutionären Dramas, an dem ich teilgenommen hatte. Meine[[Besitz]] soziale Tätigkeit war damit abgeschlossen. Daß wir, die Narodowolzy, den »Volkswillen«, in den Annalen der Geschichte verzeichnet hatten, daß Schlüsselburg auf die zeitgenössischen Geister einen großen Einfluß ausüben würde, und daß diese russische Bastille auch uns mit ihrem Ruhme bestrahlen würde, daran dachte niemand von uns: wir waren viel zu bescheiden dazu. Und da, im fünften Jahr meiner Einkerkerung, es war nach unserm allgemeinen Hungerstreik, der mit einem Mißerfolg endete, als ich dem Tode näher war als je und sterben wollte, aber gegen meinen[[Besitz]] Willen gezwungen wurde, zu leben; als in meiner Seele Enttäuschung und Verzweiflung herrschten, und meine[[Besitz]] Nerven endgültig erschüttert waren, damals hörte ich den Begabtesten unter uns über mich sprechen. Er sagte: »Wera gehört nicht nur ihren Freunden, sie gehört Rußland …« Diese Worte hoben mich auf eine nie geahnte Höhe, – eine Höhe, die mich ängstigte. Sie[[1]] drückte, diese Höhe; sie legte Verpflichtungen auf, die über meine[[Besitz]] Kräfte gingen. Diese Worte zeigten eine Aufgabe: danach streben, ihrer würdig zu sein, die Aufgabe, an sich zu arbeiten, mit sich zu kämpfen und sich zu überwinden. Kämpfen, sich überwinden! Sich besiegen! Krankheit, Wahnsinn und Tod besiegen … Aber wie kämpfen? Wie sich überwinden? Sich überwinden – hieß die Dunkelheit zerreißen, die auf der Seele lastet, hinwegschieben alles, was die Augen verdunkelt. Hinwegschieben hieß – vergessen … Und ich suchte zu vergessen, die Erinnerungen wegzustoßen. Zehn Jahre stieß ich sie weg – zehn Jahre lang suchte ich zu vergessen. Die Liebe zur Mutter, die Sehnsucht nach der Heimat, nach der Tätigkeit und der Freiheit lagen ein Jahrzehnt lang im Sterben … Es starb der Schmerz ab – mit ihm die Liebe. Der Schnee fiel – ein weißes Gewand überzog die Vergangenheit. Und ich? Ich blieb am Leben und war gesund. &&x &&am &&g1="Minakow_und_Myschkin_erschossen" &&fa Minakow und Myschkin erschossen &&fe &&ax Gleich im ersten Halbjahr nach der Eröffnung des neuen Schlüsselburger Gefängnisses wurden zwei Kameraden, Minakow und Myschkin, erschossen. Beide waren in der revolutionären Bewegung keine Neulinge. Minakow war im Jahre 1879 in Odessa zu Zwangsarbeit in den Kara-Bergwerken verurteilt worden. Er versuchte, zu flüchten. Es mißlang. Er wurde nach dem europäischen Rußland zurückgeschickt, wo er anfangs in der Peter-Pauls-Festung, dann in Schlüsselburg eingeschlossen wurde. Das hieß, für immer lebendig begraben sein. Minakow wollte nicht eines langsamen Todes in der neuen Bastille sterben. Er forderte Genehmigung zum Wiedersehen seiner Verwandten, Briefe, Tabak und Bücher; als ihm das verweigert wurde, trat er in den Hungerstreik ein. Gleichzeitig ohrfeigte er den Gefängnisarzt Sarkewitsch {{[Sarkewitsch]}}. In der Festung hieß es, er habe den Arzt geohrfeigt wegen des Versuches, ihn während des Hungerstreiks künstlich zu ernähren. Aber aus den Dokumenten, die man nach der Revolution 1917 in den Archiven vorfand, geht hervor, daß Minakow an Geschmackshalluzinationen litt und den Verdacht hegte, daß der Arzt seiner Nahrung Gift hinzufügte, um ihn zu vergiften. Um so empörender ist es, daß man einen psychisch kranken Menschen dem Kriegsgericht übergab und binnen 24 Stunden niederschoß. Ein Gesuch um Begnadigung einzureichen, lehnte Minakow ab. Das war im September 1884, einen Monat bevor meine[[Besitz]] Kameraden aus dem Prozeß der 14 und ich nach Schlüsselburg kamen. Im Dezember, am Weihnachtstage, wurden wir alle durch einen tragischen Vorfall aufs tiefste erschüttert. Während des Abendessens hörten wir plötzlich das Klirren zur Erde fallenden Geschirrs und den Lärm eines Handgemenges; eine halberstickte Stimme rief: »Nicht schlagen! Nicht schlagen! Tötet, aber schlagt nicht!« Es war Myschkins Stimme. Myschkin war eine der tragischsten Gestalten der russischen revolutionären Bewegung. Er besaß in Moskau eine Druckerei, in der ausschließlich junge Intellektuelle arbeiteten; Myschkin und seine Mitarbeiter wohnten gemeinsam in demselben Hause, wo sich die Druckerei befand, und bildeten eine Kommune. Als Sozialist stand Myschkin in Verbindung mit jenen, die »ins Volk gingen«. Man druckte in seiner Druckerei illegale Schriften. Es dauerte aber nicht lange, und die Polizei hatte die Spur zur Druckerei gefunden. Sie[[1]] nahm eine Haussuchung vor und verhaftete alle Mitarbeiter. Myschkin war gerade abwesend, und es gelang, ihn noch rechtzeitig zu warnen; anfangs verbarg er sich, später flüchtete er ins Ausland. Dort faßte er den Plan, nach Sibirien zu reisen und aus eigenen Kräften Tschernyschewski zu befreien. In der Uniform eines Gendarmerieoffiziers erschien er beim Chef der Landpolizei in {{Wilnysk}}, wo Tschernyschewski sich befand, mit dem Befehl der III. Abteilung der Kanzlei S M, in deren Ressort die wichtigsten politischen Angelegenheiten fielen., Tschernyschewski in seiner Begleitung nach Petersburg zu schicken. Doch dem »{{Isprawnik}}« schien die Sache verdächtig, und er schlug Myschkin vor, nach Jakutsk in Begleitung zweier Kosaken zu reisen, um dort die Genehmigung des Gouverneurs zu erhalten. Myschkin begriff, daß die Sache verloren war und beschloß, sich der aufgedrungenen Kosaken zu entledigen; in der Nähe von Jakutsk erschoß er den einen, der zweite entkam. Myschkin kam aber nicht weit; er wurde unterwegs gefangen genommen, nach Petersburg gebracht und in den Prozeß der 193 miteinbezogen. Die Angeklagten des Prozesses beschlossen, aus ihrer Mitte einen Redner zu wählen, der die gemeinsam ausgearbeitete revolutionäre Rede vor Gericht halten sollte. Die Wahl traf Myschkin, und er erfüllte seine Aufgabe vollkommen. Umsonst versuchte der Vorsitzende des Senats, Peters, durch grobe Zwischenrufe die scharfe, schneidende Rede Myschkins zu unterbrechen. Vergeblich: Peters war gezwungen, die Sitzung zu unterbrechen; das Gericht zog sich zurück, die Gendarmen stürzten sich auf Myschkin, um ihn aus dem Saal zu entfernen. Die Angeklagten warfen sich dazwischen, um den Kameraden zu verteidigen. Unter allgemeinem Geschrei entwickelte sich ein Handgemenge, das in den Annalen des Gerichts nicht seinesgleichen hat. Myschkin, der schon bis zur Gerichtsverhandlung 3 Jahre im Gefängnis zugebracht hatte, wurde zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er wurde in ein Zuchthaus in der Nähe von Charkow gebracht. Dort herrschten furchtbare Zustände, unter denen er die Zeit von 1878 bis 1880 zubrachte. Während der Diktatur Loris-Melikows wurden die zu Zwangsarbeit Verurteilten nach Kara gebracht. Zwei Jahre darauf flüchtete ein Teil der Sträflinge, unter ihnen auch Myschkin. Er hatte schon glücklich Wladiwostok {{[Wladiwostok]}} erreicht, als er erkannt und nach Petersburg gebracht wurde. Er kam in das Alexej-Vorwerk der Peter-Pauls-Festung, wo die Narodowolzy langsam dahinstarben. In dieser Festung versuchte Myschkin wiederholt, gegen das dort herrschende tödliche Regime eine allgemeine Empörung hervorzurufen; aber seine Aufforderungen fanden keinen Widerhall. Die Festung blieb stumm. Dann wurden alle nach Schlüsselburg gebracht. Fast 10 Jahre hatte Myschkin in den verschiedensten Gefängnissen und Zuchthäusern zugebracht, um zuletzt, nach all den durchlittenen Martyrien, in die hoffnungsloseste der russischen Bastillen zu geraten. Das überstieg selbst die Kräfte eines so eisernen Menschen wie Myschkin. Er beschloß, zu sterben, vorerst aber den Inspektor tätlich zu beleidigen, um ein Gericht zu erzwingen. Vor[[Präposition]] dem Gericht wollte er dann das ganze grausame Geheimnis von Schlüsselburg zur Sprache bringen und, wie er hoffte, mit dem Preis seines Lebens das Schicksal seiner Leidensgenossen erleichtern. Am 25. Dezember 1884 führte er sein Vorhaben aus, und im Januar wurde er auf dem Platz vor der alten Zitadelle erschossen, wo drei Monate vor ihm Minakow das gleiche Schicksal erlitten hatte. Durch seinen Zellennachbar hinterließ er sein Vermächtnis, ihn durch einen allgemeinen Protest zu unterstützen. Aber das Gefängnis blieb stumm. Wir waren so isoliert voneinander, daß das Vermächtnis nicht weiter als bis zur nächsten Zelle drang. Nach seiner Hinrichtung besuchte der stellvertretende Minister Orschewski Schlüsselburg und ging durch alle Zellen. Das Resultat dieses Besuches und, wie wir meinten, die Folge von Myschkins Tod war, daß sechs der schwächsten unter den Gefangenen die Erlaubnis bekamen, zu zweit spazieren zu gehen. Das waren frühere Insassen des Alexej-Vorwerks. Morosow und Butzewitsch, der bald darauf an Tuberkulose starb; Trigoni und Gratschewski, der sich selbst verbrannte; Frolenko und Issajew, der sich im letzten Stadium der Tuberkulose befand. Der Spaziergang zu zweit war die erste Bresche, die in unseren steinernen Sarg geschlagen wurde. Freilich war in den Instruktionen, die an der Wand hingen, gesagt, daß als Belohnung für »gute Führung« der Spaziergang zu zweit gestattet sei, aber das waren bisher nur tote Buchstaben geblieben. Auch nach dem Besuch Orschewskis erstreckte sich die Vergünstigung auf niemand sonst. So war der Wille des Inspektors: wir führten uns alle nicht gut genug auf. &&x &&am &&g1="Ich_finde_einen_Freund" &&fa Ich finde einen Freund &&fe &&ax Ich wußte, daß in der Festung sich noch eine Frau befand, und zwar Ludmila Wolkenstein {{[Ludmila Wolkenstein]}}, die gemeinsam mit mir im Prozeß der 14 verurteilt worden war. Ich wandte mich daher im Januar 1886 an den Inspektor, mir den Spaziergang zu zweit zu bewilligen. Der Inspektor dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Gut, man kann es gestatten, aber nicht klopfen.« Ich erwiderte, daß ich ohnehin sehr wenig klopfte. Das Gespräch war damit zu Ende, und ich blieb nach wie vor einsam. Am 14. Januar, als man mich zum Spaziergang führte und die Tür zum Vorhof sich öffnete, erblickte ich unerwartet vor mir eine Gestalt im Halbpelz mit einem groben Leintuch um den Kopf. Sie[[1]] schloß mich stürmisch in ihre Arme. Mit Mühe erkannte ich in dieser Gestalt Ludmila Wolkenstein. Höchstwahrscheinlich war sie über die Metamorphose, die mit mir dank der Sträflingskleidung vorgegangen war, ebenso betroffen. Und so standen wir eng umschlungen und wußten nicht, ob wir uns freuen oder ob wir weinen sollten. Ich hatte Ludmila nur während der Gerichtsverhandlung gesehen, vorher kannten wir uns nur von Hörensagen. Ihre überquellende Herzlichkeit, ihre Einfachheit und Aufrichtigkeit bezauberten mich vollkommen. Man brauchte nicht viel Zeit, um sich mit ihr derartig zu befreunden, wie es nur in unseren Verhältnissen, möglich war. Wir waren wie Menschen, die Schiffbruch gelitten und vom Sturm auf eine unbewohnte Insel geworfen worden waren. Wir hatten niemand und nichts außer unserer Freundschaft. Nicht nur Menschen, sondern auch die Natur, die Farben, Töne, alles war für uns verschwunden. An Stelle dessen blieb ein düsteres Grabgewölbe mit geheimnisvoll vermauerten Zellen, in denen unsichtbare Gefangene schmachteten, wo eine unheilverkündende Stille und eine Atmosphäre von Gewalt, Wahnsinn und Tod herrschte. Leicht begreiflich, welche Erquickung ein Freundschaftsverhältnis unter solchen Bedingungen bereitete und daß es für immer die rührendsten Erinnerungen hinterlassen mußte. Wie in der Gefangenschaft die zarte, weiche Zuneigung eines Kameraden wirkt, weiß jeder, der im Gefängnis gewesen ist. Tatsächlich wirkt sie oft Wunder, und wäre nicht das leise Klopfen an der Wand, welches das steinerne Hindernis, das die Menschen dort voneinander trennt, hinwegräumt, so wäre der Verurteilte sicher nicht imstande, das Leben und den Verstand zu bewahren. Nicht umsonst ist der Kampf um das Klopfen der erste Kampf, den der Gefangene mit den Gefängniswächtern führt; er ist einfach der Kampf um die Existenz, und jeder, der in der Zelle eingemauert ist, hascht danach fast unbewußt, wie der Ertrinkende nach einem Strohhalm. Zu diesem Zweck wird das Alphabet in nebenstehender Weise eingeteilt und jeder Buchstabe wird durch eine bestimmte Anzahl Stöße gekennzeichnet, die seiner Stellung innerhalb des Feldes entsprechen (z. B. r = &&fa . . . . . . &&fe ) &&am a b c d e f g h i k l m n o p q r s t u v w x y z &&ax Und wenn dann endlich der Augenblick eintritt, wo die zur Einzelhaft Verurteilten einander sehen und sprechen können, und die lebendige Sprache das symbolische Klopfen ablöst, dann schafft ein freundlicher Blick, ein freundschaftlicher Händedruck ein derartiges Labsal, wie es nur jene nachempfinden können, die selbst der Freiheit beraubt gewesen sind. &&x Ich weiß nicht, was ich Ludmila Wolkenstein gewesen bin, aber daß sie mein Trost, meine[[Besitz]] Freude, mein Glück gewesen ist, das weiß ich. Meine[[Besitz]] Nerven, wie mein ganzer Organismus überhaupt, waren aufs tiefste erschüttert. Ich war körperlich und seelisch zu Tode erschöpft; plötzlich hatte ich einen Freund, auf den die Gefängniseindrücke nicht so verheerend gewirkt hatten wie auf mich, und dieser Freund war die Verkörperung der Güte, Zärtlichkeit und Menschenfreundlichkeit. Den ganzen Schatz ihrer Seele schüttete sie freigiebig über mich. Wie verdüstert ich auch war, sie verstand es immer, mich durch irgend etwas zu zerstreuen und zu trösten. Schon ihr Lächeln und der Anblick ihres lieben Gesichtes verscheuchten die Schwermut und schufen Freude. Nach jedem Zusammentreffen mit ihr war ich beruhigt, wie neugeboren, die Zelle schien mir nicht mehr so düster und das Leben nicht mehr so schwer. Gleich nach meiner Rückkehr vom Spaziergang begann ich vom neuen Wiedersehen mit ihr zu träumen … Wir sahen uns jeden zweiten Tag: die Gefängnisadministration hielt es für notwendig, unsere Freude durch einen Tag völliger Einsamkeit etwas zu schmälern. Aber das verschärfte nur unsere Sehnsucht und hielt unsere feierliche Stimmung aufrecht. Wenn im Gefängnis irgendein Unglück geschah, wenn unsere Kameraden dahinstarben, deren Todesstöhnen wir durch die Gefängnismauern deutlich hörten, da die Akustik hier außerordentlich gut war, trafen wir uns bleich, niedergeschlagen und stumm. Unsere Blicke mieden sich, wir küßten und umarmten uns und gingen schweigend den schmalen Pfad auf und nieder oder setzten uns auf die Erde, an den Zaun gelehnt, so weit wie möglich vom Gendarm entfernt, der jede unserer Bewegungen bewachte. In solchen Tagen war allein schon die körperliche Nähe, die Möglichkeit, sich an die Schulter des anderen zu lehnen, eine Erquickung und erleichterte die Schwere des Lebens. In einem Monat des Jahres 1886 starben nacheinander: Nemolowski {{[Nemolowski]}}, Issajew und Ignati Iwanow {{[Ignati Iwanow]}}. Sie[[1]] starben an Tuberkulose. Iwanow war überdies wahnsinnig geworden. Issajews dumpfer, heiserer Husten war herzzerreißend. Manchmal gingen wir gleich nach ihm spazieren, und da sahen wir immer rechts und links auf dem weißen Schnee das Blut, das er soeben gespuckt hatte. Dieses Blut des Kameraden, wie beklemmte es die Seele! … Das Blut, das mit Schnee zu bedecken, man nicht einmal für nötig gehalten hatte, machte uns das Herz so unendlich schwer. Es war wie ein Symbol erlöschenden Lebens, des Lebens eines Kameraden, dem weder die Wissenschaft noch eine menschliche Kraft helfen wird … Und es war kein Plätzchen da, wohin man die Augen von diesem Blute hätte wegwenden können. Dieser kleine, abgezäunte Raum des »Käfigs« war voll Schnee; es blieb nur ein kleiner Pfad, den man zum Gehen benutzen konnte. Diese Folter war gemein, denn mit einigen Schaufeln Schnee hätte man leicht die Blutspuren verwischen können, aber statt dessen wurden sie zynisch, zur Qual und zur Belehrung der Gefangenen, sichtbar gelassen. Issajews Todesqualen waren furchtbar. Es war die schwerste Agonie, die wir durchlebten. Etwas Opium oder Morphium hätte ihm wahrscheinlich den Todeskampf erleichtert und uns diese Erschütterung erspart. Aber nichts geschah. Grabesstille herrschte im Gefängnis … Mit angehaltenem Atem lauschten wir auf diese tödliche Stille … kein Laut war hörbar … bis plötzlich in diesem gespannten Zustand ein anhaltendes Stöhnen laut wurde, das eher einem Schrei glich. Es ist immer schwer, den Tod eines Menschen mitzuerleben, aber noch unendlich schwerer und furchtbarer ist es, eingemauert im steinernen Loch ohnmächtig Zeuge eines solchen Sterbens zu sein. Nur im Gefängnis oder Irrenhaus, das überhaupt dem Gefängnis in vielen Beziehungen ähnlich ist, können solche erschütternden Szenen vorkommen … Im Frühjahr bekamen ich und Ludmila Wolkenstein je zwei Beete im Gemüsegarten zur Bearbeitung. Schon lange vorher war unser Interesse durch besonders geheimnisvolle Vorbereitungen, die heimlich hinter dem Zaun vorgenommen wurden, geweckt worden; später merkten wir, daß dort Umzäunungen für 6 Gemüsegärten errichtet wurden. Unser Gärtchen war ein kleines, längliches, sehr unscheinbares Plätzchen, wo fast nie ein Sonnenstrahl hinkam. Auf der einen Seite grenzte es an die hohe, steinerne Festungsmauer, an den anderen drei Seiten an einen hohen Zaun; es lag ganz im Schatten, und trotzdem erschien uns dieser kalte Schacht wie ein Paradies. Bisher hatten wir in unserem »Käfig« nur einen hartgeschlagenen, steinernen Erdboden, wo kein einziges Gräschen gedeihen konnte. Das sollte unsere Bewachung erleichtern, falls wir es uns etwa einfallen ließen, einen Briefwechsel untereinander anzuknüpfen und unsere Briefe im Grase zu verstecken. Das erste Grün auf unseren Beeten bereitete uns ein unsagbares Vergnügen, und als im Sommer die ersten Blumen blühten, gerieten wir in ein echt kindliches Entzücken. Wir sehnten uns so furchtbar nach Wiesen und Feldern. Der Anblick eines Grasbüschels rief einen Sturm von Gefühlen in unserer dürstenden Seele hervor, jedes Grashälmchen war uns ans Herz gewachsen. Ludmila Wolkenstein liebte mit ganz besonderer Zärtlichkeit die Insekten und Tiere. Sie[[1]] hatte die Sperlinge so an sich gewöhnt, daß ganze Schwärme ihr auf den Knien saßen und Brotkrumen aus ihren Händen pickten. Oft, wenn wir auf- und niedergingen, bemerkte ich plötzlich, daß sie einen Umweg machte und mich auf die Seite zog. Auf meine[[Besitz]] erstaunte Frage, warum dies geschehe, erwiderte sie, sie habe einen Käfer oder eine Raupe bemerkt und befürchtet, sie zu zertreten. Später, als wir Himbeeren gepflanzt hatten, und die kleinen Raupen sie abzufressen begannen, konnte ich sie keineswegs dazu bewegen, diese Raupen zu vernichten. Lieber opferte sie die Himbeeren, ja den ganzen Strauch, aber ein lebendes Wesen töten, das konnte sie nicht! Mich interessierte es, ob ihr Verhältnis zu den Tieren von jeher so gewesen sei? Sie[[1]] erwiderte mir, sie habe stets für alles Lebende die größte Achtung gehabt. Und tatsächlich war das bei ihr nicht zeitweilige Sentimentalität, hervorgerufen durch das Gefängnisleben, sondern ein aufrichtiges Gefühl, das in völligem Einklang mit ihrer ganzen liebevollen Natur stand. Einen humaneren Menschen kann man sich schwer vorstellen, und in den ersten Jahren, als der Kleinkampf mit der Gefängnisverwaltung sie noch nicht verdüstert hatte, leuchtete ihre Seele in strahlendem Glanze. Ludmila Wolkenstein kannte die Menschen und das Leben und idealisierte sie nicht. Sie[[1]] nahm sie so, wie sie sind, als ein Gemisch von Licht und Schatten. Des Lichtes wegen liebte sie sie, und den Schatten verzieh sie. Sie[[1]] hatte die glückliche Gabe, an jedem Menschen gute Seiten herauszufinden und glaubte unerschütterlich an den guten Kern, der in jedem Menschen sei. Sie[[1]] war überzeugt, daß Liebe und Güte jedes Böse bezwingen könne; nicht Strenge noch Repressalien, sondern ein gutes, teilnehmendes Wort, ein freundschaftlicher Tadel waren ihrer Ansicht nach die besten Mittel zur Besserung. Grenzenlose Nachsicht war der Grundzug in ihren Beziehungen zu den Menschen. Ihr Lieblingswort war: »Wir alle bedürfen der Nachsicht.« Meine[[Besitz]] Weltanschauung war lange nicht so weit, aber in den ersten Jahren meiner Gefangenschaft, fern von jedem sozialen Kampf und jener Atmosphäre, in welcher ich in der Freiheit gelebt hatte, wurde ich weicher, und die Freundschaft mit einem solch schönen Wesen, in dem die Liebe verkörpert war, nicht nur zur Menschheit, sondern auch zum einzelnen Menschen, machte auf mich einen bezaubernden Eindruck. Ich empfand ein moralisches und ästhetisches Vergnügen; hier war Liebe, Schönheit, Güte in anderer Gestalt als in jener rauhen Energie und jenem eisernen Willen, der alles zerbricht, was sich ihm in den Weg stellt und deren Verkörperung ich rings um mich sah … &&x Wenn ich Ludmila zuhörte und sie beobachtete, dann mußte ich mich fragen, wie ihre Humanität und Herzensgute mit der Gewalt und dem Blut revolutionärer Tätigkeit vereinbar waren. Wärme und Licht um sich verbreiten, die Menschen ringsum beglücken, das schien mir die Aufgabe für eine solch liebende Natur. Aber das Häßliche und Ungerechte in der politischen Ordnung stießen sie auf einen anderen Weg. Die schreiende Ausbeutung der arbeitenden Massen hatte sie zur Sozialistin gemacht. Die Unmöglichkeit, in Rußland ungehindert sozial zu wirken, die barbarische Unterdrückung der Persönlichkeit hatten sie zu einer Terroristin gemacht. Diese selbstlose Seele sah im revolutionärem Protest die einzige Form, in der sich ihre Gefühle auslösen konnten, um den Preis des eigenen Lebens ebnete sie der künftigen Generation den Weg … Wie glücklich mich der Verkehr mit Ludmila auch machte, so waren wir doch gezwungen, im Herbst 1886 auf unsere gemeinsamen Spaziergänge zu verzichten, obgleich sie die einzige Freude in unserem Leben waren. Das kam folgendermaßen: nach den Gefängnisinstruktionen war der Spaziergang zu zweit eine Vergünstigung, die nur für »gutes Benehmen« erteilt wurde. Es war natürlich für niemand angenehm, als Beispiel für »gutes Benehmen« ausgenutzt zu werden, und da die Einschätzung eines jeden vom Inspektor abhing und er Vergünstigungen nach seinem Gutdünken erteilte, so entstand gewöhnlich die schreiendste Ungerechtigkeit. Es gab Kameraden, die sich in nichts von der allgemeinen Haltung unterschieden und die doch keine Vergünstigung bekamen. Sie[[1]] klopften ein wenig untereinander, aber das taten alle. Im Gefängnis ist es unmöglich, auf das Klopfen zu verzichten; nur die Geisteskranken klopfen nicht. Wenn also die einen den Spaziergang zu zweit und die Bearbeitung der Gärtchen bekamen, so erschien es doch natürlich, daß alle anderen diese Erleichterung auch bekämen. Dem war aber nicht so, und manche Kameraden, so Kobyljanski und Slatopolski starben, ohne je ein Freundesantlitz erblickt zu haben. Wieder andere, Pankratow {{[Pankratow]}}, Martynow {{[Martynow]}}, Lagowski {{[Lagowski]}}, mußten auf diese Vergünstigung noch Jahre hindurch warten. Mit welchen Mitteln man manchmal ein Wiedersehen mit Kameraden erzwingen konnte, zeigt das Beispiel Popows. Einst wurde das ganze Gefängnis durch den Ruf: »Zu Hilfe« aufgeschreckt. Popows Tür wurde geöffnet, und der Inspektor erschien. »Was ist los?« fragte er grob. »Ich kann so nicht länger leben,« erwiderte Popow. »Geben Sie[[1]] mir ein Wiedersehen mit einem der Kameraden.« Der Inspektor schaute ihn durchdringend an und sagte: »Gut, ich werde es dem Kommandanten melden.« Der erschien nach einigen Minuten. »Was will der Gefangene?« fragte er. »Ich kann so nicht weiterleben«, wiederholte Popow. »Lassen Sie[[1]] mich zu zweit Spazierengehen …« Der Kommandant: »Der Gefangene hat ›Zu Hilfe‹ geschrien und fordert Vergünstigung. Der Gefangene möge bedenken, wenn wir jetzt gleich seinen Wunsch erfüllten, welch ein Beispiel wäre das für die anderen? Wenn aber der Gefangene ruhig abwarten wird, so werden wir seine Bitte erfüllen. Sollte er aber noch einmal schreien, so führen wir ihn ins andere Gebäude über.« (D. h. in das alte Gefängnis oder in den Karzer.) Popow zog es vor, etwas zu warten, und nach einigen Tagen ging er mit Schebalin {{[Schebalin]}} spazieren. Aber nicht alle waren so erfinderisch wie Popow, und die Mehrzahl schwieg. Überhaupt war die Verteilung der Vergünstigungen einfach eine Waffe in den Händen des Inspektors. Wer auf sein »Du« ebenfalls mit »Du« antwortete, verlor jede Aussicht, einen von den Kameraden zu sehen, selbst, wenn seine Lebenstage schon gezählt waren. Slatopolski hatte keine Zusammenstöße mit ihm, nur daß er etwas klopfte. Er bekam einen Blutsturz – seine Kräfte schwanden von Tag zu Tag, aber der Inspektor ließ ihn mit kalter Grausamkeit in seiner Einsamkeit. Dasselbe geschah mit Kobyljanski, der dem Inspektor auf sein »Du« mit einem »Du« antwortete. Auch gegen Pankratow übte er Rache. Wie schwer war da nach der Rückkehr vom Spaziergang der Gedanke an den Nachbar, der der letzten Freude, den Kameraden zu sehen, beraubt war. Unendlich schwer wurde der Spaziergang zu zweit beim Gedanken an den Kameraden, der ganz in der Nähe niedergeschlagen herumirrt, sich ebenso nach einem Zusammentreffen sehnt und ebenso der Teilnahme und der Gesellschaft eines Freundes bedarf. Aber nie kam mir der Gedanke an einen Ausweg aus dieser Lage. Mir erschienen die Gefängnisregeln eine ebenso unbeugsame Festung wie die steinernen Wände, die eisernen Türen und die Gitter. Es erschien mir ebenso unmöglich, dieses uns so drückende Regime zu brechen, wie die Wände und die Schlösser zu zerstören. Aber Ludmila Wolkenstein war darin anderer Meinung; sie glaubte, man müsse gegen die Gefängnisordnung in dieser oder jener Form protestieren. Die Verteilung der Vergünstigungen durch den Inspektor geschah willkürlich und ungerecht und konnte deswegen nicht geduldet werden. Ludmila schlug den passiven Protest vor, und zwar den freiwilligen Verzicht auf die Vergünstigung. Natürlich mußte der Verzicht motiviert werden: man sollte auf das mehr oder weniger gleiche Verhalten aller Gefangenen hinweisen und auf das Gefühl der Kameradschaftlichkeit, das uns verbot, etwas ruhig zu genießen, das die anderen entbehren mußten. Ich konnte mich lange zu diesem Opfer nicht entschließen. Gewiß, ich litt bei dem Gedanken, etwas zu genießen, das die anderen neben mir furchtbar entbehrten, aber ich fühlte mich wie verschüttet, und der Umgang mit Ludmila war meine[[Besitz]] einzige Freude! Wenn ich noch wenigstens hätte glauben können, daß wir durch unser Opfer tatsächlich etwas erreichen würden, durch unseren freiwilligen Verzicht dem Inspektor die Waffe entwinden würden, die zur Unterdrückung unserer Kameraden diente! Aber ich hielt es für ausgeschlossen und war daher gegen unnütze Selbstgeißelung, um so mehr, als ich vollkommen im klaren darüber war, daß der Verzicht für immer gegolten hätte. Außerdem waren manche Kameraden unter den Begünstigten schon so schwer krank, daß eine freundschaftliche Unterstützung ihnen absolut nottat. Als Ludmila Wolkenstein sah, wie furchtbar der Gedanke einer Trennung auf mich wirkte, ließ sie für eine Zeitlang das Thema fallen. Aber trotzdem bewegte uns diese Frage innerlich ununterbrochen, und allmählich tauchte sie in unseren Gesprächen wieder auf. Ludmila wies immer auf neue Seiten der Frage hin, man müsse nicht nur die unmittelbaren Resultate des Protestes im Auge behalten; es handle sich darum, daß die Vergünstigung aufhöre, Vergünstigung zu sein, und zur Norm werde. Außerdem habe der Protest als solcher Bedeutung. Die Administration müsse sehen, daß wir nicht passive Zuschauer der Ungerechtigkeit und Willkür sein wollen, daß wir, im Gegensatz zur beständigen Forderung der Obrigkeit, nur an uns zu denken, mit unseren Kameraden leiden und zu ihrem Schutz die Stimme erheben. »Jeder spreche nur von sich,« war die übliche Bemerkung, die wir zu hören bekamen, sobald wir das Wort »wir« gebrauchten. Wir aber würden freiwillig im Namen der Kameradschaftlichkeit auf etwas verzichten, das in den Augen der Obrigkeit eine Belohnung sein soll. Nichts schätzt sie höher als eine passive, widerspruchslose Unterwerfung unter ihre Verfügungen. Plötzlich lehnen sich Menschen dagegen auf, die nicht nur aller juridischen, sondern auch aller elementaren Menschenrechte beraubt sind. Menschen, gegen welche alle Maßregeln ergriffen worden sind, um die Persönlichkeit in ihnen zu ersticken, diese Menschen erheben sich, wenn auch nur für einen Moment, über ihre Schergen und Henker, sie wagen es, die Gefängnisvorschriften und -verfügungen zu kritisieren und weisen auf die Notwendigkeit hin, das Regime zu ändern, das geschaffen wurde, um eben diese Kritiker unter eisernem Druck zu halten. Allmählich gelang es Ludmila Wolkenstein, mich von der Gerechtigkeit dieser Argumente zu überzeugen, und gemeinsam mit einigen anderen Kameraden verzichteten wir vorläufig auf die Vergünstigungen, bis alle Gefangenen sie genießen würden. Anfangs schlossen sich fast alle dem Protest an, aber nach und nach fielen einige ab, und nur Ludmila und ich, J Bogdanowitsch, Popow und Schebalin führten ihn zu Ende. Im Laufe der nächsten 10 Jahre machten wir weder von den Gärtchen, noch vom Recht gemeinsamen Spazierganges Gebrauch. &&x &&am &&g1="Im_Karzer_(1887)" &&fa Im Karzer (1887) &&fe &&ax In den ersten Jahren war ich, wie die Mehrzahl der Neulinge, in derartig niedergedrückter Stimmung, daß ich glaubte, der einzige Ausweg eines an Händen und Füßen gefesselten Menschen sei Schweigen. Aber in dieser Stimmung sprach sich nicht nur das Bewußtsein aus, daß jeder Widerstand und jeglicher Kampf vergeblich seien, sondern noch etwas anderes war in ihr enthalten. Jeder, der gleich mir in der Kindheit unter dem berückenden Einfluß Jesu Christi gestanden hat (der im Namen seiner Idee Beschimpfungen, Leiden und Tod ertragen hat, und dessen Leben ein Vorbild der selbstlosen Liebe gewesen ist), wird die Stimmung eines verurteilten Revolutionärs begreifen, der für die Idee der Volksbefreiung lebendig begraben wurde. Nach dem Urteilsspruch bemächtigt sich seiner ein ganz besonderes Gefühl. Ruhig und gefaßt läßt er alles zurück und blickt in die Zukunft im vollen Bewußtsein, daß das Kommende unvermeidlich und unabwendbar ist. In einer solchen Stimmung ist irgendwelcher Kampf mit der Gefängnisadministration undenkbar. Auch Jesus wehrte sich nicht, als man ihn verspottete und schlug. Jeder Gedanke daran wäre eine Profanierung seiner reinen Persönlichkeit und seiner sanften Größe gewesen. Aber trotz dieser nachgiebigen Stimmung hatte ich ein halbes Jahr nach meiner Trennung von Ludmila Wolkenstein einen Zusammenstoß mit dem Gefängnisregime, der leicht hätte tragisch enden können. Eines Abends, es war schon neun Uhr, und der Inspektor machte gerade die übliche Runde, rief mich das laute Klopfen Popows. Ich war müde: der leere, öde Gefängnistag ist unendlich lang und ermüdend. Ich wollte mich schon auf das Lager werfen, um einzuschlafen, aber ich hatte doch nicht den Mut, dem Kameraden die Antwort zu verweigern, und antwortete. Kaum aber hatte Popow den ersten Satz zu klopfen begonnen, als die Töne plötzlich abbrachen. Ich hörte eine Tür ins Schloß fallen und vernahm laute Schritte in der Richtung zum Ausgang; dann wurde alles still. Ich verstand sofort: der Inspektor hatte Popow in den Karzer abgeführt. Der Karzer war ein Ort, von dem der Inspektor drohend zu sagen pflegte: »Ich werde dich dorthin führen, wo dich keine lebendige Seele hören wird!« Keine Menschenseele, wie furchtbar! … Hier unter dem Gefängnisdach sind wir doch zusammen, wenn auch eingeschlossen in den steinernen Zellen, wir sind alle hier, und darin liegt ein gewisser Schutz. Jeden Schrei und jedes Stöhnen hörten wir alle. Aber »dort« … Dort hört dich keine Seele! Ich wußte, daß Popow erst vor kurzem dort gewesen war, und man ihn grausam geschlagen hatte. Dieser Gedanke, daß er wieder ganz allein an diesem schrecklichen Orte sei, und daß die ganze Gendarmenbande sich wieder auf ihn, den Wehrlosen, stürzen werde, dieser Gedanke, der mich im nächsten Augenblick durchfuhr, erschien mir so furchtbar, daß ich meinen[[Besitz]] Entschluß faßte: auch ich werde dorthin gehen; wenigstens wird er dann das Bewußtsein haben, daß er nicht allein ist, und daß er einen Zeugen hat. Ich klopfte und bat, den Inspektor zu rufen. »Was gibts?« fragte er ärgerlich. »Es ist ungerecht, einen zu bestrafen, wenn zwei geklopft haben. Führen Sie[[1]] mich auch in den Karzer!« »Gut,« erwiderte ohne Zögern der Inspektor und öffnete die Tür. Kaum hatte ich den Gang durchschritten und mich der Treppe genähert, als die Stimme meines Nachbars erscholl: »Wera wird in den Karzer geführt!« und Dutzende von Händen begannen an die Türe zu schlagen mit dem Ruf: »Führt auch uns in den Karzer!« In dieser düsteren Umgebung, die mich tief erregte, riefen die Stimmen dieser unsichtbaren Menschen, die Stimmen der Kameraden, die ich schon viele Jahre nicht gehört, eine schmerzliche Freude in mir hervor: wir sind zwar getrennt, aber doch solidarisch; getrennt, aber seelisch einig. Der Inspektor geriet in Raserei. Als wir den Hof in Begleitung von mehreren Gendarmen betraten, schüttelte er konvulsivisch die geballte Faust, die krampfhaft den Schlüsselbund festhielt. Mit verzerrtem Gesicht und vor Wut zitterndem Barte zischte er durch die Zähne: »Rühre dich dort nur, und ich werde dir zeigen!« Dieser Mensch flößte mir Angst ein; ich hatte von den Mißhandlungen gehört, die auf seinen Befehl die Gendarmen dort vollzogen, und der Gedanke durchzuckte mich: Wenn sie mich schlagen, werde ich sterben. Aber mit ruhiger, mir selbst fremd erscheinender Stimme erwiderte ich: »Ich gehe nicht dahin, um zu klopfen.« Weit öffnete sich das Tor der Zitadelle, und das Entsetzen in mir wich dem Gefühl des Entzückens. Fünf Jahre schon hatte ich den nächtlichen Himmel nicht gesehen. Jetzt wölbte er sich über mir, und die Sterne leuchteten mir. Die hohen Mauern der Zitadelle schimmerten weiß, und wie in einen tiefen Brunnen strömte das silberne Licht der Mondnacht herab. Der ganze Hof war mit Gras bewachsen; der Fuß versank darin und empfand seine erfrischende Kühle, es lockte und sprach von grünen Wiesen, von freien Feldern. Von einer Mauer zur andern zog sich ein niedriges, weißes Gebäude hin. In der Ecke stand ein hoher Baum. Hundert Jahre schon wuchs er einsam ohne Kameraden, und in seiner Einsamkeit entfaltete er ungehemmt seine wunderbare Krone. Das weiße Gebäude war das »alte« Gefängnis, das im ganzen für zehn Gefangene berechnet war. Die Schlüssel klirrten, und mit Mühe nur ließ sich die Tür öffnen. Aus dem unbewohnten, kalten und feuchten Gebäude schlug mir Moderluft entgegen. In der kalten Dämmerung erkannte man nur undeutlich die Gestalten der Gendarmen, die im Halbdunkel liegenden Türen, die dunklen Ecken, alles war so unheilverkündend, daß ich unwillkürlich an eine Folterkammer dachte … Der Inspektor sagte mit Recht, es sei ein Ort, wo keine lebende Seele etwas hört. Im nächsten Augenblick wurde die Tür links geöffnet und ein brennendes Lämpchen hineingestellt; die Tür fiel zu, und ich war allein. Die enge Zelle war kalt und unsauber: die Wände schmutzig, der angestrichene Asphaltboden löchrig, ein unbeweglicher kleiner Tisch und eine kalte, eiserne Pritsche, weder Matratze noch Strohsack … Stille ringsum. Umsonst wartete ich darauf, daß die Gendarmen mit einem Strohsack und einer Decke zurückkommen würden. Ich hatte nichts als das Hemd, einen dünnen Baumwollrock und den Arrestantenmantel an und begann vor Kälte zu zittern. Wie ich auf dem eisernen Geflecht ohne Matratze schlafen sollte, wußte ich nicht. Ich versuchte es aber trotzdem und legte mich hin. Doch es war unmöglich, einzuschlafen, oder auch nur darauf zu liegen; es wehte eisig vom Boden, von den steinernen Wänden, und den Körper durchlief ein Schauer bei der Berührung mit dem Eisen. Am nächsten Tag nahm man mir auch die Pritsche; sie wurde hochgeschlagen und an die Wand angeschlossen. Die nächste Nacht mußte ich auf dem steinernen Fußboden in Schmutz und Staub liegen. Schon abgesehen von dem Schmutz konnte ich unmöglich den Kopf auf den eiskalten Boden legen. Um den Kopf zu retten, mußte ich die Füße opfern: ich zog die groben Arrestantenschuhe aus, sie dienten mir als Kopfkissen. Als Nahrung bekam ich schwarzes, steinhartes Brot; als ich es durchbrach, war es innen ganz verschimmelt. Nur die Rinde war eßbar. Salz gab es nicht. Von Handtuch und Seife gar keine Rede. Als ich in den Karzer ging, dachte ich nicht daran, zu klopfen: ich ging, um Popow die Einsamkeit zu erleichtern. Aber Popow dachte nicht daran, zu schweigen, er wollte sich unterhalten. Am nächsten Morgen rief er mich an, und ich war schwach genug, zu antworten. Kaum aber hatte er den Versuch zum Klopfen gemacht, als die Gendarmen Holzscheite ergriffen und meine[[Besitz]] und Popows Tür zu bombardieren begannen. Es entstand ein nicht zu beschreibender Lärm. &&x Man kann sich unmöglich einen Begriff davon machen, welche Qualen einem ein solcher Lärm bereiten kann, wenn man durch die jahrelange Grabesstille des Gefängnisses aller Geräusche entwöhnt ist. Unfähig, diese wahnsinnige Klopferei aufzuhalten, geriet ich in rasende Wut und begann ebenfalls mit den Fäusten an die Tür zu schlagen, hinter welcher die Gendarmen tobten. Diese Szenen waren unerträglich. Trotzdem unternahm Popow immer wieder seine Versuche und steigerte dadurch die Wut der Gendarmen aufs höchste. Endlich riß ihnen die Geduld. Der Höllenlärm brach plötzlich ab, im Korridor wurden die schweren Schritte des Inspektors laut, und in der unheimlichen Stille begannen im Flüsterton unheilverkündende Beratungen und irgendwelche Vorbereitungen. Nun, dachte ich, wird Popows Tür geöffnet und sie stürzen sich auf ihn, schlagen ihn. Und ich soll passiver Zeuge dieses wilden Gerichtes sein? Nein, ich halte es nicht aus. Ich begann, den Inspektor zu rufen. Er öffnete die Tür, und ich sagte ihm mit heiserer Stimme: »Sie[[1]] wollen Popow schlagen, schlagen Sie[[1]] ihn nicht. Sie[[1]] haben es schon einmal getan – auch für Sie[[1]] kann die Vergeltung kommen!« »Ich dachte nicht daran, ihn zu schlagen,« begann unerwartet der Inspektor sich zu verteidigen, »wir haben ihn gefesselt, und er hat sich gewehrt, das ist alles.« »Nein, Sie[[1]] haben ihn geschlagen,« erwiderte ich fest. »Sie[[1]] haben ihn geschlagen, es gibt Zeugen dafür. Nr 5 wird nicht mehr klopfen,« setzte ich hinzu, »ich werde es ihm sagen, und er wird aufhören.« »Gut«, knurrte der Inspektor. Ich rief Popow und sagte ihm, daß ich keine Kraft mehr habe, einen derartigen Krieg zu führen, und ihn bitte, nicht mehr zu klopfen. Am nächsten Tage brachte man mir Tee[[Variante1]] und einen Strohsack. Da Popow das nicht bekam, goß ich den Tee[[Variante1]] dem Inspektor vor die Füße und verzichtete auf den Strohsack. Aber ich brach ein Stück Brot mitten durch und sagte, auf den Schimmel zeigend: »Sie[[1]] nähren uns mit Brot und Wasser, sehen Sie[[1]] sich erst einmal das Brot an, mit dem Sie[[1]] uns ernähren.« Der Inspektor wurde rot. »Tauscht das um,« befahl er den Gendarmen, und nach fünf Minuten brachte man mir ein Stück weiches, frisches Brot. Drei Nächte noch lag ich auf dem Boden in erniedrigendem Schmutz, in furchtbarer Kälte, mit den Schuhen als Kopfkissen unterm Kopf. Ich lag und sann. Sann darüber nach, wie ich mich in Zukunft verhalten sollte. Es war klar: zahllose Zusammenstöße aus verschiedenen Gründen standen mir noch bevor. Vor[[Präposition]] mir erhob sich die Frage: in welchen Fällen muß man, unter welchen Bedingungen kann man und wann lohnt es sich, mit der Administration einen Konflikt herbeizuführen. Mit welchen Mitteln gegen sie kämpfen!? Wie protestieren? Ist es immer notwendig, den Kameraden zu verteidigen? Der erste Impuls sagt »immer«. Hat aber der Kamerad tatsächlich immer recht? Ich hatte meine[[Besitz]] Erfahrungen gemacht; sie waren schwer. Ich durchdachte noch einmal die Erlebnisse der letzten Tage; ich prüfte Popows und mein Benehmen und fragte mich: will ich, habe ich die Kraft, mit denselben Mitteln zu kämpfen, zu denen Popow greift? Er hat eiserne Nerven, eine große Selbstbeherrschung, eine ungeheure Widerstandskraft, die gestählt wurde in der Schule der Kara-Bergwerke und dem Alexej-Vorwerk; ein kaltblütiger, stahlharter, beharrlicher Kämpfer. Schimpft man ihn aus, so erwidert er mit gleicher Münze. Die Roheit der Gendarmen, die lärmenden Zusammenstöße mit ihnen können ihm nichts anhaben. Man fesselte ihn, man schlug ihn, schlug ihn mehr als einmal. Man schlug ihn grausam, und er ertrug es, ohne sich zu rächen, und konnte weiterleben. Und ich? … ich könnte das nicht. Mir wurde klar, daß unsere Wege sich hier trennten. Für einen Kampf, wie er ihn führte, reichten meine[[Besitz]] physischen Kräfte, meine[[Besitz]] Nerven nicht aus, und vom moralischen Standpunkt aus wollte ich keine Proteste, die ich nicht zu Ende führen konnte. Jetzt mußte ich meine[[Besitz]] Richtlinie wählen, nach der ich handeln wollte, mußte die inneren und äußeren Bedingungen erwägen und entscheiden, wie ich mich weiter verhalten sollte, um dann nicht mehr zu zaudern. Die kleinen täglichen Reibereien, die groben Szenen, die gewöhnlich mit Erniedrigung endeten, entsprachen weder meiner Natur noch meinem Charakter. Und so beschloß ich, auf diese Kampfmittel zu verzichten. Ich hatte das Maß meiner Kräfte erkannt und wußte nun, was ich konnte und was ich wollte. Ich beschloß, das Mögliche zu ertragen, wenn sich aber ein Fall bieten sollte, wo es sich lohnte zu sterben, dann wollte ich protestieren und protestieren bis zum Tode. Ich befand mich den fünften Tag im Karzer, als mir der Inspektor sagte: »Nr 5 hat den Strohsack und alles übrige bekommen.« Ich fühlte mich erschöpft und geschlagen, wie nach einer schweren Krankheit, als ich mich endlich auf das Lager legte. Es war auch schon die höchste Zeit. In den Ohren sauste es ununterbrochen, mein Kopf war benommen, und ich lag in einem lethargischen Halbschlaf. In der Dämmerstunde hörte ich plötzlich Gesang. Es war eine angenehme, nicht allzustarke Baritonstimme, die mich an irgendetwas Bekanntes erinnerte: an eine Person? an irgendeinen Sachverhalt? Es war ein eintöniges Volkslied. Wer sang da? Wer konnte hier singen? Vielleicht war es ein Handwerker, der wegen Reparaturen hineingelassen worden war. Aber das ist unmöglich. Und woher kommen diese Töne? Es ist, als ob sie von außen kämen? Vielleicht wird das Dach repariert? Es war mir ein Rätsel, wer da sang. Noch lange quälte mich diese Frage, als ich den Karzer schon verlassen hatte. Der Sänger war schon tot, war freiwillig aus dem Leben geschieden, als mich plötzlich der Gedanke durchzuckte: Gratschewski. Es war seine Stimme gewesen. Später erfuhr ich, daß er tatsächlich zu jener Zeit, als ich im Karzer war, im alten Gefängnis gewesen ist. Noch zwei Tage gingen hin. »Zum Spaziergang« sagte der Inspektor und öffnete die Tür. Das bedeutete das Ende der Strafe. »Ich gehe nicht, wenn Sie[[1]] nur mich von hier fortführen,« sagte ich und setzte mit verhaltener Angst hinzu: »Sie[[1]] werden mich doch nicht gewaltsam hinausschleppen?« Der Inspektor maß die kleine, zerbrechliche, in einem Winkel lehnende Gestalt vom Kopf bis zu den Füßen, zuckte dann mit den Achseln und sagte geringschätzig: »Was soll denn da zu schleppen sein? Nr 5 ist schon hinausgegangen,« setzte er hinzu. So ging also auch ich. Nach dem Spaziergang feuchtete ich die Schiefertafel mit Wasser an und betrachtete mich darin wie in einem Spiegel: mein Gesicht, um zehn Jahre gealtert in diesen sieben Tagen, blickte mir entgegen; unzählige Fältchen bedeckten es. Diese Fältchen vergingen zwar wieder, aber die Erlebnisse dieser Tage blieben tief in meine[[Besitz]] Seele geprägt. &&x &&am &&g1="Papier" &&fa Papier &&fe &&ax Fünf Jahre waren seit meiner Verhaftung vergangen, und die drei ersten, schwersten Jahre in Schlüsselburg lagen hinter mir, als wir zum erstenmal Papier bekamen. Das war ein frohes Ereignis. Doch bald verdrängten die feiertägliche Stimmung Zweifel: Was sollten wir auf dem Papier schreiben? Als uns der Inspektor das Heft mit numerierten Seiten gab, sagte er: »Sobald das vollgeschrieben ist, muß es abgeliefert werden; dann wird ein neues gegeben.« Das bedeutete, daß das Geschriebene erst die Gefängnisverwaltung lesen wird und dann das Polizeidepartement. Und anstatt Feiertags- setzte Alltagsstimmung ein. In unserer dürftigen Bibliothek hatten wir gar keine Belletristik, weder Prosa noch Poesie. Ich erinnere mich noch, daß ich als erstes in mein Heft ein Bruchstück aus Nekrassows Poem »Wem geht es in Rußland gut?« eintrug. Dann folgten andere Gedichte, die im Gedächtnis haften blieben. Doch bald darauf eröffnete sich eine Fülle neuen Materials. Lopatin {{[Lopatin]}} übermittelte mir vermittels Klopfen ein Gedicht, das seinen grenzenlosen Groll gegen sein Schicksal ausdrückte. Das Gedicht begann und schloß mit Verwünschungen. Meine[[Besitz]] Stimmung und die Stimmung der Mehrzahl der Kameraden war diesem furchtbaren Pessimismus so fern, daß wir aufs tiefste betroffen waren. In der Freiheit hatte ich nie Gedichte geschrieben, hier kam mir der Gedanke, auf Lopatins Verse in Versen zu antworten. Meine[[Besitz]] Antwort wurde von allen Kameraden beifällig aufgenommen, und Lopatin antwortete mir, daß er bis zu Tränen gerührt sei. Nach einem solchen Erfolg erwachte in mir das Verlangen, die Gefühle, die man beständig unterdrücken mußte, in Versen auszudrücken. Ich schrieb die Gedichte »An die Mutter«, »An die Schwester«, »Das alte Haus« usw.. Die Kameraden folgten meinem Beispiel, und in unserem Leben setzte eine Aera poetischer Schöpfungen ein: es regnete Gedichte von allen Seiten. Es erwies sich, daß unter uns sechzehn Dichter waren. Jeder griff nach der Lyra; Schlüsselburg war zum Parnaß geworden; die Mauern ächzten derartig unter dem Klopfen, daß Morosow, der in einer der unteren Zellen saß, glaubte, spiritistische Geister hätten sich des Gefängnisses bemächtigt. Selbst die Nüchternsten unter uns wurden von diesem Rausch mitgerissen: selbst solche Realisten wie Popow und Frolenko schrieben je ein Gedicht. Nur Lukaschewitsch {{[Lukaschewitsch]}}, Janowitsch {{[Janowitsch]}}, Aschenbrenner und noch einige andere hielten sich zurück. Das Grundthema bildeten Erinnerungen; sie entsprachen am meisten der lyrischen Stimmung, die für die ersten Jahre der Gefangenschaft typisch ist. Über den künstlerischen Wert der Gedichte will ich nicht sprechen; zweifellos erleichterte das Dichten unser damaliges Leben, indem es den angehäuften Gefühlen einen Ausweg gab; andererseits brachte der gegenseitige Gedankenaustausch etwas Abwechslung in unsere Einsamkeit, und auch das gab eine gewisse Befriedigung, ja bereitete oft auch große Freude, wie z. B., wenn man am Geburts- oder Namenstag ein rührendes Gedicht zugeklopft bekam. Die Möglichkeit, zu schreiben, gab nicht nur Gelegenheit, unsere Gefühle auszudrücken und dadurch unsere Schwermut zu lindern, sondern sie erwies uns noch einen Dienst anderer Art. Im Laufe der drei ersten Jahre wurden wir jeden Sonnabend einer Leibesvisitation unterzogen. Obgleich wir nichts zu verstecken hatten, wurden wir trotzdem drei Jahre lang allwöchentlich dieser Erniedrigung unterworfen. Die Männer wurden auf eine gemeine Weise von den Gendarmen revidiert; mich führte man in eine leere Kammer, wo eine speziell dazu hergerufene Frau mich erwartete. Ich mußte mich vollkommen entkleiden, und sie reichte dem Gendarmen durch die halbgeöffnete Tür meine[[Besitz]] Kleidungsstücke hinaus. Dann betastete sie meinen[[Besitz]] ganzen Körper. Später kam anstatt ihrer eine Finnin, ein blondes, ungeschlachtes Weib. Mit ihren ekelhaften Fingern betastete sie mich; dann nahm sie meine[[Besitz]] Haare und warf meinen[[Besitz]] Kopf von einer Hand in die andere, als ob er ein großer Ball wäre. Ich verließ das Zimmer jedesmal in Tränen. Damals führte Martynow ein Tagebuch, das er, sobald es vollgeschrieben war, dem Inspektor übergab. Der sandte es in das Polizeidepartement. In diesem Tagebuch hatte Martynow auch die Revisionen beschrieben. Ob aus diesem Grunde oder aus einem anderen – die Leibesvisitationen hörten plötzlich auf. &&x &&am &&g1="M._F._Gratschewski" &&fa M F Gratschewski &&fe &&ax Im Herbst 1887 starb mein Kamerad aus dem Vollzugskomitee M F Gratschewski eines furchtbaren Todes. Sein Leben war ein ganzes Epos. Vor[[Präposition]] 20 Jahren hatte er als achtzehnjähriger Jüngling das Seminar verlassen und war Volksschullehrer geworden, »von dem brennenden Wunsche beseelt, den Bauern nützlich zu sein«. Nach vierjähriger Tätigkeit als Lehrer wurde er Eisenbahnschlosser und betrieb unter seinen Arbeitskollegen Kultur- und Aufklärungsarbeit; dann siedelte er nach Petersburg über, wo er dem Zirkel der Tschaikowzy beitrat. Auf ihre Aufforderung hin ging er nach Moskau, um unter den Arbeitern sozialistische Propaganda zu betreiben. Doch kurze Zeit nach seiner Ankunft wurde er verraten, verhaftet und mußte 30 Jahre bis zur Gerichtsverhandlung im Gefängnis zubringen. Im Jahre 1878 fand diese Gerichtsverhandlung endlich statt, und er wurde unter Anrechnung der Untersuchungshaft zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt. Doch damit war die Sache nicht erledigt. Im August desselben Jahres wurde Gratschewski ohne irgendwelchen Grund in Odessa abermals verhaftet und auf Anordnung der III. Abteilung auf administrativem Wege nach dem Gouvernement Archangelsk verbannt. Energisch und tatkräftig wie er war, wollte er nicht in der Verbannung sein Leben fristen und flüchtete; doch verirrte er sich unterwegs in den nordischen Sümpfen, wurde ergriffen und unter Begleitung von Gendarmen wieder nach Archangelsk zurückgeschickt. Unterwegs sprang er jedoch vom Wagen und verbarg sich im Dickicht des Waldes, von wo aus er unter allerlei Abenteuern endlich auf verbannte Kameraden stieß; sie verbargen ihn einige Zeit, dann reiste er nach Petersburg. Um diese Zeit hatte sich die Partei »Volks-Wille« schon gebildet. Gratschewski, der viele Erfahrungen hatte und politisch vollkommen reif war, schloß sich ihr an. Nachdem im Jahre 1880 unsere erste Druckerei in die Hände der Polizei geraten war, bekam Gratschewski den Auftrag, eine andere zu organisieren. Als Mitglied des Vollzugskomitees entfaltete Gratschewski besonders nach dem 1. März 1881 seine ganze Energie. 1882, als schon viele Mitglieder aus der Partei herausgerissen worden waren, organisierte Gratschewski in Petersburg ein Laboratorium zur Herstellung von Bomben. Er war Leiter und Arbeiter in einer Person. Damals hatte er einen falschen Paß, und während er sich in völliger Sicherheit glaubte, hatte die Polizei ihn schon aufgespürt und war ihm und allen jenen, mit denen er in irgendwelchen Beziehungen stand, auf den Fersen. Im Juli erfolgte dann die gleichzeitige Verhaftung Gratschewskis und aller, die an der Arbeit im Laboratorium beteiligt waren. Gratschewski betrachtete sich als den Urheber des Unterganges seiner Kameraden, und dieses Bewußtsein wurde für ihn zur Quelle der größten Qual. Unter der strengen Außenseite des fanatischen Revolutionärs und Terroristen verbarg sich ein glühendes Herz. Jetzt, wo die Parteiarbeit für ihn zu Ende war, brach die Liebe zu den Kameraden, durch nichts mehr gehemmt, hervor, und er litt die grausamsten Qualen beim Anblick dieser jungen Menschen, die dem Untergang geweiht waren. Diese Empfindungen bestimmten auch seine Haltung vor Gericht: furchtlos nahm er alles auf sich, was zum Galgen führen mußte, gleichzeitig aber tat er alles, um die anderen Teilnehmer des Prozesses zu entlasten. Im Jahre 1883 sagte er in seinem Schlußwort vor Gericht: »Ich bitte um eines: die moralische Qual, die ich seit zehn Monaten durchlebe und vor der der grausamste physische Schmerz verblaßt, wenigstens teilweise von mir zu nehmen. Niemand außer mir ist an der Errichtung des Laboratoriums beteiligt; ich allein bin der tatsächliche und einzige Schuldige, und ich bitte deshalb, die ganze Schwere der Strafe des Gesetzes gegen mich zu richten.« Gratschewski nahm die schwere Last seiner moralischen Skrupel mit sich in sein lebendiges Grab. Das Leben im Alexej-Vorwerk war für Gratschewski ein langsames Sterben. Die Festung war eine Totenkammer. Proteste gab es dort keine. Niemand hörte mehr auf Gratschewskis Stimme. Dafür waren die drei Jahre seines Aufenthaltes in Schlüsselburg mit erbittertem Kampf gegen den Inspektor Sokolow {{[Sokolow]}} ausgefüllt. Vielleicht, wenn er weniger wund von den ausgestandenen Leiden gewesen wäre, hätte er sich über manches hinweggesetzt oder manches ertragen. Aber Gratschewski war bis ins Innerste erschüttert, körperlich wie moralisch, und sein Nervensystem war bis zur äußersten Grenze angespannt. Abgesehen von den moralischen und materiellen Qualen, in welchen der Verurteilte in der Schlüsselburg und im Alexej-Vorwerk lebte, kam noch als schlimmste Folter die Stille hinzu. Ja! Die Stille, die dort herrscht … Das Gefängnisreglement schreibt diese Stille vor. Sie[[1]] ist der vollkommenste Ausdruck der Gefängnisdisziplin. Das Gefängnis soll tot sein, tot wie das Grab, Tag und Nacht tot. Der einzige unvermeidliche Lärm ist das Auf- und Zuschließen der schweren, eisenbeschlagenen Türen und der Schiebefenster zur Übergabe der Nahrung. Dumpf ertönt das Knarren des Riegels, der daran erinnert, daß der Gefangene nicht allein in diesem Gebäude ist … Sonst kein Laut. In der Freiheit ist die Stille nervösen Menschen eine Wohltat, sie ist ein bewährtes Heilmittel für erregte Nerven. Aber die ewige Stille, diese endlose, tote Stille ist furchtbar. Es gibt kein sichereres Mittel, die Nerven endgültig zu ruinieren. Die andauernde Ruhe verwöhnt das Gehör; im Laufe der Zeit wird es immer feiner, immer empfindlicher, so daß es zuletzt das leiseste Geräusch nicht mehr verträgt. Manche fangen an, an krankhaften Erscheinungen zu leiden, und bei jedem Geräusch entringt sich der Brust reflexartig ein Schrei; wie sonderbar es auch ist: je unbedeutender der Laut, desto stärker ist die Reaktion. Das leiseste Geräusch löst Schluchzen aus, und wenn die Töne sich periodisch wiederholen, so wird die Qual unerträglich. In der Nacht verursachen diese leisen Geräusche Schlaflosigkeit und erregen dermaßen das Nervensystem, daß man völlig außer sich gerät und bereit ist, zu schreien, zu schlagen, nur um der physischen Qual ein Ende zu bereiten. Dazu kommt noch, daß die Gendarmen vorsätzlich alles tun, um die Gefangenen zu peinigen. Wehe dem, der sich anmerken läßt, daß ihn dieser oder jener Laut besonders quält! Noch schlimmer ist es, Ungeduld, Zorn zu zeigen. Und der sichere Untergang erwartet jenen, der in dieser Hinsicht einen systematischen Kampf beginnt. Je energischer und beharrlicher der Gefangene ist, desto schwerer wird es ihm, diesen Kampf abzubrechen. Er wird ihn fortführen; er wird erklären, protestieren, schimpfen, schreien. Und alles das wird ihm nicht einmal, nein, hundertmal heimgezahlt. Eine Provokation folgt der anderen. Endlich sind die Beziehungen so zugespitzt, so viel Bitterkeit, Zorn und Empörung hat sich angesammelt, daß dem Gefangenen nur noch eines übrig bleibt: seinen Feind tätlich zu beleidigen und dann zu sterben. Die ganze Stufenleiter eines solchen Kampfes durchschritt Gratschewski. Beständig und bei jedem Anlaß protestierte er. Täglich hatte er mit den Gendarmen und dem Inspektor Sokolow Zusammenstöße. &&x Gratschewski bewohnte eine Zelle in der unteren Etage; unter ihm war der Keller, wo Holz und Kohlen aufgestapelt waren: von dort aus wurde das ganze Gebäude beheizt. Tag und Nacht war dort Bewegung, man heizte, warf Holz hin und her. Dieser Lärm wurde zum Ausgangspunkt unzähliger Beschwerden. Außerdem litt er an Schlaflosigkeit und nahm Chloral; morgens blieb er dann lange liegen. Aber unbeweglich unter der Decke zu liegen war nicht erlaubt, das beunruhigte die Gendarmen … Denn vielleicht lebt er nicht mehr? Oder er ist gar geflüchtet? Sie[[1]] schleichen sich alle Augenblicke leise an die Tür, schieben den Riegel vor dem Schiebefenster zurück, schauen einen Moment hinein, um dann nochmals laut mit dem Riegel zu knarren … Sie[[1]] wußten ganz genau, daß das feine Gehör des Gefangenen darauf reagieren würde. Und tatsächlich, dieses Knarren war für alle eine Qual und brachte manche nervöse Menschen direkt zur Raserei. So war es auch mit Gratschewski. Doch nicht genug damit. Für jede Beschwerde beim Kommandanten rächte sich Sokolow tausendfach. So waren im März 1886 zwei Sterbende im Gefängnis: Nemolowski und Hellis {{[Hellis]}}. Ihr Stöhnen hörte man deutlich. Kaum hatten die Gendarmen bemerkt, daß das Leiden der Sterbenden die allgemeine Aufmerksamkeit wachrief, als sie auch schon beschlossen, sie in das alte Gefängnis zu überführen. Aber das alte Gefängnis war für uns alle ein Ort des Entsetzens und des Abscheus. Seine ganze Einrichtung war zweifellos düsterer, strenger und verdächtiger als die des neuen. Hier waren wir wenigstens, wenn auch getrennt, so doch zusammen. Allein sterben, nicht in demselben Gebäude, wo wir alle waren … dort sterben, dort im alten Gefängnis, schien uns noch schrecklicher als hier, neben uns. Die krankhaft erregte Phantasie zeichnete Bilder des zynischsten Verhaltens zu den Sterbenden. Wie verlassen und vereinsamt wir auch waren, so war man dort noch einsamer und verlassener. Uns unsere Kranken nehmen, hieß, sie lebend auf den Kirchhof tragen. Und trotzdem führte man Nemolowski hinunter und Hellis trug man fort … Sie[[1]] legten ihn auf ein Laken und trugen ihn unter Stöhnen und allgemeinem Schreien fort … Gratschewski protestierte. Er ließ den Kommandanten rufen und klagte den Inspektor an. Dieser rechtfertigte sich damit, daß die Kranken das ganze Gefängnis störten. Der Protest wirkte trotzdem, Hellis wurde wenigstens zurückgebracht, Nemolowski dagegen starb anfangs April im alten Gefängnis. Sokolow rächte sich an Gratschewski auf die kleinlichste Weise. Er merkte sich z. B., welche Geräusche Gratschewski am meisten erregten und wiederholte sie dann so lange, bis es ihm gelungen war, Gratschewski den letzten Rest von Selbstbeherrschung zu rauben. So kam es, daß Gratschewski einen ununterbrochenen Krieg mit dem Inspektor führte, dessen Willkür und Roheit er vollkommen ausgeliefert war. Bald verzichtete er auf den Spaziergang, bald wieder hungerte er. So hat er 1886 im Oktober 18 Tage gehungert (nach einem anderen Bericht sollen es sogar 28 Tage gewesen sein), und um es vor den anderen Gefangenen zu verbergen, überführte ihn Sokolow auf eine hinterlistige Weise in das alte Gefängnis. Dort hat Gratschewski einen ausführlichen Bericht an den Minister des Inneren, den Grafen Tolstoi, verfaßt. Er beschrieb eingehend, was die Gefangenen in Schlüsselburg und im Alexej-Vorwerk zu ertragen haben. Er glaubte fest, daß diese Enthüllungen dazu beitragen würden, das Gefängnis-Regime zu brechen und den Gefangenen Erleichterungen zu sichern. Es erübrigt sich, zu sagen, daß das eine Täuschung war. Es ist sogar ungewiß, ob das Dokument überhaupt seinen Bestimmungsort erreicht hat. Das unmittelbare Resultat war jedenfalls das, daß man ihm sofort Papier, Schreibzeug, Bücher und sogar Arzneien entzog. So ging die Zeit hin, und Gratschewski faßte den Plan, falls das Dokument keine Resultate zeitigen sollte, Reformen auf andere Weise zu erzwingen. Im Mai 1887 wurden mehrere Kameraden in den Karzer gebracht. Gratschewski teilte darauf seinem Nachbar durch Klopfen mit: »Ich ertrage es nicht länger, ich werde wahnsinnig … morgen werde ich den Arzt ohrfeigen.« Kein Bitten und Abraten half. Am nächsten Morgen führte er sein Vorhaben aus und schlug den Doktor Sarkewitsch ins Gesicht, einem Feigling, der den Inspektor selbst bei den furchtbarsten Gefangenenmißhandlungen deckte. Gratschewski teilte das Geschehene sofort seinem Nachbar mit und setzte hinzu, daß er auf diese Weise ein Gericht erzwingen werde, vor dem er die Lage im Gefängnis schildern wollte. Sollte man ihn aber nicht hinrichten, sondern langsam zu Tode martern, dann werde er sich mit Petroleum begießen und lebendig verbrennen. Am selben Tage überführte man ihn in das alte Gefängnis, das er nicht mehr lebendig verlassen sollte … Monate gingen hin, Gratschewski wurde nicht vor Gericht gestellt. Nun verzweifelte er an allem, was er bisher unternommen hatte. Er griff zum letzten Mittel und führte den schon vorher gefaßten Entschluß aus. Er begoß sich mit Petroleum und verbrannte sich bei lebendigem Leibe. Das düstere Drama, würdig des Mittelalters, hatte sich vollzogen. Es vollzog sich im 19. Jahrhundert, nur 50 Kilometer entfernt von der Residenz eines Kulturstaates … Dort, abgeschnitten von der ganzen Welt, konnte kein Gefangener seine Stimme zum Protest erheben. Dort war Minakow zugrunde gegangen: man schoß ihn nieder. Er hatte protestiert, um ein Gericht zu erzwingen. Hatte geglaubt, an das Gericht appellierend an die Heimat zu appellieren, gehofft, so gehört zu werden … Ebenso war es Myschkin ergangen. Auch er wurde erschossen. Auch er hatte protestiert, um vor Gericht zu kommen und dort von allen Grausamkeiten, denen die Gefangenen ausgeliefert wurden, öffentlich Zeugnis abzulegen. So ging Gratschewski zugrunde … er verbrannte. Er protestierte, er verlangte ein Gericht … er wollte um jeden Preis gehört werden. Aber vergeblich … Eine unheilverkündende, lebendige Fackel flammte er in den Mauern des Grabgewölbes, in diesem alten, historischen Gefängnis Schlüsselburg auf. Dort wurde er getrennt von uns gehalten: ein großes Zimmer, wie ein alter Sitzungssaal für Inquisitoren. Eine Reihe dunkler, festverschlossener Türen, tot, unbeweglich, als wären sie dazu verurteilt, nie geöffnet zu werden. Dunkelheit und Feuchtigkeit. Die düsteren Gestalten der Gendarmen heben sich sonderbar in dieser Leere ab. Sie[[1]] gleichen den Henkern oder den gedungenen Meuchelmördern im Tower … Stille, Todesstille … Plötzlich entsteht Verwirrung, Unruhe. Alles kommt in Bewegung, in Aufregung. Schon reißen sie fieberhaft die Klingel der Alarmglocke. Die Tür bleibt unbeweglich, verschlossen … Seine Tür ist fest … der Schlüssel ist nicht da. Hinter der Tür steht in ihrer ganzen Größe eine hohe, hagere Gestalt mit dem matten Gesicht eines lebendigen Leichnams. Hochaufgerichtet steht sie und wird immer dunkler inmitten von Rauchwolken und Flammen. Das Feuer mit seinen rotglühenden Zungen hüllt sie von allen Seiten, von oben bis unten ein. Sie[[1]] brennt und raucht, die Fackel; diese Fackel ist ein lebendiges Wesen, ein Mensch …! Schweren, hastigen Schrittes kommt endlich Sokolow. In der breiten Faust hält er krampfhaft den Schlüsselbund. Das Zucken seines Gesichts verrät Erregung. Mit geübter Hand schließt er auf. Endlich, die Tür ist geöffnet. Die Kammer ist voll Rauch und Feuer. Und in der Mitte steht nach wie vor ein Mensch … eingehüllt in Rauch und Flammen … Petroleum und Brandgeruch … Das düstere Drama hat sich vollzogen. In den Rauch- und Feuerwolken ist ein menschliches Bewußtsein erloschen … Ein paar Seufzer … dumpf erstickte Seufzer … und der Mensch war tot … &&x Drei Tage später besuchte ein General die Festung, und gleich danach verschwand der Inspektor Sokolow. Er wurde wegen Fahrlässigkeit entlassen. Das Opfer ist vollbracht, und im Gefängnisleben tritt ein Umschwung ein … Regungslos liegen die Toten, die Lebendigen beginnen leichter zu atmen. Schlüsselburg blieb, nur Sokolow war nicht mehr da. Nach Sokolows Entlassung im November 1887 wurde ein halbes Jahr lang kein Inspektor ernannt. In dieser Zwischenzeit versah die Pflichten des Inspektors ein Gendarmerieoffizier aus der Wirtschaftsabteilung. Im April 1888 kam dann der neuernannte Inspektor Fedorow {{[Fedorow]}}. Er war ein großer Formalist und Denunziant. Unser Protest erreichte unter ihm sein Ende, und ich konnte wieder mit Ludmila Wolkenstein zusammentreffen. Alle Kameraden bekamen jetzt diese Vergünstigung; der gemeinsame Spaziergang wurde aus einer Vergünstigung zur Norm. &&x &&am &&g1="Der_Hungerstreik" &&fa Der Hungerstreik &&fe &&ax Wie jedes staatliche Institut unterlag auch unser Gefängnis periodischen Revisionen. Gewöhnlich fanden sie zweimal im Jahre statt. Diese Besuche beunruhigten und erregten uns stets. In der Eintönigkeit unseres Lebens war jede Störung quälend. Alles, was den alltäglichen Gang störte, riß uns aus unserem seelischen Gleichgewicht. Eine Zelle nach der anderen wird geöffnet, zahlreiche Schritte und Stimmengewirr werden im Korridor laut. Gleich geht auch meine[[Besitz]] Tür auf. Eine ganze feindliche Menge tritt in die Kammer. Dann beginnen die Fragen, die die wundesten Stellen in unserer Seele ungeschickt berühren. Hastig, verwirrt beantworten wir die offiziellen Fragen: »Ja« … »Nein« … Die in zwei Reihen aufgestellten Gendarmen verschlingen uns mit den Augen, jederzeit bereit, mit ihrem Körper den hohen Besuch wie vor einem wilden Tier zu schützen. Der aufgeschreckte, aus seinem Gleichgewicht gerissene Gefangene, mit dem aufs neue verschärften Gefühl, daß er eingemauert ist, beginnt erregt in der Kammer hin- und herzulaufen und bemüht sich lange vergeblich, die Erregung zu meistern. Ach, diese Besuche, Revisionen! Dieses brutale Eindringen! Jedesmal ist die Gefängnisverwaltung vorher von dem Besuch unterrichtet und bereitet sich entsprechend darauf vor. So war es im Herbst 1889. Der Inspektor Fedorow, rechtzeitig unterrichtet, schärfte bei der Inspektion der Zellen jedem von uns ein: »Laßt keine überflüssigen Bücher umherliegen, verbergt sie, oder gebt sie in die Bibliothek.« Er meinte die Bücher, die wir mitgebracht hatten; nach vielen Bemühungen hatten wir nämlich erreicht, daß sie in die allgemeine Bibliothek – vielleicht ohne Wissen des Polizeidepartements – aufgenommen worden waren. Der Rat war gut, und alle befolgten ihn. Alle mit einer Ausnahme. Der Direktor des Polizeidepartements, Durnowo {{[Durnowo]}}, passiert eine Zelle nach der anderen. Er betritt die Sergej Iwanows. Auf der herabgelassenen Pritsche liegt ein Buch; Durnowo greift danach. »Hm … hm,« knurrt er, »die Geschichte der Großen Französischen Revolution von {{Mignet}}.« Und im Hinausgehen drückt er dem Kommandanten und dem Inspektor seine Verwunderung darüber aus, daß derartige Bücher im Gefängnis zugelassen sind. Dann bestimmt er, den Katalog von neuem durchzusehen und alle Bücher zu entfernen, die in irgendeiner Beziehung zu den sozialen und politischen Anschauungen der Gefangenen stehen. 35 Bücher, die besten aus unserer kleinen Bibliothek, die allein in uns die Gedankenarbeit noch aufrecht erhielten, wurden uns genommen, gerade die, die wir mitgebracht hatten, die wertvollsten, die wir überhaupt besaßen: Motley {{[Motley]}}, »Geschichte der Revolution in Niederland«, Gervinus {{[Gervinus]}}, »Geschichte des 19. Jahrhunderts« (5 Bände), Spencer, »Soziologie« und »Studium der Soziologie«, Maudsley {{[Maudsley]}}, »Körper und Geist« (englisch), Lincolns Biographie, die »Geschichte des Bürgerkrieges in den Vereinigten Staaten« usw.. Man entzog uns unser einziges geistiges Eigentum, und wir sahen, bis aufs Innerste erschüttert, neuen Repressalien entgegen. Es war ein moralischer Verlust, der das ganze Gefängnis erschütterte. Kurz vorher hatten einige Kameraden, die sich besonders nach Aussprachen untereinander sehnten, die Entdeckung gemacht, daß die Wasserröhren in den Zellen nicht jede für sich isoliert, sondern nur an vier Stellen getrennt waren, und auf diese Weise jeder Teil des Gefängnisses sich mit dem anderen unterhalten konnte. So wurde die Nachricht von der Entziehung der Bücher im ganzen Gefängnis sofort bekannt. Beratungen setzten ein, was wir dagegen tun sollten. Alle waren sich darin einig, daß man die Sache nicht ohne Protest auf sich beruhen lassen könne. Wir hatten ohnehin wenig Bücher, neue anschaffen konnten wir nicht, und nun nahm man uns noch von dem Wenigen das Wertvollste. Unterwarfen wir uns schweigend, so mußten wir darauf gefaßt sein, neue Verluste zu erleiden. Die Mehrzahl, darunter Ludmila Wolkenstein und ihre Nachbarn, waren für den Verzicht auf den Spaziergang und verließen auch nicht mehr ihre Zellen. Die Minderheit, darunter auch ich, fanden diese Form des Protestes viel zu unbedeutend und drangen auf einen allgemeinen Hungerstreik. Als es klar wurde, daß ein einheitlicher Beschluß nicht erreicht werden könnte, beschloß unsere Minderheit, die aus fünf Personen bestand, den Hungerstreik, ohne die Meinung der Mehrheit zu berücksichtigen. Damit hatten wir einen ungeheuren Fehler begangen. Erst viele Jahre später begriff ich seine ganze Bedeutung. Ich begriff, daß unser Beschluß ungerecht und unzulässig gewesen war: einen derartigen Protest im Gefängnis darf man weder individuell noch als Gruppe unternehmen. Das kann nur mit Einwilligung aller Kameraden geschehen. Es ist unzulässig, weil der Hungerstreik die anderen gegen ihren Willen mitzieht. Keiner wird bei dem Gedanken, daß nebenan Kameraden, um irgend etwas kämpfend, hungern, passiv bleiben. Gleichgültig, ob er im Prinzip einverstanden ist oder nicht, das Gefühl der Kameradschaftlichkeit zwingt ihn, sich anzuschließen. Aber es ist klar, daß es unter solchen Umständen keine Standhaftigkeit im Protest geben kann. Man darf aber keinen Hungerstreik anfangen, wenn man nicht fest entschlossen ist, ihn zu Ende zu führen. Andererseits soll man nicht Menschen gegen ihren Willen in den Kampf mitreißen. Eine zeitweilige Unterstützung und ein teilweiser Rückzug bedeuten aber von vornherein eine Niederlage. Leider dachte ich damals gar nicht an all das und rechnete überhaupt so wenig mit der Stimmung der anderen, daß ich nur Zorn gegen sie empfand. Ich hielt ihren Widerstand für Schwäche und war entrüstet, weil nur der Selbsterhaltungstrieb in ihnen zum Ausdruck käme. Sie[[1]] wollen einfach ihr Leben nicht riskieren, dachte ich erbittert. Und es ist doch notwendig. Die Folgen waren traurig; insbesondere für mich. Kaum hatte der Streik eingesetzt, als sich tatsächlich alle ihm anschlossen, auch jene, die nicht mit ihm einverstanden gewesen waren. Es erwies sich später, daß sie sofort untereinander beschlossen hatten, sich solange als möglich zu widersetzen, wenn wir aber doch beginnen sollten, sich sofort anzuschließen. Unsere Gruppe: Jurkowski {{[Jurkowski]}}, Popow, Martynow, Starodworski {{[Starodworski]}} und ich, wir lagen alle auf unseren Pritschen und sprachen fast gar nicht miteinander. In Ludmilas Gruppe dagegen ging es lebhaft zu. Man sprach untereinander, fragte nach dem Befinden. Nach einigen Tagen hatte der eine Schwindelanfälle, der andere konnte nicht mehr stehen, Buzinski {{[Buzinski]}} erbrach Blut. Buzinskis Blutsturz erfolgte am neunten Tage des Streiks. Bald darauf schlug jemand vor, den Streik abzubrechen. Die Mehrzahl nahm den Vorschlag an. Popow teilte mir den Beschluß mit und setzte hinzu, daß er infolgedessen nicht mehr hungern werde. Martynow, ein gesunder, kräftiger Mensch, hielt es von Anfang an nicht aus und begann schon am dritten Tage zu essen. Ich, in meiner Strenge, brach jede Beziehung zu ihm ab. Starodworski, der gesagt hatte, daß er sich die Pulsadern öffnen werde, machte einen ungeschickten Versuch dazu. Die Gendarmen bemerkten es und überführten ihn in das alte Gefängnis. Dort, wie er später selbst erzählte, packte ihn der Wunsch, zu leben, und er stellte das Hungern ein. So hungerten nur noch Jurkowski und ich. &&x Jurkowski klopfte mir zu, daß er sich ganz meinem Entschluß anschließe. Ich erwiderte ihm, daß ich von jeher jede Sache zu Ende geführt habe, daß der Beschluß der Mehrheit für mich nicht bindend sei, und daß ich fortfahre, zu protestieren. Der Rückzug der Kameraden war für mich ein schwerer Schlag. Gewiß, das Gefühl der Einsamkeit, des Alleinseins tat weh, aber es kam noch etwas hinzu, das viel tiefer schmerzte. Vor[[Präposition]] fünf Jahren hatte ich dieses Gefängnis voll idealer Begriffe vom Revolutionär überhaupt und von revolutionärer Gemeinschaft insbesondere betreten. Die Gestalten Scheljabows, Frolenkos und anderer Mitglieder des Komitees schwebten mir als die Verkörperung des Revolutionärs, der nie schwankt, vor; über revolutionäre Gemeinschaft urteilte ich nach der Einheitlichkeit und Solidarität unseres Vollzugskomitees. Jetzt brachen diese meine[[Besitz]] Begriffe zusammen. Und doch hatten die Kameraden vom Sterben gesprochen, hatten ihre Bereitwilligkeit, den Protest bis zum Ende durchzuführen, kundgetan. Was war das? Waren sie aufrichtig gewesen, oder hatten sie geheuchelt? Betrogen sie sich selbst, oder wollten sie andere betrügen? Oder es waren tatsächlich nur leere Drohungen gewesen, und die Beteiligten wußten genau, daß niemand bei diesem Protest sein Leben aufs Spiel setzte? Wenn dem so war, dann hätten die Kameraden mich vorher unterrichten sollen. Waren aber die Absichten ernst gewesen, so war ein Rückzug Schwäche, Mangel an Mut. Und ich war so tief von der Stärke meiner Kameraden überzeugt gewesen, sie waren die stärksten Menschen, die Rußland überhaupt besaß. Sonst hätten sie ja nicht so gehandelt, wie sie in der Freiheit gehandelt haben, damals, als sie noch nicht in diesem steinernen Grabe eingemauert waren. Ja gewiß, sie waren starke Menschen und mußten deshalb auch stark bleiben. Aber trotzdem, sie führten nicht zu Ende, was sie versprochen hatten. Das war eine brennende Enttäuschung, die mich tief ergriff. Besonders empörte mich, daß die Initiative zum Abbrechen des Streiks von jenen ausging, die von Anfang an dagegen gewesen waren. Ungerechte, dunkle Verdächtigungen erfüllten mich, und mir schien, daß ich alle Kameraden haßte. Sie[[1]] allein waren mir nur noch vom Leben geblieben, und diese Kameraden, die sich selbst untreu wurden, waren mir von nun an Fremde. Ich hatte an sie geglaubt, an ihren Mut, ihre Ausdauer, an ihren unbeugsamen Willen geglaubt, und statt dessen sah ich schwache, haltlose Menschen, die genau so unterlagen wie andere, gewöhnliche Menschen. Diese Gedanken zerrissen mich innerlich. Der Hungerstreik war schon weit vorgeschritten und mit ihm meine[[Besitz]] Entschlossenheit, ihn zu Ende zu führen. Nach all dem, was ich durchlebt hatte, war mir der Tod leichter als das Leben. Mein ganzes Ich ersehnte ihn. Ja, ich werde weiter hungern bis zum Tode. Ich werde das Begonnene zu Ende führen. Mögen sie zurückweichen, das ist ihre Sache; ich führe zu Ende, was ich beschlossen habe. Aber im Augenblick, wo ich nichts heißer wünschte, als dieses Leben zu verlassen, zu fliehen, fortzugehen aus diesem elenden, in den Alltag gezogenen Leben, versetzten mir zwei von diesen Kameraden einen neuen Schlag. Es gibt für einen willensstarken, klar denkenden Menschen, der sich zu einem festen Entschluß durchgerungen hat, nichts Kränkenderes, Verletzenderes, als eine Einmischung in diesen Beschluß, die seine Verwirklichung hindert. Diese Einmischung bedeutet einen Angriff auf das ihm gehörende Recht, seine Individualität zu offenbaren und seine sich nie mehr wiederholende Form des Lebens zu gestalten. Und Kameraden waren es, die meinen[[Besitz]] Entschluß angriffen, meinen[[Besitz]] Willen brachen. Jurkowski und ich hungerten schon zwei Tage, als Popow und Starodworski, ohne es untereinander verabredet zu haben, erklärten, daß sie, falls ich stürbe, sich das Leben nehmen würden. Das war eine moralische Vergewaltigung und versetzte mich in Raserei. Wie! Diese Männer, die mit mir gemeinsam den Streik beschlossen und die, ohne mich zu fragen, den Rückzug angetreten hatten, wagen es jetzt, von mir dasselbe zu fordern! Ihr männlicher Ehrgeiz kann es nicht zugeben, daß dort, wo sie nachgeben, eine Frau stärker und konsequenter sein könnte: sie schämen sich und wollen mich auf ihr eigenes Niveau bringen, sie wollen nicht sterben und zwingen mich zu leben! Es wäre vielleicht angebracht gewesen, über ihre Erklärung zu lächeln und ihr einfach keinen Glauben zu schenken. Aber es war etwas daran, das zum Glauben zwang, und ich glaubte. Was sollte ich anders tun? Durfte ich zwei Menschen in den Tod reißen, die soeben gezeigt hatten, daß sie am Leben hängen. Nein, ich konnte sie nicht gewaltsam ins Grab mitreißen … Ich wollte nicht, daß sie meinetwegen, statt um der gemeinsamen Sache willen stürben. Und ich brach den Hungerstreik ab, tat es aber in einem Zustand völliger Verzweiflung. In diesem Augenblick brach ich geistig mit dem ganzen Gefängnis und gab mir das Versprechen, nie mehr an einem kollektiven Protest teilzunehmen. Wenn es nötig sein sollte, so wollte ich es von nun an allein tun, nach eigenem Ermessen und eigenem Entschluß. Von nun an wollte ich meinen[[Besitz]] Weg allein gehen und allein meine[[Besitz]] Entschlüsse fassen. Ich teilte dies den Kameraden mit. Es erübrigt sich, zu sagen, daß unser Streik uns keine positiven Resultate brachte und daß wir unsere Bücher nicht wiederbekamen. Im Gegenteil, es folgten sogar einige Repressalien. An einem der Tage, als ich noch hungerte, besuchte der neuernannte Kommandant alle Zellen. Er verlas uns ein Papier, in welchem gesagt war, daß das Geld, das jeder von uns beim Eintritt in die Festung mitgebracht hatte, konfisziert sei. Vor[[Präposition]] dem Streik hatten wir die Erlaubnis, diese kleinen Summen zur Vergrößerung unserer Bibliothek zu verwenden. Zum Teil hatten wir das schon getan; so z. B. hatte Morosow die mehrbändige Geographie von Reclus {{[Reclus]}} gekauft. Jetzt wurde uns auch diese Möglichkeit geraubt. So endete diese Gefängnisgeschichte, die allen viel Kränkung und Aufregung verursacht und mich an den Rand des Untergangs gebracht hatte. Die moralische Katastrophe, die ich durchlebte, hatte mir jene innere Ruhe genommen, die ich während des Hungerns in Erwartung des Todes gewonnen hatte. Meine[[Besitz]] Seele war tief erschüttert, und viele Jahre mußten vergehen, ehe ich mich seelisch wieder aufrichtete. Die Erinnerung und die Spuren des Erlebten leben bis heute in mir. Während der neun Tage, an denen ich keine Nahrung zu mir nahm, verursachte mir der Hunger keine Leiden, ich empfand ihn gar nicht. Die körperlich Starken und weniger Nervösen litten schon am dritten und vierten Tage große Qualen. Der gesunde, kräftige Martynow hielt es nicht einmal drei Tage aus. Ich dagegen hatte die ganze Zeit kein Bedürfnis nach Nahrung: ich lag ruhig auf meiner Pritsche und las. Mein Kopf war ganz klar, und ich las mit Vergnügen Molière französisch. Nur eine allgemeine Schwäche machte sich fühlbar, und nach neun Tagen des Hungerns dunkelte es mir vor den Augen bei jeder Bewegung. Auf diese Weise verlangte mein Entschluß, den Streik fortzusetzen, keine besondere Überwindung oder Ausdauer von mir. Von dieser Seite gesehen, war meine[[Besitz]] Lage eine unvergleichlich günstigere als die meiner Kameraden. Doch wenn mein Organismus während des Streiks nicht litt, so waren doch die Folgen fühlbar. Abgesehen von der Stimmung war es mein Nervensystem, das vollkommen zusammenbrach. Alle Hemmungszentren hörten auf zu funktionieren. In vielen Richtungen war mein Wille vollkommen gebrochen. Die Gehörreflexe, die vorher schon sehr stark gewesen waren, nahmen eine unglaubliche Heftigkeit an. Bei jedem unerwarteten Laut entrang sich meiner Brust ein Schrei, dem unaufhaltsames Schluchzen folgte, das das ganze Gefängnis in Aufregung versetzte; und das Schlimmste war, daß ich kein Bedürfnis empfand, mich zu beherrschen. &&x &&am &&g1="Der_Mutter_Segen" &&fa Der Mutter Segen &&fe &&ax Unter den Sachen, die mir lieb sind, hänge ich ganz besonders an einem kleinen, billigen Heiligenbildchen. Nach meiner Verurteilung gab es mir meine[[Besitz]] Mutter, als sie mich beim Abschied segnete, und es ist mir das Liebste, was ich von ihr habe. Man ließ es mir. Es begleitete mich nach Schlüsselburg, und ich besitze es noch jetzt. Auf der einen Seite des Bildchens liegt eine Gestalt auf den Knien vor der Mutter Gottes, auf der anderen Seite befindet sich die Inschrift: Allerheiligste Mutter »Unverhoffte Freuden«. Als mich die Mutter zum letzten Male segnete, sprach sie: »Vielleicht wirst du einmal eine ›unverhoffte Freude‹ erleben.« Woran dachte sie, als sie gerade diese Worte zum Abschied sprach … An eine Veränderung des Schicksals, an die Freuden des Wiedersehens mit mir? Oder vielleicht wollte sie mir Kraft einflößen? Mir einprägen, daß, was auch geschehen möge, es doch kein Leben ganz ohne Freuden geben könne? Ein Jahr nach dem anderen verging, ohne daß es mir diese Freude gebracht hätte. Gab es denn überhaupt Freuden in Schlüsselburg? Ja, es gab welche. Wie hätten wir überhaupt leben und aushalten können, wenn sie nicht gewesen wären! In den ersten Jahren, die für den Neuling die schwersten sind, bestehen die Freuden ausschließlich in den Beziehungen zu den Kameraden. Ein leise geklopfter Gruß, ein Gedicht, eine Geburtstagsgratulation auf demselben Wege. Einige freundliche Zeilen, heimlich in ein Buch gelegt. Wie froh wurde man da! … Aber es war in diesen Freuden auch etwas Bitteres, das Tränen hervorrief: sie weckten Erinnerungen, die man lieber ruhen ließ … Dann gingen Jahre hin und brachten andere Freuden. Die erste derartige Freude war eine Zeitung. Ein hochgewachsener, stattlicher Offizier verwaltete eine Zeitlang die Werkstätten im alten Gefängnis, wo wir arbeiteten und durch Hammerschläge die Erinnerung an die Ahnenreihe Jener verjagen wollten, die hier in dieser Stille zugrunde gegangen waren. Eines Tages, als wir dort arbeiteten, kam der Offizier mit einer Zeitung in der Hand. Nachdem er sie durchgelesen, legte er sie entweder zufällig hin, oder vielleicht nicht ohne Absicht, so daß man sie im Vorübergehen unbemerkt mitnehmen konnte. Die Zeitung ging von Hand zu Hand und machte die Runde durch das ganze Gefängnis. Welch unsagbare Freude sie uns, den hoffnungslos Eingekerkerten brachte, ist schwer zu beschreiben. Die Zeitung brachte eine Chronik des inneren Lebens in Rußland – eine zensurierte, sterilisierte Chronik. Es schien, als hätte sich in den Jahren unserer Abwesenheit nichts verändert im weiten Raum unseres Heimatlandes. In derselben Zeitung fanden wir auch einen Artikel über Deutschland, und der eröffnete uns neue, ferne Horizonte. Er erzählte uns von der Absicht Kaiser Wilhelms, eine europäische Konferenz zur Besprechung der Arbeitergesetzgebung einzuberufen, von der Abschaffung des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialisten, er erzählte uns, daß die sozialdemokratische Bewegung sich über das ganze Land ausgebreitet hatte. Mit freudiger Erregung lasen wir Berichte über Versammlungen und Kongresse, über die Entwicklung der Arbeiter- und sozialistischen Presse, über das schnelle Anwachsen der Mitgliederzahl in der sozialdemokratischen Partei. Es war zwar Deutschland und nicht Rußland; aber die Interessen der Arbeiterklasse aller Länder waren uns gleich teuer und lieb. Wir frohlockten: die Mauern des Gefängnisses weiteten sich. Für einen Augenblick fiel ein Lichtstrahl in unser Gefängnis und brachte einen Hauch Freiheit zu uns. Die zweite Freude waren die Bücher. Die Gefängnisbibliothek war sehr dürftig. Nach 3 bis 4 Jahren hartnäckigen Kampfes wurden jene Bücher zum allgemeinen Gebrauch in die Bibliothek eingereiht, die jeder von uns mitgebracht hatte. Aber sie waren bald durchgelesen. Der neue Zufluß von Büchern aus dem Polizeidepartement war sehr, sehr spärlich, bis er zuletzt ganz aufhörte. Im Jahre 1894 drückte uns ganz besonders der Mangel an Büchern. Ich suchte einen Ausweg aus dieser Lage und wandte mich an den Kommandanten Hangart {{[Hangart]}} mit der Bitte, für uns in einigen Petersburger Bibliotheken Bücher und wissenschaftliche Lehrmittel zu abonnieren, die die Gendarmen holen und zurückbringen könnten. Diese Bitte schien fast hoffnungslos. Ihre Erfüllung hätte ja die Herstellung einer Verbindung zwischen unserem Gefängnis und freien Institutionen bedeutet. Trotzdem versprach der Kommandant, meine[[Besitz]] Bitte zu unterstützen. Nach einigen Tagen bekamen wir einen Katalog und bald darauf eine ganze Kiste selbstausgewählter Bücher. Ungeheuer war die Freude! &&x Das erste Buch, das mir in die Hände geriet, war ein Buch über England. Dieses Buch hätte auf mich unter normalen Bedingungen einen guten Eindruck gemacht. Auf uns von der Außenwelt Abgeschlossene, wirkte es wie eine Quelle. Es war ungefähr dasselbe, was für den Leser aus dem Volke, der noch nicht mit Büchern übersättigt ist, eine »verbotene« Broschüre bedeutet, die ihm eine neue Welt eröffnet. Nur in der Gefangenschaft, dieser vertrockneten Atmosphäre, kann man eine derartige Wonne empfinden, wie ich sie empfand, als ich von den englischen Trade-Unions, von dem glänzend verlaufenen Streik der Kohlenarbeiter, von dem außerordentlichen Aufschwung der englischen Genossenschaftsbewegung und von jener Intellektuellenbewegung las, die die Organisierung von Volksuniversitäten und Universitätssiedlungen anstrebte. In die Arbeiterviertel von London, Manchester, Liverpool trug die englische Intelligenz, ähnlich der russischen der siebziger Jahre, ihr Wissen und ihre Liebe; wie sehr erwärmte dieses Bewußtsein, wie sehr ermutigte es die erstarrte Seele. Man vergaß das Gefängnis, die eigene Tatenlosigkeit, seine eigene Person – man sprach vom pulsierenden Leben, von seinen neuen Ansätzen zum Wohl der Volksmassen. Die Zeitung, nur eine einzige Nummer, war blitzgleich gekommen und verschwunden. Die Bücher kamen, für einen Augenblick weiteten sich und erhellten sich die Mauern des Gefängnisses, dann verschwand auch dieses Licht. Das Polizeidepartement erließ das strikte Verbot, Bücher aus der öffentlichen Bibliothek an uns auszuleihen. Aber 1896 eröffnete sich uns eine neue Quelle der Freude, aus der wir Kraft und Mut schöpften. Morosow erfuhr vom Gefängnisarzt, daß in Petersburg ein Museum mit reichen Lehrmittelsammlungen aus den verschiedensten Gebieten der Naturwissenschaft bestand. Der Doktor brachte ihm sogar einige Schachteln mit Versteinerungen aus dem Museum mit. Lukaschewitsch, Morosow und {{Noworussky}} interessierten sich ganz besonders für Naturwissenschaften, und ich bemühte mich schon seit einigen Jahren, das nachzuholen, was ich während des Studiums der Medizin versäumt hatte. Der Gedanke, im Museum Sammlungen entleihen zu können, die beim naturwissenschaftlichen Studium so unentbehrlich sind, war so verlockend, daß wir beschlossen, uns um die Erlaubnis zu bemühen. Morosow wandte sich an Hangart, der für uns immer alles, was nur möglich war, tat. Aber Hangart sagte dieses Mal, es sei unbedingt notwendig, sich vorerst an das Polizeidepartement zu wenden; er allein dürfe das nicht gestatten. Nun entstand die Frage: wie die Bitte begründen? Wir dachten lange nach, bis schließlich Morosow ein Gesuch schrieb, daß er Mineralien brauche, da er an einem Werk über die Struktur der Materie arbeite. Wir lachten und waren überzeugt, daß eine solche Begründung dem Polizeidepartement nicht einleuchten und es die Bitte ganz sicher ablehnen werde. Aber das Polizeidepartement erteilte die Erlaubnis. Seitdem brachte uns der Gefängnisarzt alle zwei Wochen ganze Kisten mit allen möglichen Lehrmitteln. Wir konnten nach und nach nun die reichhaltigen Sammlungen aus dem Gebiete der Geologie, Paläontologie und Mineralogie und die physikalischen Instrumente benutzen; Pflanzensammlungen, histologische und zoologische Präparate, kurz alle Schätze, über die das Museum verfügte, wurden uns nun zugänglich. Allmählich erweiterten sich auch die Vergünstigungen, die wir genossen: der Doktor brachte uns nach und nach auch Bücher aus dem Museum mit, wissenschaftlichen und auch allgemeinen Charakters. Das Museum begann aus eigener Initiative, uns als Arbeitskräfte zu benutzen. Es schickte uns Rohmaterial aus dem Gebiete der Insektenkunde, Botanik und Mineralogie und beauftragte uns mit dessen Verarbeitung zu Kollektionen für Volks- und Mittelschulen. Wir selbst verfügten über ein reiches Material für Pflanzensammlungen; in unseren Gärten zogen wir mehrere hundert Sorten verschiedenster Pflanzen. Auch lieferte der Boden unserer Insel reichhaltiges und interessantes mineralogisches Material. Wir brauchten uns nur zu bücken, um Muster verschiedner Gesteinsarten aufzulesen. Die Arbeit im Gefängnis war nun in vollem Gange: von Tischlern, Drechslern, Buchbindern wurde gehobelt, gehämmert, poliert, wurden Kästen aus Holz angefertigt, ja sogar verschiedene Verbesserungen zur Ausstattung der Präparate erfunden. Diejenigen, die sich für Naturwissenschaften interessierten, stellten die Sammlungen fertig. Alles wurde in schönster Ausstattung nach dem Museum geschickt. So erstand vor uns ein Zweck im täglichen Leben, wir hatten eine Aufgabe zu erfüllen; die Arbeit für das Museum stellte die Verbindung her zwischen uns Toten und den Lebenden draußen in der Freiheit. Aber auch das wurde uns wieder genommen … Hangart verließ Schlüsselburg, ebenso der Arzt {{Besrodnow}}. Unruhen brachen im Gefängnis aus … Die Ordnung wurde verändert. Die Arbeit, die uns eine so große moralische Befriedigung gegeben hatte, wurde uns wieder entrissen. Wenn die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Mutter sich auch nicht erfüllt hatte, ihre Vorhersage war in Erfüllung gegangen: inmitten der Trauer und des Schmerzes waren uns doch Freuden erstanden, große, unverhoffte Freuden. &&x &&am &&g1="Der_Kommandant" &&fa Der Kommandant &&fe &&ax Ludmila Wolkenstein und ich waren die einzigen Frauen in der Festung. Wir zwei konnten uns nur einander sehen, während die Männer, die zu zweit spazieren gingen, sich bald das Recht eroberten, ihre Gefährten zu wechseln. Auf diese Weise konnten sie sich nacheinander alle kennenlernen. Das wollten sie auch uns ermöglichen und beschlossen, das Hindernis, das uns trennte, zu beseitigen. Sie[[1]] holten sich aus den Werkstätten Werkzeug und machten anfangs kleinere, dann immer größere Öffnungen in die Bretter und Zäune, die die verschiedenen Teile des Hofes, wo wir spazierengingen und der Gärten, wo wir arbeiteten, trennten. So konnten wir frei miteinander sprechen und uns auch sehen. Der Inspektor und die Gendarmen waren über diese Durchbrechung unserer Isolierung sehr aufgeregt, aber der Kommandant tat, als sehe und höre er nichts, obgleich er ausgezeichnet unsere Unterhaltungen durch das Fenster beobachten konnte. So verblieb uns diese wichtige Eroberung. Ich kann nicht sagen, daß ich diese Eroberung sofort sehr geschätzt hätte. Die Einzelhaft hatte derartig auf mich gewirkt, daß ich nach und nach das Bedürfnis nach Umgang mit Menschen verloren hatte. Ein – zwei Freunde genügten mir vollständig; im Gegensatz zu mir war Ludmila Wolkenstein ein sehr geselliger Mensch, und das Gefängnisleben hatte sie gar nicht verändert. Sie[[1]] liebte Geselligkeit sehr. Sie[[1]] konnte sich stundenlang mit den Kameraden unterhalten; ich dagegen empfand jedesmal ein unbezwingliches Bedürfnis, vor ihnen zu flüchten. Im Dezember 1891 brachte man Sofja Ginsburg {{[Ginsburg]}} nach Schlüsselburg und auf Befehl des Polizeidepartements wurde sie völlig isoliert von uns in einer Zelle des alten Gefängnisses untergebracht. Die Werkstätten wurden unter dem Vorwand notwendiger Reparaturen zeitweilig geschlossen. Sofja Ginsburg ertrug nur 38 Tage lang die furchtbaren Qualen einer solchen Einzelhaft. Besonders die Nachbarschaft des wahnsinnigen {{Stschedrin}} machte ihre Lage noch qualvoller. Am 7. Januar 1892 öffnete sie sich die Pulsadern mit der Schere, die sie zum Wäschenähen bekommen hatte. Von ihrem Aufenthalt im alten Gefängnis hatten wir nicht die leiseste Ahnung, und von ihrem Tod erfuhren wir erst viele Jahre später. Unter den Personen, die im Laufe der zwanzig Jahre einander als Kommandanten von Schlüsselburg ablösten, nimmt zweifelsohne der Kommandant Hangart eine ganz besondere Stelle ein. Außer jenen Errungenschaften, die zum Teil durch Minakow, Myschkin und Gratschewski mit Aufopferung ihres Lebens und später durch unsere eigenen, gemeinsamen Anstrengungen erobert worden waren, verdanken wir jene bedeutenden Verbesserungen unseres Lebens dem Kommandanten Hangart. Er war es, der immer die rächende Hand des Polizeidepartements und des Ministers des Innern von uns fernhielt. Er begriff, daß der Verlust der Freiheit, der Arbeit, der Verwandten und Freunde schon an sich eine genügend harte Strafe war, und daß es daher übertrieben grausam war, dem noch etwas hinzuzufügen. Es bestand kein Zweifel darüber, daß die reaktionären Elemente, die die innere Politik leiteten, sich den Narodowolzy gegenüber von Rachegefühlen leiten ließen. Oh, wie sie rachsüchtig waren, diese Durnowo und Plehwe, unter deren Augen der Kampf des »Volkswillens« gegen die Selbstherrschaft vor sich gegangen war, und sie vergaßen nie die Rolle jedes Einzelnen von uns in diesem Kampfe. Gleich nach seinem Amtsantritt mußte Hangart unsere selbstgemachten Fenster bemerken; aber anstatt sie zu vernichten und die Isolierung wiederherzustellen, erwies er uns einen großen Dienst. Er wollte uns nicht durch Repressalien und Gewaltmittel unsere Eroberungen nehmen und verstand es im Gegenteil, dem Polizeidepartement die Erlaubnis zu entreißen, den oberen Teil des Zaunes durch ein Holzgitter zu ersetzen. Er begründete es diplomatisch mit dem Mangel an Licht für die Gärten, die durch die hohen Festungsmauern und die Zäune völlig im Schatten lagen. Wir stellten die in der Tischlerei selbstverfertigten Bänke an den Zaun und konnten auf diese Weise durch das obere Holzgitter nicht nur einander sehen und miteinander sprechen, sondern sogar uns gemeinsam geistig beschäftigen. Es bedeutete eine regelrechte Revolution in unserem Leben. So lange Hangart Kommandant war, wagte kein Gendarm, uns auch nur mit den Fingern zu berühren, gemäß dem Befehl Hangarts, den er in unserer Gegenwart den Gendarmen erteilte. Unter Hangart war die Zahl der Werkstätten vergrößert worden, so daß jeder, der Lust hatte, täglich arbeiten konnte. Um diese Zeit stand auch Ludmila und mir eine Tischlerwerkstatt zur Verfügung. Unter Hangart wurden auch zwei vorzügliche Drehbänke angeschafft, und dann erwirkte er uns die Erlaubnis, bezahlte Aufträge anzunehmen. Auf diese Weise begannen unsere selbstgelernten Tischler, Drechsler und später auch Schlosser, etwas zu verdienen. Das Geld verwandten sie zum Teil zur Verbesserung unserer Nahrung und später, wieder dank Hangart, zum Ankauf von Büchern für unsere Bibliothek. Das war ein großes Glück für uns. Unter Hangart wurden auch zwei Buchbindereien organisiert, und wieder war er es, der uns unter dem Vorwand, sie binden zu lassen, mit vorzüglichen Büchern und Zeitschriften versah. Etwa zwei Jahre nach seinem Amtsantritt führte er bei uns die Selbstverwaltung durch »Älteste« ein: das ersparte uns die tägliche Berührung mit dem Inspektor oder den Gendarmen, die fast immer Reibereien mit sich brachte. Dank ihm benützten wir, wenn auch nur kurze Zeit, die städtischen Bibliotheken in Petersburg. Auf welche Weise gelang es ihm, so viel für uns zu tun? Ob das wohl vom neuen Kurs der Politik im zweiten Jahrzehnt unserer Gefangenschaft abhing? Oder hatte er so viele wichtige Verbindungen im Polizeidepartement, daß er selbständig handeln konnte, ohne sich an die höheren Behörden zu wenden? Es hieß, daß er den Posten nur unter der Bedingung angenommen habe, völlige Handlungsfreiheit uns gegenüber zu haben. Wie dem auch sei, er hat zur Erleichterung unseres Loses ungeheuer viel getan. Wir gedenken seiner voll Dankbarkeit als eines Menschen, der uns geholfen hat, diese Zeit zu überstehen und so viel Kraft zu bewahren, als unter den Bedingungen, die nicht von ihm abhingen, möglich war. &&x &&am &&g1="Pochitonow" &&fa Pochitonow &&fe &&ax Ich erwähnte schon, daß unter uns einige Geisteskranke waren. {{Stschedrin}}, Ignati Iwanow und Arontschik wurden nach Schlüsselburg in einem Zustand gebracht, in dem man unter normalen Verhältnissen in ein Irrenhaus kommt. {{Konaschewitsch}} erkrankte in einer Zeit, als unsere Verbindungen miteinander noch sehr beschränkt waren, und wir die Entwicklung seiner Krankheit nicht beobachten konnten. Aber Pochitonow? Pochitonow erkrankte vor unseren Augen, und wir waren Zeugen der ersten Anzeichen seiner psychischen Erkrankung bis zu seinem völligen geistigen Zusammenbruch. Als Mitglied der Militärorganisation des »Volkswillens« war er zum Tode verurteilt, aber auf Grund eines Gesuches an den Zaren begnadigt und nach Schlüsselburg gebracht worden. Pochitonow war ein gebildeter und geistig entwickelter Mensch, hatte aber weder besondere Energie noch Charakterstärke. Er war weich von Natur und bedurfte einer kameradschaftlichen Unterstützung. Er liebte das Leben und seine Freuden. Für den ziemlich verwöhnten Offizier war das Leben in Schlüsselburg vielleicht schwerer als für irgendeinen anderen; sein Leben war dort angefüllt von Leiden und endete mit einer Katastrophe. Es ist eine bekannte Tatsache, daß im Gefängnis der Gedanke, daß Kameraden neben dir dein Schicksal teilen, Kraft zum Aushalten gibt. Zweifellos übte dieses Bewußtsein in den ersten Jahren auch auf Pochitonow seinen Einfluß aus. Besonders rührte ihn das Los der Frauen, die unter ebenso harten Bedingungen lebten wie er. Auf einem Zettel schrieb er mir im Jahre 1888: »Ohne Ihr Beispiel wäre das Leben hier unmöglich …« Das Studium der fremden Sprachen, Lesen, körperliche Arbeit füllten Pochitonows Zeit in Schlüsselburg aus. Er liebte besonders das Tischlerhandwerk, wurde ein Meister der Drechslerei. Bis zum Jahre 1895 war sein Gesundheitszustand noch ziemlich befriedigend. Infolge seines lebhaften Temperamentes war er immer tätig und voller Initiative, und alle seine Arbeiten richteten sich darauf, Ludmila Wolkenstein eine Freude zu bereiten. Für sie zimmerte er allerlei Schränkchen und Stühle, Etageren, Schachtelchen und noch viele andere Kleinigkeiten. Zu Weihnachten war es ihm sogar einmal gelungen, uns einen Weihnachtsbaum zu beschaffen, einen echten, rechten Weihnachtsbaum mit bunten Lichtern. Aber trotz aller Arbeit und Zerstreuung, die das Gefängnis bot, zehrte die Sehnsucht ununterbrochen an ihm. So kam er einst freudestrahlend vom Spaziergang und erzählte uns mit leuchtenden Augen: »Soeben hat mich der Doktor untersucht und gesagt, daß es bei mir schon ›begonnen‹ habe! …« Er meinte damit die Tuberkulose. Ein anderes Mal entfuhren ihm Lukaschewitsch gegenüber die Worte, er werde sich das Leben nehmen« könne so nicht weiterleben. Pochitonow verlor den Verstand. Für ein unaufmerksames Auge geschah das fast plötzlich. Tatsächlich aber hätte ein Psychiater schon lange vorher die Anfänge seiner Erkrankung feststellen können. War er sonst weich und nachgiebig gewesen, so wurde er plötzlich jähzornig und trotzig. Manche Extravaganzen wurden damals falsch ausgelegt; erst später ist uns manches klar geworden, als der Verstand in ihm schon vollkommen erloschen war. Es war für uns unsagbar schwer, Zeuge dieser langsamen geistigen Zersetzung zu sein. Mitte September 1895 war es für alle klar, daß Pochitonow verloren sei. Um diese Zeit hörten seine regelmäßigen Beziehungen zu den Gefangenen auf. Er verließ seine Zelle nicht mehr, legte sich zu Bett und erklärte, er sei krank. Die Gendarmen machten keinen Unterschied zwischen ihm und den Gesunden; alle sollten gleich leiden. Die Werkstätten besuchte er überhaupt nicht mehr, es schien, als hätte er überhaupt ihre Existenz vergessen; es kann aber auch sein, daß die Gendarmen ihn nicht mehr hinführten. Die übrigen Gefangenen litten furchtbar unter den Krankheitserscheinungen Pochitonows, und die allgemeine Nervenerregung erreichte ihren Höhepunkt. Alle erwarteten, daß etwas Furchtbares geschehen werde. Die Lage schien ausweglos, denn außer Pochitonow schmachteten im Gefängnis schon seit zwei Jahren die geisteskranken {{Stschedrin}} und {{Konachewitsch}} … Einmal kam es zu einem Zwischenfall, der leicht ein blutiges Ende hätte nehmen können. Fast alle waren im alten Gefängnis in den Werkstätten, wobei die Werkstätten der Männer offen, und nur diejenigen von Ludmila und mir abgesperrt waren. Plötzlich erschien Martynow und erzählte in höchster Erregung, die Gendarmen schlügen Pochitonow. Im Nu versammelten sich alle erregt und empört im Korridor; man schrie, man stieß Drohungen gegen die Gendarmen aus. Die Gendarmen beteuerten, es habe sich nichts derartiges ereignet. Martynow aber versicherte, ein Irrtum seinerseits wäre ausgeschlossen. Als der Gendarm heftig bestritt, den Kranken geschlagen zu haben, rief ihm Janowitsch in seiner Erregung zu: »Sie[[1]] sind ein Lump!« Sofort riß der beleidigte Gendarm aus allen Kräften an der Alarmglocke, die zur Hauptwache führte, und schloß das Gitter, das den Korridor vom Vorzimmer trennte. Wir hatten kaum Zeit, uns zu besinnen, als wir schon rasche Schritte hörten und vor dem Gitter Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten erschienen. Es fehlte nicht viel, und die Kugeln hätten zu pfeifen begonnen. Poliwanow {{[Poliwanow]}}, dem in der höchsten Erregung gar nicht bewußt wurde, was er tat, lief in die Werkstätten und packte eine Axt, um sich zu verteidigen. Glücklicherweise entriß ihm Wassili Iwanow rechtzeitig das gefährliche Werkzeug. Gleichzeitig besann sich auch der Gendarm, der die Soldaten herbeigerufen hatte, und schickte sie wieder zurück. Als einzige Repressalie für diesen Zwischenfall wurde Martynow für drei Tage das Recht auf den Spaziergang entzogen »wegen Verbreitung falscher Gerüchte«; andererseits hatte der Kommandant versprochen, die eigentliche Ursache der Erregung aus der Welt zu schaffen und Schritte zu unternehmen, um Pochitonow in ein Krankenhaus zu überführen. Einstweilen schlug uns der Gefängnisarzt vor, den Kranken im alten Gefängnis unterzubringen. Den kranken Kameraden in voller Isolierung in einem abgeschlossenen Gebäude der Gnade und Ungnade der Wächter auszuliefern, deren Fäuste wir vor Jahren kennengelernt hatten, und die seitdem sicherlich nicht besser geworden waren – dieser Gedanke schien uns unerträglich. Nach einer Beratung beschlossen wir, daß einer von uns zusammen mit Pochitonow nach dem alten Gefängnis gehen solle, um darüber zu wachen, daß der Kranke nicht den Gewalttätigkeiten der Wächter hilflos ausgeliefert sei. Das war um so notwendiger, als die Krankheit rasche Fortschritte machte. Größenwahn, religiöser Wahn, Tobsuchtsanfälle und Selbstmordversuche vereinigten sich zu einer äußerst krassen und schwierigen Form des Wahnsinns, und es war unmöglich, bei den Wutanfällen nicht physische Kraft anzuwenden. Wir wählten Lukaschewitsch, der immer mit Pochitonow befreundet gewesen war. Er vereinigte in sich starke physische Kraft mit großer Herzensgüte. Die Gefängnisverwaltung billigte unseren Vorschlag. Lukaschewitsch hatte die Möglichkeit, uns während des Spazierganges über den Zustand des Kranken und seine Behandlung zu informieren. Die Krankheit Pochitonows machte sehr rasche Fortschritte. Endlich ging das Polizeidepartement auf die Forderung des Gefängnisses ein, ihn nach Petersburg in eine Anstalt zu überführen. Am 5. Februar 1896 bemerkten wir in der Nähe der Wohnung des Arztes einen schwarzen Wagen. Man brachte Pochitonow fort. Es begleitete ihn der Gefängnisarzt, der sich immer als echter Freund der Gefangenen erwiesen hatte. Ein Gendarm in Zivilkleidung saß auf dem Bock. Vor[[Präposition]] 12 Jahren hatte man Pochitonow nach Schlüsselburg gebracht als jungen, lebensprühenden Mann mit lebhaftem Temperament. Man brachte ihn fort als lebendigen Leichnam mit erloschenem Verstand, geschwundener Logik; weder menschliche Gedanken noch Gefühle regten sich in ihm. In Petersburg wurde Pochitonow in einem Militärkrankenhaus untergebracht. Er starb im selben Jahre. Wohl ihm, daß sich über seine letzten Lebenstage der Vorhang gesenkt hatte für diejenigen, die ihn geliebt, für seine Kampfgenossen, die wie er im Kampf um die Freiheit fielen, wie er für sie litten. &&x &&am &&g1="Man_geht_weg" &&fa Man geht weg &&fe &&ax »Von hier wird man nur hinausgetragen, aber nie geht jemand hinaus,« sagte einmal ein hoher Beamter bei seinem Besuch der Festung. Und tatsächlich sind viele hinausgetragen worden. Doch waren nicht alle Gefangenen zu ewiger Gefangenschaft verurteilt. Es waren auch welche dabei, die nach Ablauf ihrer Strafzeit uns verließen. Der erste von ihnen war der Flottenoffizier Juwatschew {{[Juwatschew]}}, der gleichzeitig mit mir verurteilt worden war. Er war durch Aschenbrenner in unsere Militärorganisation eingeführt worden. Trotzdem er bei Gericht jede Teilnahme an der revolutionären Bewegung der Partei leugnete, wurde er gleich den anderen Offizieren zum Tode verurteilt. Nach Einreichung eines Gnadengesuches wurde das Todesurteil zu 15 Jahren Zwangsarbeit gemildert. Bald nach seiner Überführung nach Schlüsselburg begann er Anzeichen religiöser Exaltation zu offenbaren. Die Gendarmen waren über diese Anzeichen »moralischer Besserung« eines politischen Gefangenen sehr erfreut und 1886 – also zwei Jahre nach seiner Verurteilung – führten sie den Neubekehrten aus Schlüsselburg fort. Er wurde auf die Insel Sachalin verbannt. Die lokale Verwaltung nutzte Juwatschews technische Kenntnisse als Seeoffizier aus, und seine Arbeit ermöglichte ihm, an verschiedenen Stellen der Insel das Leben der verbannten Ansiedler und die Beziehungen der Behörden zu diesen jeder menschlichen und juridischen Rechte beraubten Menschen zu beobachten und zu beschreiben. Der nächste, der uns verließ, war Wasili Andrejewitsch Karaulow {{[Karaulow]}}, der 1884 in Kiew im Prozeß der Zwölf zu 4 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Er war Mitglied des Komitees gewesen, das im Jahre 1883 in Paris von den Emigranten Tichomirow und Oschanina gegründet worden war. Außer ihm gehörten dem Komitee noch an: Lopatin, {{Salowa}}, Sergej Iwanow und {{Suchomlin}}, die gleich ihm sich alle im Ausland befanden. Nach ihrer Rückkehr nach Rußland schloß sich ihnen noch Jakubowitsch-Melschin {{[Jakubowitsch-Melschin]}} an. Noch war kein Jahr vergangen, als schon alle verhaftet waren. Das war einer jener hoffnungslosen Versuche, die Organisation »Volks-Wille« wiederherzustellen, die sich seit 1883 vergeblich wiederholten: im Herzen der Partei wirkte der Verräter-Provokateur Sergej Degajew. Im November 1884 verurteilt, wurde Karaulow einen Monat später, gleichzeitig mit seinen Schicksalsgenossen Schebalin, Martynow und Pankratow nach Schlüsselburg überführt. Karaulow, ein Mann von riesenhaftem Wuchs, breitschultrig, lebensfreudig, mit einem Gesicht wie Milch und Blut, war die ganzen vier Jahre in der Festung ununterbrochen krank. Er hatte beständig Lungenbluten, und mehr als einmal war er am Rande des Grabes. Wohl infolge seiner Krankheit nahm Karaulow an unseren Protesten nicht teil. Er hatte infolgedessen keine Reibereien mit der Gefängnisverwaltung. In der Gefangenschaft hielten die politischen Überzeugungen Karaulows nicht stand. Bei den Wahlen zur ersten Reichsduma trat er als Kandidat der Kadetten auf. Er forderte nicht mehr das allgemeine Wahlrecht, da seiner neuen Anschauung nach das Volk dazu noch nicht reif war. Sein Standpunkt in der Agrarfrage, die einst der Hauptpunkt unseres gemeinsamen Glaubensbekenntnisses war, wurde nunmehr von den Forderungen der bürgerlich-liberalen Partei, der er sich angeschlossen hatte, bestimmt. In der Duma war Karaulow eine bedeutende Figur und erzwang sich allgemein Achtung durch seine glühende und talentvolle Verteidigung der Glaubensfreiheit. Mutig und geschickt parierte er die Bezeichnung »Zuchthäusler«, die ihm die »Schwarz-hundert-Leute« zuriefen. Er erwiderte sofort: »Daß ihr überhaupt in diesem Saale sitzt, dazu habe ich auch mit einem Tropfen meines Blutes beigetragen.« Und das war wahr. Nicht nur einen, sondern viele, viele Blutstropfen hatte er für die Volksvertretung, für die der »Volks-Wille« gekämpft hatte, geopfert. Dieser in der Freiheit vor Gesundheit strotzende Athlet verließ Schlüsselburg mit dem Gesicht eines Toten. In Sibirien erholte er sich allmählich. Nach seinem Tode im Jahre 1907 haben die Altgläubigen aus Dankbarkeit für die treue Verteidigung ihrer religiösen Rechte durch ihn auf sein Grab einen Gedenkstein gesetzt. Aber die absolutistische Regierung duldete einen solchen »Rebellionsakt« nicht und befahl, die Platte zu entfernen. Nach 1888 folgte eine lange Pause, während der man uns weder jemand brachte noch jemand fortführte. Im Jahre 1890 sollte Lagowski fortkommen. Das Schicksal dieses Menschen ist wahrhaft tragisch. Wir alle waren nach dem Gesetz gerichtet und verurteilt worden, die Form war gewahrt worden. Er aber geriet nach Schlüsselburg ohne irgendeine vorhergehende Gerichtsverhandlung und wurde auf administrativem Wege auf Befehl des Ministers des Inneren in Schlüsselburg für fünf Jahre eingeschlossen. Im Jahre 1883 wurde er als Offizier auf administrativem Wege in das Tomsker {{[Tomsker]}} Gouvernement verbannt; er flüchtete, schloß sich unserer Partei an und wurde im März 1884 in Petersburg auf der Straße verhaftet. Man fand bei ihm das Rezept eines neuen Sprengstoffes; das genügte, um ohne jedes Gericht im Oktober 1885 nach Schlüsselburg zu kommen. Während der ersten Jahre in Schlüsselburg hatte er keine besonderen Zusammenstöße mit der Administration. Aber im Herbst 1887, noch unter dem Inspektor Sokolow, geriet er für Klopfen ins alte Gefängnis, gerade in jener Zeit, als Gratschewski dort seinen Tod durch Selbstverbrennung fand. Darauf folgten ununterbrochene Reibereien mit dem neuen Inspektor Fedorow, immer um Kleinigkeiten. Das Fenster seiner Zelle lag gerade dem Gärtchen gegenüber, wo die Gefangenen spazierengingen. Um die Kameraden zu sehen, sprang Lagowski auf das Fensterbrett und klammerte sich mit den Händen an dem Rahmen fest. Keine Verweise oder Strafen konnten ihn davon zurückhalten. Er kam in den Karzer, man zog ihm die Zwangsjacke an, man fesselte ihn und warf ihn mit solcher Wucht auf den Boden, daß er bewußtlos und blutüberströmt liegen blieb. Er aber trotzte und schuf sich dadurch im Inspektor einen erbitterten Feind. Endlich kam der Tag, an dem seine fünf Jahre abgelaufen waren. Nicht nur er, sondern wir alle waren förmlich im Fieber und schwankten zwischen Furcht und Hoffnung, ob Lagowski in Freiheit komme oder nicht. Am betreffenden Tage betrat der Kommandant seine Zelle und verlas ein amtliches Dokument: der Minister des Inneren bestimmt, daß Lagowski zur Strafe für »schlechtes Benehmen« weitere fünf Jahre in Schlüsselburg bleiben muß … Auch diese fünf Jahre gingen vorüber. Lagowski wurde freigelassen. Er hatte in der Freiheit Mutter und Schwester zurückgelassen, die er zärtlich liebte. Lange konnte er sie nicht ausfindig machen, denn in den langen Jahren seiner Gefangenschaft hatte er keine Nachricht von ihnen gehabt. Kurz nachdem Lagowski uns verlassen hatte, beendete einer unserer geliebtesten Kameraden, Manutscharow {{[Manutscharow]}}, seine Strafzeit. Bei seiner Verhaftung in Charkow hatte er bewaffneten Widerstand geleistet, nicht um einen der Gendarmen zu töten, sondern um durch den entstehenden Lärm die Kameraden und Freunde vor dem Hinterhalt zu warnen, den man ihnen wahrscheinlich in der Wohnung bereitet hatte. Es gelang ihm, aus dem Charkower Gefängnis zu entfliehen, er wurde aber wieder ergriffen und kam nach Schlüsselburg. Von Geburt war er Armenier. Er besaß weder eine hervorragende Bildung noch besondere äußere Vorzüge, und doch war es schwer, einen liebenswürdigeren, gütigeren Menschen zu finden. Er war gerecht, zartfühlend und geduldig den anderen gegenüber, war der beste Kamerad, den man sich unter den schweren Gefängnisverhältnissen wünschen konnte. Aufmerksam gegen jeden, geduldig in den persönlichen Beziehungen, war er einfach unersetzlich. An uns allen hing Manutscharow derartig, daß er, als seine Strafe abgelaufen war, sich nicht entschließen konnte, uns zu verlassen. Er ging erst, als der Kommandant ihm sagte, er sei gezwungen, ihn gewaltsam zu entfernen, falls er nicht gutwillig ginge. Er wurde nach Sibirien verbannt. Dort verheiratete er sich, starb aber schon im Jahre 1909. Ein Jahr nach seiner Entlassung aus Schlüsselburg fand ich in der Zeitschrift »Russkoje Bogatstwo« {{[Russkoje Bogatstwo]}} ganz unerwartet ein Gedicht von mir und auf der Rückseite eine Antwort in Versen, die mit dem Buchstaben M (Michajlowski) unterzeichnet war. Mein Gedicht war von Manutscharow aus den Mauern des Gefängnisses hinausgetragen worden. Ich war bis zu Tränen gerührt. Meine[[Besitz]] Stimme hatte meine[[Besitz]] Freunde in der Freiheit erreicht, ihre zärtlichen Worte flogen durch die Mauern zu mir. &&x Im Jahre 1896 verließen uns gleichzeitig fünf weitere Kameraden. Nikolai II. bestieg im Jahre 1894 den Thron. Eine Welle der Erregung ergriff uns: sicherlich wird es eine Amnestie geben; vielleicht werden auch wir das Licht der Freiheit wiedersehen! Die Gefängnisverwaltung war überzeugt, daß Schlüsselburg sich leeren werde. Der Inspektor Fedorow gratulierte uns schon zu unserer bevorstehenden Befreiung. Der Offizier, der die Werkstätten verwaltete, offenbarte dabei einen solchen Liberalismus, daß er uns in den unverschlossenen Werkstätten weilen ließ. Wir versammelten uns in der Tischlerei; die Kameraden umringten mich und Ludmila Wolkenstein, und Schebalin ergriff erst die eine und dann die andere und schwang uns im Walzer. Doch erwies sich die Freude als verfrüht. Hangart, der besser unterrichtet war und keine Illusionen hatte, erteilte dem Offizier einen Verweis. Die Freiheiten, die er uns verfrüht gegeben hatte, wurden uns wieder entzogen, und unsere gehobene Stimmung verschwand. Wir wußten von dem, was in der Freiheit vor sich ging, nichts, und nach und nach, als keine Veränderung bei uns eintrat, hörten wir auf, sie zu erwarten. So verging wieder ein Jahr. Wir waren gerade im alten Gefängnis bei der Arbeit, als ganz unerwartet der Wachtmeister erschien und mehrere Personen, unter ihnen auch Ludmila Wolkenstein, zum Kommandanten führte. Wir blieben bestürzt und voll Unruhe zurück. Doch bald kehrten die Kameraden wieder. Sie[[1]] waren sehr aufgeregt und erzählten, der Kommandant habe ihnen mitgeteilt, daß infolge des Krönungsmanifestes die »Zwangsarbeit für unbestimmte Zeit«, zu der Wasili Iwanow, Aschenbrenner, Starodworski und Poliwanow verurteilt waren, in 20 Jahre umgewandelt worden sei; daß für Pankratow, Surowzew, Janowitsch und Ludmila Wolkenstein die Strafe auf ein Drittel verkleinert worden sei und daß infolgedessen Ludmila, Surowzew und Janowitsch schon jetzt die Festung verlassen müßten. Diese Teilamnestie, die die anderen Kameraden in der bisherigen Lage zurückließ, machte den Amnestierten keine Freude. Ludmila war empört. Als wir voll Freuden, daß wenigstens einige von uns unser Grab verlassen würden, ihr gratulieren wollten, wollte sie von keiner Gratulation und Freudenäußerung hören. Nur ganz allmählich fand sie sich mit der Tatsache ab. Und nun begannen die eiligen Vorbereitungen zur Abreise. Es fiel Ludmila sehr schwer, uns nach so vielen Jahren des Zusammenlebens, die so voll gemeinsam getragenen Leids und Ungemachs waren, zu verlassen. Sie[[1]] liebte uns und wußte, daß sie für manchen unter uns unentbehrlich war, wie Licht und Luft. Ihre zarte Fürsorglichkeit sprach sich in ihren letzten Unterredungen mit mir aus, als sie mich immer wieder bat, ja nicht zu vergessen, daß für diese Menschen ihre Abreise ganz besonders schwer sei … Am 24. November führte man sie und noch vier Kameraden, Martynow, Schebalin, Janowitsch und Surowzew fort. Die letzte Stunde vor der Abreise verbrachte sie in meiner Zelle. Die ganze Zeit über – weinte sie, und ich tröstete sie. Ihre letzten, rührenden Worte beim Abschied waren, daß sie in Schlüsselburg die besten Menschen, die sie je im Leben getroffen habe, zurücklassen müsse. Um 1 Uhr führte man sie nacheinander aus den Zellen und dann aus der Festung hinaus. Noch einmal blieben sie draußen stehen und winkten uns ihr letztes Lebewohl zu. Aus den Fenstern unserer Zellen blickten wir ihren sich entfernenden Gestalten nach. Noch einmal sahen sie sich um und grüßten tief, die Männer nahmen die Mützen ab und winkten damit, Ludmila blieb abermals stehen und winkte mit dem Taschentuch. Auch wir winkten mit weißen Tüchern. Mit unseren Blicken begleiteten wir zum letztenmal unsere Freunde, die ins Leben zurückkehrten, und in diesem Augenblick schien es, als ob rings um uns eine neue, dunkle Leere entstanden wäre. Schon haben sie das letzte Tor erreicht und sind unseren Blicken für immer entschwunden. Für uns haben sie zu existieren aufgehört: es ist, als ob ein Abgrund sie verschlungen hätte. Keine Zeile durfte uns benachrichtigen, was mit ihnen weiter geschehen würde … Das Dunkle, Unbekannte, umgab uns immer und in allem wie die »Blinden« {{Maeterlincks}}. Die Abreise der fünf Gefährten ließ eine Leere in unserem Leben zurück. Ludmila Wolkenstein nahm eine ganz besondere Stellung ein; die anderen, wie Schebalin und Janowitsch, schätzten wir wegen ihrer persönlichen Eigenschaften sehr hoch, und Surowzew war überhaupt als Mensch einzig in seiner Art. Ludwig Janowitsch war Mitglied der polnischen Partei »Proletariat« und kam im Jahre 1886 in die Festung. Bei seiner Verhaftung leistete er bewaffneten Widerstand und verwundete einen Geheimpolizisten. Eine derartige Handlung hätte man einem so schüchternen, ruhigen Menschen gar nicht zugetraut. Man brauchte nicht viel Zeit, um ihn als »nicht von dieser Welt« zu erkennen. Den Wert der materiellen Güter schätzte er absolut nicht. Ich glaube, er hätte Essen und Trinken überhaupt vergessen, wenn nicht zu gegebener Stunde die Gendarmen ihm das Essen hereingereicht hätten. Und nie tat er irgend etwas, um irgendwie die Gesundheit in der Festung zu bewahren. Das ewige Sitzen in der dumpfen Zelle konnte natürlich nicht ohne verheerende Folgen für seinen Organismus sein. Doch wandte er sich nie an den Arzt. Ewig saß er über die Bücher gebeugt. Seinen Neigungen nach war er Volkswirtschaftler und widmete sich vollkommen der Statistik. Bei seiner Abreise aus der Festung nahm er einen Stoß gebundener Hefte mit, die mit Notizen, Tabellen, Diagrammen und selbständigen Aufsätzen über ökonomische Fragen und über die industrielle Entwicklung Rußlands, insbesondere Polens, gefüllt waren. Für mich hat Ludwig Janowitsch ein wunderbares statistisches Handbuch verfaßt, in dem sich in gedrängter Form alles fand, was jeder russische Sozialist von seiner Heimat wissen muß. Wäre das Buch erschienen, es würde der erste kurze, für jeden notwendige Leitfaden der Statistik Rußlands gewesen sein. In seinen wissenschaftlichen Untersuchungen war Janowitsch äußerst vorsichtig, ungemein gewissenhaft und objektiv; nie behauptete er etwas leichtfertig, und nichts nahm er kritiklos hin. Janowitsch war ewig in seine Arbeit vertieft und beteiligte sich wenig an unseren täglichen Angelegenheiten, er lebte ausschließlich seiner geistigen Tätigkeit. Unter den Kameraden neigte er besonders zu jenen, die sich dem Studium widmeten. Abgesehen von {{Warynski}}, der schon 1889 starb, war Lukaschewitsch sein intimster Freund. Außer den rein wissenschaftlichen und theoretischen Fragen verband die beiden ihre gemeinsame Nationalität, beide waren Litauer. Man merkte es ihm an, daß er seelisch schwer litt. Einst, als ich und er, jeder für sich, in unseren Käfigen allein spazierengingen, wahrscheinlich, weil keiner von uns das Bedürfnis nach Gesellschaft hatte, wollte ich doch wissen, wer mein Nachbar sei und schaute durch die Ritze; im selben Augenblick aber fuhr ich zurück. Janowitsch ging mit gerunzelter Stirn und gesenktem Blick auf und ab; der Ausdruck von Gram und Schwermut auf seinem blassen, abgezehrten Gesicht war so furchtbar, und die ganze Gestalt drückte ein so grenzenloses Leid aus, daß sich mir das Herz krampfte. Und stets beunruhigte mich der Stempel der Schwermut, der seinem Gesicht aufgeprägt war. Ein Hauch von Reinheit und Wahrhaftigkeit, ja etwas Heiliges, vom Alltäglichen Losgelöstes, ging von ihm aus. Seine Zurückhaltung ließ keinen engeren Anschluß zu, aber alle schätzten ihn ungemein, und wir, die wir öfter mit ihm in Berührung kamen, liebten ihn sehr, Janowitschs Bild hat sich uns für immer in die Seele gegraben. &&x Martynow, der gleichzeitig mit Janowitsch Schlüsselburg verließ, war gemeinsam mit Karaulow, Pankratow und Schebalin im Prozeß der Zwölf zu 12 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Im Dezember 1884 wurde er mit seinen Schicksalsgenossen nach Schlüsselburg gebracht, wo er bis 1896 blieb. In der Festung hatte er einen heftigen Zusammenstoß mit dem Inspektor Fedorow, der uns alle aufs tiefste erregte. Er begnügte sich nicht mit dem Spaziergang zu zweien und kletterte regelmäßig, wenn die Kameraden spazierengingen, auf das Fensterbrett, um einen Blick auf sie zu werfen. Einst ertappte ihn der Inspektor dreimal nacheinander dabei. Als er ihm einen Verweis gab, spuckte ihm Martynow ins Gesicht. Diese tödliche Beleidigung des Beamten mußte nach den Gesetzen des Kriegsgerichtes das Todesurteil nach sich ziehen. Wie konnten wir Martynow seinem Schicksal protestlos überlassen? Man überführte Martynow nach dem Zwischenfall in das Gefängnis. Da erklärte Ludmila, man dürfe ihn dorthin nicht allein gehen lassen. Wir sollten fordern, alle überführt zu werden. Dieser Vorschlag brachte mich in eine sehr schwierige Situation. Martynows Benehmen empörte mich. Wie der Inspektor auch war, er war ein Mensch, und eine Beleidigung, wie Martynow sie ihm angetan hatte, hielt ich für absolut unzulässig, gleichviel, wem sie geschah. Mein Zorn gegen Martynow war so groß, daß ich mir die größte Mühe geben mußte, um dem Inspektor nicht mein Bedauern über das Vorgefallene auszusprechen. Andererseits erschien es mir unmöglich, mich von den Kameraden zu trennen. Aber zum beabsichtigten kollektiven Protest ist es gar nicht gekommen. Martynow wurde keinem Gericht übergeben. Wir erklärten es uns als Folge eines ausführlichen Berichts, den Lopatin an das Polizeidepartement geschickt hatte, und worin er den krankhaften Zustand Martynows schilderte und darlegte, daß Martynow sogar an epileptischen Anfällen litt. Im alten Gefängnis blieb Martynow einen Monat. Er war an den Füßen gefesselt. Spaziergang und Bücher waren ihm entzogen. Dann wurde der Vorfall der Vergessenheit anheimgegeben. Der dritte von denjenigen, die im Jahre 1896 Schlüsselburg verließen, war Michail Schebalin; er war Mathematiker. Bereits als Student erwies er der Partei verschiedene Dienste. Im Frühling 1883 richtete Schebalin auf Jakubowitschs Vorschlag hin eine illegale Steindruckerei ein, in der revolutionäre Flugblätter gedruckt werden sollten. Dann sollte auch eine Buchdruckerei eingerichtet werden. Schebalin ließ sich zum Schein mit Praskowja Bogoras {{[Praskowja Bogoras]}} trauen und bezog mit ihr im April 1883 eine konspirative Wohnung. Als Dienstmädchen figurierte ein intelligentes Mädchen, Maria {{Kuljabko}}. Alle drei hatten nicht die leiseste Ahnung von der Buchdruckerkunst. Aber der Eifer war groß, und die Druckerei stellte Flugblätter, eine Broschüre und manches andere her. Die Beziehungen der Druckerei mit der Außenwelt wurden durch Degajew aufrechterhalten, der damals seine provokatorische Tätigkeit in Petersburg entfaltete. Im August oder September reiste Degajew ins Ausland, wo er Tichomirow und Maria Oschanina ein Geständnis seiner Tätigkeit als Provokateur ablegte. Sie[[1]] trafen mit ihm eine Abmachung, derzufolge sein Leben geschont bleiben sollte, falls er der Partei helfen würde, Sudejkin zu töten. Mit diesem Auftrag kehrte Degajew nach Rußland zurück und setzte seine provokatorische Rolle fort. Kurz bevor er Sudejkin ermordete, überredete er Schebalin, Petersburg zu verlassen und einen anderen Namen anzunehmen. Tatsächlich übersiedelte Schebalin zunächst nach Moskau, dann nach Kiew, doch ohne den Namen zu wechseln. In Kiew setzte er die Druckerarbeiten fort. Kurz darauf, am 4. März 1884, wurde die Druckerei von der Polizei aufgespürt und das Ehepaar Schebalin verhaftet. Im Herbst kam ihre Sache vor Gericht. Praskowja Schebalin wurde nach Sibirien verbannt, Michail Schebalin bekam zwölf Jahre Zwangsarbeit und wurde nach Schlüsselburg gebracht. Im ersten Halbjahr seiner Haft, im Sommer 1885, forderte er seinen Abtransport nach Sibirien und nahm 32 Tage lang keine Nahrung zu sich. Nach seinen eigenen Worten hat er in den ersten zehn Tagen sehr gelitten, aber nach etwa zehn Tagen sei das Hungergefühl verschwunden und eine völlige Gleichgültigkeit habe eingesetzt. Die Behörden bemühten sich auf jede Weise, ihn zur Einstellung des Hungerprotestes zu bewegen. Orschewski versuchte, ihn von der Unmöglichkeit zu überzeugen, sein Ziel auf diesem Wege zu erzwingen. Auf Schebalins Frage, warum man die Zwangsarbeit in Sibirien in Gefangenschaft in Schlüsselburg verwandelt habe, erwiderte der Minister, es sei auf Befehl des Zaren geschehen. Um den Hungernden in Versuchung zu führen, stellte man täglich neben ihn einen Krug Milch. Schebalin erzählt, er habe am 32. Tag bemerkt, daß eine Fliege in die Milch gefallen sei; ganz mechanisch habe er sie herausgezogen und unbewußt die Finger abgeleckt. Da war es mit dem Hungerstreik zu Ende. Er trank den ganzen Inhalt des Kruges in einem Zuge aus. In der Festung widmete sich Schebalin seinem Mathematikerberuf und dem Studium fremder Sprachen. Zehn Jahre seiner Gefangenschaft waren vergangen, als er 1895 vom Polizeidepartement die kurze Mitteilung bekam, seine Frau und sein Kind seien im Jahre 1885 im Moskauer Etappengefängnis vor dem Transport nach Sibirien gestorben. Als vierter verließ uns Dimitri Surowzew. Als Sohn eines Dorfgeistlichen hatte er in Wologda {{[Wologda]}} das geistliche Seminar absolviert. Von Natur schweigsam und friedliebend, stand Surowzew jeder geistigen und theoretischen Polemik fern. Auf eine eigenartige Weise geriet er in die Partei: obgleich er Gegner jeder Gewalt war, nahm er den Vorschlag an, die Rolle des Inhabers unserer Druckerei zu übernehmen. 1882 mußten wir die Druckerei aus Moskau nach Odessa verlegen; dort wurde Sergej Degajew Inhaber, Surowzew Setzer. Nach einem Monat schon war diese Druckerei mit ihrem ganzen Personal verhaftet. Surowzew wurde zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. In Schlüsselburg wurde Surowzew Tolstojaner. Bezeichnend für seine einfache und zarte Seele ist, daß er sich an das Polizeidepartement mit der Bitte wandte, ihm zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, zur Erziehung in Schlüsselburg zu überlassen, und sich erbot, sie durch eigene Arbeit zu ernähren. Wir waren über die Idee Surowzews äußerst betroffen, wie auch über seinen naiven Glauben an das gute Herz des Departements. Natürlich redeten wir es ihm aus, das Schreiben abzuschicken, da es weiter nichts als den Spott der Beamten hervorgerufen hätte. Als Gegner jeglichen Mordes war Surowzew Vegetarier, und als man anfing, uns Fleisch zu geben, wies er es hartnäckig zurück. Surowzew war auch in der Freiheit Idealist und Asket; als ich ihn nach dem Zusammenbruch der Moskauer Gruppe malariakrank in Woronesch fand, lebte er in einem Boot, das er bei schlechtem Wetter umdrehte, und ernährte sich ausschließlich von Kartoffeln. So war er im Gefängnis, und so blieb er auch, als er es verließ. Schwere, beharrliche Arbeit war sein Los im Jakutengebiet, wohin er 1896 nach dem Amnestieerlaß verbannt wurde, und dieselbe schwere Arbeit füllte sein ganzes Leben auch nach seiner Rückkehr in das europäische Rußland aus: die Landarbeit, die er wie ein echter Bauer liebte. Nie dachte er an seine Bedürfnisse, war dagegen immer bereit, mit dem wenigen, was er hatte, anderen zu helfen. 1918, als infolge der Teuerung einige Freunde sich zu einem Komitee vereinigten, um den ehemaligen Schlüsselburgern zu helfen, und auch ihm monatlich 300 Rubel schickten, sandte er dieses Geld, ungeachtet der Not, in der er sich befand, sofort an das Seminar nach Wologda als Rückzahlung für das Stipendium, das er vor 35 Jahren empfangen hatte. 1920 erfuhr ich, daß er in das Wologdaer Gouvernement übergesiedelt war und in {{Totma}} ein eigenes Häuschen bewohnte. Ein kleines Gärtchen, das er selbst bearbeitete, ernährte ihn während der einen Hälfte des Jahres, während der anderen begnügte er sich mit 15 Pfund Mehl monatlich, die er gleich allen übrigen Bewohnern des Städtchens zugewiesen bekam. Das war zu wenig zum Leben, und Surowzew hungerte und litt derartige Not, daß er die Nägel aus dem Dache seines Häuschens hervorzog und sie gegen Lebensmittel eintauschte. »Für sieben Nägel bekam ich 20 Pfund Kartoffeln«, schrieb er mir. Und um nicht vor Kälte umzukommen, nahm er das Flechtwerk seines Zaunes und heizte damit. »Im Frühling werde ich im Walde Reisig sammeln und einen neuen flechten«, sagte er in demselben Briefe. Seine Bescheidenheit war so groß, daß keine Not ihn veranlassen konnte, sich an irgendjemand um Hilfe zu wenden. Die Gefängniswärter in Moskau und die Polizisten in Sibirien behandelten Surowzew mit ganz besonderem Vertrauen und Respekt. In Moskau ließ man ihn allein auf dem Vorhofe spazierengehen, und die Versuchung zur Flucht lag doch so nahe. Aber Surowzew dachte gar nicht daran. »Wie hätte ich das Vertrauen mißbrauchen können«, sagte er mir einmal, als wir darüber sprachen. Tatsächlich, seine Uneigennützigkeit, sein Gleichmut gegenüber allem Äußeren, Materiellen, sein direkt kindlich-naiver Glaube an die Menschen und das Leben hoben ihn hoch über die Menge. &&x &&am &&g1="Selbstausbildung" &&fa Selbstausbildung &&fe &&ax Im Jahre 1892 oder 93 gab uns der Kommandant Hangart eine Zeitschrift zum Einbinden, worin ich einen Artikel fand, der meinen[[Besitz]] Gedanken eine neue Richtung gab und eine Periode meines Lebens in Schlüsselburg einleitete, die voll Licht und gesunder Freude war. Ich las dort, daß in den Vereinigten Staaten eine Bewegung entstanden sei, die, von dem Standpunkt ausgehend, daß der Mensch um das 40. bis 45. Lebensjahr vieles vergißt, was er in der Schule gelernt hat, zur Errichtung von Fortbildungskursen für Erwachsene geführt habe. Wie einfach der Gedanke auch war, er wirkte wie eine Entdeckung und wurde von der Masse des Volkes aufgegriffen. Zum Zentrum der Bewegung wurde ein kleines Städtchen an einem der großen nordamerikanischen Seen, und bald war der Andrang von Männern und Frauen reiferen Alters, die ihre Kenntnisse erneuen und ergänzen wollten, ungeheuer. Ich beschloß, sofort, alles was ich gelernt, systematisch zu wiederholen und jene Lücken auszufüllen, die ich während meines Studiums nicht beachtet hatte. Die geringen Bruchstücke der Naturwissenschaft, die man uns in der Schule lehrte, waren nur geeignet, jedes Interesse daran zu vernichten. Der enge Gesichtskreis, in dem ich mich während meines medizinischen Studiums bewegte, bestärkte diese Gleichgültigkeit, und die revolutionäre Tätigkeit verdrängte das Interesse für alles außer für soziale Fragen. Erst in Schlüsselburg, als von allem, was ich in der Freiheit besessen, nur ein Stückchen Erde und ein Streifchen Himmel übrig geblieben war, wandelte sich meine[[Besitz]] Beziehung zur Natur, und ich begriff, daß ich gar nichts von ihr wußte. Die Geschichte des Himmels, die Entstehung und Entwicklung der Erde, die Zusammensetzung und die Entwicklung der Gesteinsarten, aus denen unsere Festung gebaut war, und deren Bruchstücke unsere Füße beim Gehen berührten, waren für mich Geheimnisse. Ebenso kannte ich den von der Sonne erwärmten heißen Sand nicht, ich wußte nicht, was diese durchsichtigen Körnchen enthielten, die mir gleich einem dünnen Strom aus der Hand rieselten. Hier dieses Gras, das gleiche, wie es auf dem Friedhof unseres Dorfes wächst, das Blümchen dort, dem ich so oft im Walde begegnete, als wir Maiglöckchen sammelten –, ich kannte nicht seinen Namen, konnte es nicht bezeichnen. Eine Unmenge von Fragen tauchten auf und fanden keine Antwort. Diese späte Erkenntnis kam mir beim Lesen des Artikels über die amerikanischen Fortbildungsbestrebungen. In unserer damals noch sehr ärmlichen Bibliothek besaßen wir ein schönes Buch: botanische Aufsätze mit farbigen Illustrationen. Ich las es mit dem größten Interesse und ging darauf zu mikroskopischen Untersuchungen der Pflanzen über. Ein Mikroskop besaßen wir, Hangart hatte es für unser selbstverdientes Geld gekauft, und die notwendigen Reagenzien lieferte uns der Gefängnisarzt, der überhaupt unseren Bedürfnissen sehr entgegenkam. In jener Zeit begannen auch meine[[Besitz]] Arbeiten auf dem Gebiete der Chemie; ich nahm wieder das vorzügliche Lehrbuch von Mendelejew {{[Mendelejew]}}: »Die Grundlagen der Chemie« durch, das mir in den Universitätsjahren so viel gegeben hatte. Doch das alles befriedigte mich nicht; ich wollte Anweisungen von Kameraden, die auf diesem Gebiete bereits mehr Kenntnisse besaßen. Unter uns war der Naturwissenschaftler Lukaschewitsch. Als er noch Student war, setzten die Professoren große Hoffnungen auf ihn und wollten ihn an der Universität behalten. Lukaschewitsch hatte eine streng wissenschaftliche Schulung und verfügte über ein so großes Wissen, daß er jede auf sein Gebiet bezügliche Frage beantworten konnte; bescheiden wie ein echter Gelehrter, war er äußerst vorsichtig beim Aufstellen wissenschaftlicher Hypothesen; gleichzeitig war er von einer bestrickenden Bereitwilligkeit, sein Wissen mit jedem zu teilen, der ihn um Hilfe bat. Auch ich wandte mich an ihn und bat ihn um eine Reihe von Vorlesungen und um seine Unterstützung bei praktischen naturwissenschaftlichen Arbeiten. Lukaschewitsch willigte ein und als Zuhörer schlossen sich mir an: Noworusski {{[Noworusski]}}, Morosow und Pankratow. Die regelmäßigen Vorlesungen begannen. Sie[[1]] fanden draußen in den Gärten statt. Wir hatten einen botanischen und einen zoologischen Vorlesungszyklus. Zur Illustration seiner Vorträge verfertigte Lukaschewitsch vorzügliche Modelle aus japanischem Wachs: seine Medusen waren wunderbar, und seine histologischen Präparate und Zeichnungen machten seinen Vortrag im höchsten Maße anschaulich. Als wir 1896 aus dem Petersburger Museum die reichhaltigen Sammlungen bekamen, konnten wir zur Mineralogie, Geologie und Paläontologie übergehen. Aus passiven Schülern wurden wir zu aktiven Mitarbeitern und arbeiteten an der Zusammenstellung neuer Sammlungen und Modelle; gleichzeitig trugen diese praktischen Arbeiten auf dem Gebiete der Botanik und Mineralogie dazu bei, das Wissen zu vertiefen, das wir uns aus den Büchern und Lukaschewitschs Vorlesungen angeeignet hatten. Als Noworusski einmal eine Aufstellung unserer Arbeiten aus den letzten drei bis vier Jahren machte, waren wir selbst erstaunt darüber, wieviel wir in dieser Zeit geleistet hatten. Später, als wir die Festung verlassen hatten, mußten wir uns leider überzeugen, daß lange nicht alles von uns Hergestellte seinen Bestimmungsort erreicht hatte. Lukaschewitsch, Noworusski und ich hatten Tausende von Pflanzen getrocknet, und sie lagen in ganzen Stößen in der Werkstätte, wo wir sie auf weiße Pappe klebten. Wir erreichten in dieser Arbeit eine solche Vollkommenheit, daß die Frische der Farben und die Schönheit der Zusammenstellungen sogar auf der Pariser Ausstellung, wohin sie das Museum geschickt hatte, höchstes Lob eintrugen. Daß die Sammlungen aus der russischen Bastille kamen, davon hatte man auf der Ausstellung natürlich keine Ahnung. Die Muße und die Notwendigkeit, mit geringen Mitteln zu arbeiten, hatten unsere Erfindungsgabe so angespornt, daß wir wahre Wunder verrichteten. So haben wir es fertig gebracht, aus eigener Kraft für unsere physikalischen Arbeiten einen Elektrophor {{[Elektrophor]}}, ein Elektroskop und sogar eine kleine Elektrisiermaschine herzustellen. Wir stellten Sammlungen aus dem Gebiete der Entomologie, Botanik, Geologie und Kristallographie her. Auf letzterem Gebiete zeichnete ich mich im Gegensatz zu Noworusski durch keine besondere Begabung aus und konnte anfangs Modelle von Kristallen schlecht unterscheiden. Nur allmählich erwarb mein Auge mehr Sicherheit. Noworusski und ich betrieben unter Leitung von Lukaschewitsch auch analytische Chemie. Im Laufe einiger Jahre hatten wir die hauptsächlichsten Gebiete der Naturwissenschaften durchgenommen. Für mich waren diese Vorträge und praktischen Arbeiten ein Rettungsanker, mein leeres Leben in der Festung bekam dadurch einen Inhalt. Die geistige Arbeit an sich bot reichliche Befriedigung. Das Bewußtsein, an einer kulturellen Arbeit gemeinsam zu wirken, hat uns, Lukaschewitsch, Morosow, Noworusski und mich, eng miteinander verbunden, und in der Zusammenarbeit festigten sich die Freundschaftsbande, die über Schlüsselburg hinausreichten. &&x &&am &&g1="Briefwechsel" &&fa Briefwechsel &&fe &&ax Späte Freuden verlieren ihren Wert. Als man uns nach dreizehn Jahren den Briefwechsel mit den Verwandten gestattete, da hatte ich keine Freude mehr daran. Im Laufe der dreizehn Jahre war die Erinnerung an die Angehörigen in die Ferne gerückt, die Wege unseres Lebens hatten sich getrennt. Es war, als ob sie gestorben wären … eine lange, hoffnungslose Trennung gleicht ja auch dem Tode. Wenn man uns die Korrespondenz in den ersten Jahren nicht verboten hätte, so wäre dies ein großes Glück für uns gewesen: die Verwandten wären unser Bindeglied mit der lebendigen Außenwelt geblieben. Aber das sollte eben nicht sein! Wir sollten vollkommen von der Welt abgeschnitten werden, losgelöst sein von allem Normalen und Üblichen. Der Briefwechsel sollte nun die Verbindung mit den Verwandten beleben, uns wieder ihnen nähern, aber – wir durften nur zweimal im Jahre Briefe beantworten und empfangen. Zweimal im Jahre! Schon allein dieser Gedanke machte jede Annäherung unmöglich, erzeugte Leere und Kälte. Außerdem durften wir die Briefe nicht behalten, sondern mußten sie zurückgeben. Und jeder weiß ja, wie angenehm es manchmal ist, in entsprechender Stimmung alte Briefe noch einmal zu lesen. Unter diesen Bedingungen riefen die Briefe nicht Freude, sondern Unruhe hervor. Wir hatten Angst vor Erinnerungen, die sich von außen an uns herandrängten und unser so schwer errungenes seelisches Gleichgewicht zu stören drohten … Worüber schrieben uns die Verwandten? Ihre Briefe entbehrten jeglicher Mitteilungen aus dem sozialen Leben – dafür sorgte das Polizeidepartement. Die einzige Ausnahme bildete der erste sechzehn Seiten lange Brief, den ich von meiner jüngsten Schwester Olga bekam. Ohne irgendwelche Einleitung, als hätten wir uns soeben erst unter den normalsten Verhältnissen getrennt, oder als hätten wir die ganzen dreizehn Jahre regelmäßig miteinander korrespondiert, beschrieb sie die allrussische Gewerbeausstellung des Jahres 1896 von Nischni-Nowgorod. Sie[[1]] schrieb über Wittes {{[Wittes]}} Finanzpolitik und den Aufschwung der russischen Industrie; sie berichtete über das Entstehen der sozialdemokratischen Bewegung, den Kampf zwischen den Narodniki und den Marxisten, die damals ihre erste Sturm- und Drangperiode erlebten; von den heißen Kämpfen, die unter der Jugend, in der Literatur, in den Familienkreisen um die Fragen des ökonomischen Materialismus und ähnliche entbrannt waren. Man fühlte aus dem Brief den Odem des Lebens. Er machte die Runde durch das ganze Gefängnis, und alle lasen ihn mit glühendem Interesse. Aber dieser Brief blieb der einzige dieser Art. Die Schwester hatte es verstanden, mit solcher Geschicklichkeit das Soziale mit Bildern aus dem Familienleben, Berichte über die Familienmitglieder mit den Fragen des Marxismus zu verflechten, daß das Polizeidepartement den Brief passieren ließ. Sonst schrieben die Verwandten über Dürre, Stürme, Hagelschauer, von der Getreide- und Obsternte, teilten Neuigkeiten der Familienchronik, Ehen, Geburten, Todesfälle mit. Was auch immer diese Briefe enthielten, sie machten alle die Runde unter uns: wir lasen sie, wie wir in den ersten Jahren alles gelesen hatten, was uns in die Hände fiel; gierig suchten wir darin nach Zusammenhang mit dem Leben. War der Briefwechsel außerstande, unsere brennende Neugierde, was draußen in der freien Welt vor sich gehe, zu befriedigen, so brachten die Nachrichten von zu Hause um so öfter schweres Leid; die eingetroffenen Nachrichten waren manchmal direkt erschütternd. So bekam einer von uns die Nachricht, seine alte, alleinstehende Mutter sei ohne Fürsorge geblieben; sie war scheinbar geisteskrank geworden, verließ nachts das Haus und irrte planlos durch die Stadt; einmal ertappte man sie, als sie im Begriff war, das Haus anzuzünden. Vielleicht waren die Menschen, bei denen sie wohnte, des ewigen Auf-der-Hut-seins müde geworden; genug, die alte Frau mußte in eine andere Stadt übersiedeln. Fremd, ohne Verwandte, ohne Freunde, ohne irgendwelche Mittel war sie gezwungen, das Armenhaus zu beziehen. Vergeblich bat der Genosse um die Genehmigung, seinen Gefängnisverdienst der Mutter schicken zu dürfen. Das Departement verweigerte die Genehmigung; es schickte jedoch von sich aus der Frau 50 Rubel. Das Geld kam zurück, und der Sohn wurde benachrichtigt, daß das Geld die Mutter nicht mehr unter den Lebenden angetroffen habe. – Manche Tragödien ereigneten sich im Laufe der Jahre. Gleich Hammerschlägen sausten alle diese Nachrichten auf den Kopf des Gefangenen nieder. Herzzerreißend waren die Briefe der Mutter Antonows. Sie[[1]] verstand selbst nicht zu schreiben und mußte ihre Briefe diktieren. Sie[[1]] klagte über die Einsamkeit, die Trennung vom Sohn, sprach von der Hilflosigkeit ihres Alters, um nach jedem Satz unveränderlich hinzuzufügen: »Nun, dein Wille, Herr, geschehe!« Was aber sollten wir schreiben? Es war uns verboten, über die Kameraden, das Gefängnis, über unsere Zellen, die Gefängnisordnung zu sprechen; mißtrauisch bis zur Lächerlichkeit verhielt sich das Departement zu unseren Briefen. Wenn das Polizeidepartement gehofft hatte, in unseren Briefen einen Spiegel unserer Stimmung oder vielleicht gar einen Umschwung in unseren Anschauungen zu finden, so hat es sich arg getäuscht. Niemand von uns sprach sich über das aus, was er innerlich durchmachte. Aber wenn das äußere Leben arm und das intensive innere verschlossen ist, worüber soll man dann schreiben? Unter solchen Umständen konnten unsere Briefe natürlich nicht besonders interessant sein. Man quälte sich oft lange, ehe man einen Bogen ausgefüllt hatte. Man konnte ihn doch nicht gut halb beschrieben abschicken. Zum Glück wurde das Departement des Lesens so langer Briefe überdrüssig, und wir bekamen nach Verlauf einiger Zeit nur kleinere Briefbogen zweimal im Jahr. In den dreizehn Jahren hatten die Familienbande nachgelassen. Als ich z. B. erfuhr, daß mein geliebter Onkel gestorben war, empfand ich nur Bedauern. Es ist schwer zu sagen, wie kalt, wie rein verstandesmäßig dies Bedauern war! Als aber ein kleines Vögelchen, das mit mir meine[[Besitz]] Zelle teilte, stürzte und unter Zuckungen starb, durchlebte ich ein wirklich großes Leid. Das Vöglein war zahm, setzte sich mir auf die Schulter und pickte Brosamen aus meiner Hand. Ich konnte sein kleines, weiches Körperchen mit der Hand bedecken; es zwitscherte auf meinem Tisch und plätscherte fröhlich beim Bade im Waschbecken. Nach seinem Tode weinte ich ganze zwei Wochen und konnte ohne Tränen den Nagel nicht sehen, auf dem es gewöhnlich geschlafen hatte. Um diesen Tränenstrom zu hemmen, mußte ich den Inspektor bitten, mich für einige Zeit in eine andere Zelle zu überführen. Einst, während des Spazierganges, las mir Morosow einen langen Brief an Mutter und Schwestern vor. Gemeinsam wollten wir ihn lesen, um zu sehen, ob nicht irgend etwas darin einen Grund zum Zurückschicken gäbe. Als er zu lesen aufgehört hatte, sagte ich: »Nun, was willst du? Das gäbe ausgezeichnetes Material für deinen Nekrolog.« Wir lachten, lachten unter Tränen! Ja, die Briefe waren uns eher eine Last als eine Freude. Das Departement wußte nicht, was es tat. Die Beamten glaubten, uns eine Erleichterung zu gewähren; in Wirklichkeit war es eine Verhöhnung. Wenn ich vorher gefragt worden wäre, ob ich den Briefwechsel wünsche, ich hätte »nein« geantwortet. Nur hätte ich gebeten, es meiner Mutter nicht zu sagen. &&x &&am &&g1="W._S._Pankratow_und_P._S._Poliwanow" &&fa W S Pankratow und P S Poliwanow &&fe &&ax 1898 verließ Pankratow die Festung und 1902 endete Poliwanows Strafzeit. Wasili Pankratow war von Beruf Drechsler. In der Kindheit hatte er bittere Not gelitten, sein Vater starb früh und hinterließ eine vielköpfige Familie mit ganz kleinen Kindern. »Die Armut war so groß, daß wir vor Hunger gestorben wären, wenn uns die benachbarten Bauern nicht geholfen hätten,« erzählte mir Pankratow aus dieser Periode seines Lebens. Pankratow arbeitete in Petersburg und wurde schon früh Revolutionär. Durch einen Kameraden verraten, mußte er illegal werden. Im Jahre 1883 war er mit den Arbeitern Martynow und Antonow Mitglied der Kampforganisation des »Volks-Willens«. Um diese Zeit lag die Partei schon in ihren letzten Zügen. Pankratow leistete bei seiner Verhaftung in Kiew bewaffneten Widerstand und verwundete einen Gendarmen. Dafür bekam er zwanzig Jahre Zwangsarbeit und wurde gleichzeitig mit Karaulow und Martynow nach Schlüsselburg gebracht. Im Kiewer Gefängnis wollte man ihnen als »Zuchthäuslern« den halben Kopf rasieren; das gelang erst nach verzweifelter Gegenwehr der Verurteilten, die von allen übrigen Gefangenen stürmisch unterstützt wurden. Pankratow kam nach Schlüsselburg am 20. Dezember 1884, für mich ein denkwürdiger Tag, denn man brachte ihn in die Zelle neben mir, und er war mein erster Nachbar seit meiner Verhaftung. In der Peter-Pauls-Festung wurde ich vollkommen isoliert gehalten, daher kam ich nach Schlüsselburg, ohne das Gefängnisalphabet zu kennen, ohne klopfen zu können. Lange verstanden wir uns nicht und verließen die Wand, die uns trennte, betrübt und verstört. Als wir es endlich gelernt hatten, befreundeten wir uns sehr. Pankratow war erst 20 Jahre alt, als er nach Schlüsselburg kam. Daß er so jung schon sein Leben hatte beschließen müssen, weckte mein tiefstes Mitgefühl für ihn. Ich war 12 Jahre älter als er, und mir schien, daß einem so jungen Menschen mit frischen Kräften unser Leben noch viel schwerer sein müsse als mir. Mein zartes, fast mütterliches Gefühl für ihn drückte sich in Versen aus, die ich ihm widmete. Pankratow war von aufbrausendem Charakter, heftig, unbeherrscht und unduldsam, nie jedoch gegen mich. Er haßte die Gendarmen mit der ganzen Kraft seiner Seele und schrieb ihnen die gemeinsten Handlungen zu, die sie nach meiner Überzeugung nie vollbracht haben. Ich beruhigte sein krankhaftes Mißtrauen öfters und lenkte Ausbrüche ab, die ihn ins Unglück stürzen konnten. Der Inspektor Sokolow, dem die Vorgänge bei seiner Verhaftung und seine Raserei beim Rasieren des Kopfes bekannt waren, hütete sich, ihn zu reizen, und schikanierte ihn nicht wie die anderen. Daher vergingen für Pankratow die Jahre in Schlüsselburg im allgemeinen ohne Zwischenfälle. Schon in unseren ersten Unterredungen erfuhr ich, daß Pankratow die Absicht habe, sich sehr ernst dem Studium zu widmen. Tatsächlich verging für ihn der lange Aufenthalt in der Festung nicht nutzlos, und bis zum Verlassen Schlüsselburgs hatte er sich ein so ansehnliches Wissen angeeignet, daß er in der Folge in Sibirien an wissenschaftlichen Expeditionen teilnehmen und geologische Forschungen, sogar Entdeckungen machen konnte. Durch die Amnestie im Jahre 1896 war ihm ein Drittel seiner Strafzeit erlassen worden, statt im Jahre 1904 verließ er uns bereits 1898. – Poliwanow kam 1882 nach dem Alexej-Vorwerk; zwei Jahre später wurde er nach Schlüsselburg überführt und 1902, nach 20 Jahren, zur Ansiedelung in das Akmolinsker {{[Akmolinsker]}} Gebiet abtransportiert. Von dort flüchtete Poliwanow ins Ausland; aber in Frankreich erschoß er sich unter rätselhaften Umständen während seiner Unterhandlungen mit {{Asew}} und, wie mir gesagt wurde, mitten in den Vorbereitungen zu einem terroristischen Attentat in Rußland unter Mitwirkung dieses Provokateurs. Poliwanow, Sohn reicher Gutsbesitzer, war einer der sympathischsten Menschen des revolutionären Lagers. Als Gymnasiast ging er im Jahre 1878 nach Serbien, um für dessen Unabhängigkeit zu kämpfen; 1882, bereits im »Volks-Willen«, unternahm er die Befreiung seines Kameraden Nowizki {{[Nowizki]}} aus dem Saratower Gefängnis. Bei diesem Versuch tötete er einen Polizisten. Der Befreiungsversuch mißlang: der vorbereitete Wagen mit den Insassen stürzte um; Nowizki, Poliwanow und ein dritter Genosse, Rajko {{[Rajko]}}, wurden von der verfolgenden Menge gepackt und furchtbar mißhandelt. Rajko erlag seinen Verwundungen. Nowizki und Poliwanow wurden zum Tode verurteilt; das Urteil wurde nach Eingabe eines Gnadengesuches in Zwangsarbeit umgewandelt. Poliwanow erklärte, er habe durch das Gnadengesuch das Los Nowizkis erleichtern wollen. »Ich glaubte, daß er leben wollte,« sagte er zu uns, »ohne mich hätte er keine Bittschrift eingereicht.« Im Alexej-Vorwerk hat Poliwanow so furchtbar gelitten, daß er dem Selbstmord nahe war. Er hinterließ eine künstlerisch sehr wertvolle, ursprünglich in der Schlüsselburg geschriebene, nach Verlassen der Festung aus dem Gedächtnis rekonstruierte Schilderung seiner Erlebnisse. Seine ungewöhnliche Nervosität, verbunden mit Anfällen von Schwermut, versetzte uns immer in große Unruhe. In solchen Perioden zog er sich von allen Kameraden zurück, verließ seine Zelle nicht mehr, sondern irrte in ihr ununterbrochen den ganzen Tag auf und nieder. Seine Stimmung war in solchen Momenten äußerst düster, voll Mißtrauen und Argwohn, was sonst seinem gütigen Charakter gar nicht eigen war. Poliwanows Leidenschaft waren Bücher; die verschlang er mit einer unglaublichen Schnelligkeit. Auf meine[[Besitz]] diesbezügliche Verwunderung antwortete er mir einst: »Ich sehe und lese gleichzeitig 15 Zeilen.« Ich habe einmal gelesen, daß über derartige Fähigkeiten nur noch der berühmte Dichter Zola verfügte. Und Poliwanow las nicht oberflächlich, wir hatten eine Unmenge von Beweisen dafür. So z. B. wiederholte er uns mit fast buchstäblicher Genauigkeit den Inhalt einer großen Nummer der Wochenausgabe der »Times«. Sein außerordentliches Gedächtnis erlaubte ihm, sich einen großen Fonds von Wissen in der Festung anzueignen. Hauptsächlich interessierten ihn die politische Geschichte und soziale Wissenschaften. Außer seinen Erinnerungen über das Alexej-Vorwerk hinterließ Poliwanow noch eine Erzählung aus dem Gefängnisleben. Beides zeigte ihn als bedeutendes literarisches Talent. In der Epoche unseres dichterischen Rausches dichtete Poliwanow in russischer und französischer Sprache. Poliwanow hatte unter uns viele Freunde; man konnte diesen klugen und gütigen Kameraden gar nicht anders als lieben; man fühlte in ihm etwas Ritterliches und gleichzeitig Einfaches, Kindliches. Sein Selbstmord in einem Moment, als die Freiheit ihm anscheinend doch die Möglichkeit breiter Tätigkeit und persönlicher Befriedigung eröffnet hatte, erschütterte uns alle, die wir mit Poliwanow die dunklen Jahre der Gefangenschaft durchlebt hatten, aufs tiefste. &&x &&am &&g1="Die_Werkstätten_und_die_Gärten" &&fa Die Werkstätten und die Gärten &&fe &&ax Im Jahre 1893 bis 94, als so viele Werkstätten eröffnet waren, daß jeder die Möglichkeit hatte, täglich zu arbeiten, spielte die physische Arbeit eine wichtige Rolle in unserem Leben. Jetzt kamen uns die Behörden in dieser Hinsicht entgegen. Es wurde eine bedeutende Summe zur Anschaffung von verschiedenartigstem Material ausgeworfen, und wir bestellten alles Nötige. Manche machten nur elegante Möbel, andere einfache Sachen, manche spezialisierten sich. Man arbeitete auf Bestellung des Kommandanten, der verschiedenen Angestellten oder zum eigenen Gebrauch. Unsere Schöpfungen zeichneten sich durch ihre Schönheit und Eleganz aus, obgleich außer den drei Arbeitern (Pankratow, Martynow und Antonow) niemand von uns früher je ein Werkzeug in der Hand gehabt hatte. Wir probierten verschiedene Methoden aus, machten kleine Erfindungen, ja schufen oft echte Meisterwerke, die uns ein großes ästhetisches Vergnügen verschafften. Besonders schöne Sachen wurden im Korridor zur Besichtigung ausgestellt; so ein Büfett mit Schnitzereien, an dem Antonow ein halbes Jahr gearbeitet hatte und wofür er 25 Rubel bekam, die er unter alle verteilte. Jahrelang drang Antonow auf die Errichtung einer Schmiede, um Schlosserarbeiten ausführen zu können. Endlich im Jahre 1900 wurde das »allerhöchst« gestattet. Die Kameraden errichteten selbst das dazu nötige Gebäude auf dem großen Hof der Zitadelle, durch den einst ich und die anderen in den Karzer gingen … Jetzt, seit dem Jahre 1893, arbeiteten in diesem Gebäude in zehn Zellen 15 bis 20 Menschen, die zuletzt während der Arbeit fast nicht mehr eingeschlossen wurden. Der große, früher so öde und unheimliche Korridor war jetzt angefüllt mit Brettern für die Tischlerarbeiten. In der Schlosserei ging die Arbeit flott vorwärts, und die Kameraden verfertigten Rasiermesser, Tischlerwerkzeug, Zuckerscheren, elegante kleine Sächelchen. Antonow behauptete, er sei imstande, sogar den Mechanismus für ein Motorboot und mir ein Klavier zu bauen. Die Gärtnerei pflegten wir besonders. Wir ließen uns Samen der verschiedenartigsten Gemüsearten und Blumen kommen. Wir zogen gegen 450 Blumenarten. Besonders tat sich darin Lukaschewitsch hervor, der schon seit der Kindheit ein großer Blumenkenner und Liebhaber der Botanik war. Wir veranstalteten sogar einmal eine Gemüseausstellung in einem der Gärten. Auf einem breiten, mit Tüchern dekorierten Gestell lagen Lukaschewitschs riesenhafter Kürbis, die gigantischen Zwiebeln Antonows, meine[[Besitz]] Erdbeeren, die Rosen Wasili Iwanows, die Tomaten Popows und anderes. Die Besucher waren die Gefangenen, der Kommandant und der Arzt. Lukaschewitsch gelang es, für diejenigen, die unter dem Mangel an Tabak litten, unter dem lateinischen Namen Nicotiana {{[Nicotiana]}} eine vorzügliche Tabaksorte einzuschmuggeln. Als die Pflanzen ausgewachsen waren, sammelten wir die Blätter und bereiteten Tabak, der anfangs heimlich, später offen geraucht wurde. Der Mangel an Streichhölzern veranlaßte uns, in bezug auf Erzeugung von Feuer alle Stadien durchzumachen, die die Menschheit einst durchwanderte. Die Gefängnisverwaltung zog es vor, die Sache zu legalisieren; 1896 während der Inspektion durch den Innenminister Goremykin {{[Goremykin]}} trat unser Arzt für die Genehmigung des Rauchens als Vorbeugungsmittel gegen Skorbut ein. In der Tat wurde der Tabak daraufhin zugelassen. Allmählich gelang es uns sogar, die für unseren Gemüsebau eingeräumte Fläche zu erweitern. Wir bekamen zu diesem Zweck von Hangart den großen Hof der alten Zitadelle mit jener schönen Wiese, die mich einst so entzückt hatte. Jetzt war der Platz, auf dem einst so viele Revolutionäre hingerichtet worden waren, mit großen Anlagen von Tabak, Tomaten, Gurken, Melonen usw. umgeben. Frolenko pflanzte Obstbäume und Beerensträucher. Als er Geld brauchte, um die notwendigen Ableger zu erhalten, bat er unsere Gemeinde um die Genehmigung, eine Bestellung privat übernehmen zu dürfen, um sich das notwendige Geld (10 Rubel) beschaffen zu können. Da wurde die »prinzipielle Frage« aufgerollt; ob das dem Geist des Kollektivismus nicht widerspreche. Nach längerem Für und Wider wurde bestimmt, daß Frolenko zwar eine Bestellung privat nicht übernehmen dürfe, das nötige Geld aber, wenn nötig auch mehr als die von ihm geforderten 10 Rubel, dem allgemeinen Fonds entnehmen könne. Dank den Werkstätten und der Gärtnerei verwandelte sich das Gefängnis allmählich in eine geschlossene Arbeitskommune. Die Arbeit ging hier so rege vonstatten, daß man unwillkürlich an einen Ameisenbau dachte. Die Mehrheit von uns hatte es satt, ziel- und systemlos zu lernen, sie hatte es satt, da sie keine Hoffnung hatte, die erworbenen Kenntnisse praktisch anzuwenden. Wir waren auch müde, immer an dasselbe zu denken, immer dieselben Schmerzen zu empfinden. Da wir keine Möglichkeit hatten, uns einer sozialen Tätigkeit zu widmen, fanden wir in der physischen Arbeit um so leichter eine Ablenkung, eine Möglichkeit, unsere Energie zu entladen, ein Gebiet, auf dem wir unsere Kräfte verwerten konnten. Wir stellten uns Ziele, wie z. B. die Verwandlung eines unfruchtbaren, steinigen Bodens in weichen, fruchtbaren, auf dem ein schöner Garten angelegt werden konnte. Manche Kameraden leisteten auf diesem Gebiet direkt Wunder … Herrliche Rosen aller Art im Garten W Iwanows; eine schöne Fontäne, deren Becken von Wasserpflanzen umgeben war: das Werk Lukaschewitschs und Noworusskis. Eine ähnliche Fontäne machte Noworusski in meinem Garten, wobei er noch die Wände meines Käfigs mit schönen grünen Schlingpflanzen bepflanzte, die im Frühjahr weiß blühten. Dieser grüne, lebendige Zaun, hinter dem die Gefängnismauer vollständig versteckt war, und die leise rieselnde Fontäne verwandelten jenen Raum, wo ich einst spazieren gegangen, jenen toten Raum, bis zur Unkenntlichkeit. Aber meine[[Besitz]] Gefängnisgenossen waren mit diesen Errungenschaften noch nicht zufrieden. Sie[[1]] konnten nicht gleichgültig ein Stückchen unbearbeiteten Bodens sehen, ohne sofort an seine Eroberung zu denken. So bekamen sie im Jahre 1898 oder 1899 nach lang andauernden Unterhandlungen mit der Verwaltung die Genehmigung, auch den Hof hinter dem alten Gefängnis, auf dem nur Gras und Brennesseln wuchsen, und der mit Spänen von unserer Tischlerarbeit vollgeschüttet war, zur Gartenarbeit auszunutzen. Es war eine ungeheure Arbeit, dieses Grundstück zu reinigen, umzugraben, die Steine zu beseitigen und an Stelle der Kieselsteine und allerlei Schuttes gute, fruchtbare Erde zu legen. Die Arbeit wurde gemacht, ohne daß ich den Arbeitsplatz besuchen durfte, denn die Kameraden wollten mir eine Überraschung bereiten. Als sie fertig war, riefen sie mich herbei. Ich kam, und das Gefühl, das mich ergriff, war so heftig, daß ein Tränenstrom unaufhaltsam aus meinen[[Besitz]] Augen brach. Vor[[Präposition]] mir lag ein echter, schöner Garten mit Sträuchern und Beeten. Allerlei Blumen, Flieder, Jasmin und eine wunderbare alte Eberesche hoben sich von der Umgebung ab. Ja, das alles war wie ein echter Garten, von dem anliegenden Grundstück durch ein selbstgemachtes, primitives Drahtnetz abgegrenzt. Ich stand im weichen Zwielicht des sich neigenden Tages, im Duft des Flieders. Es war so schön und so einsam. Vor[[Präposition]] mir der Garten, Blumen, Drahtzaun – und ringsum hohe Gefängnismauern. Die Woge eines unbestimmbaren Gefühls erfüllte meine[[Besitz]] Brust und entriß mir Tränen. Woher diese Tränen? Warum weinte ich? Ich sah keinen Grund zur Trauer. Als ich ›nach Hause‹ kam (so nannte ich meine[[Besitz]] Zelle) und ruhig wurde, begriff ich: dieser Garten, der durch die Mühe meiner Kameraden innerhalb der Festungsmauern entstanden war, mit seinen Sträuchern und Blumen, dem Zaun, den die Gefangenen so primitiv als »Spinngewebe« geflochten hatten – alles dies erinnerte mich an andere Gärten, andere Umzäunungen. In die Gefangenschaft mitgenommene Bilder erhoben sich aus den dunklen Tiefen des Gedächtnisses, wo sie vom Willen mit Gewalt zurückgedrängt worden waren. Diese Bilder waren begraben gewesen, tief im Gedächtnis versunken; – nun stiegen sie zur Oberfläche und protestierten mit Tränen dagegen, daß man sie für verstorben gehalten hatte. &&x &&am &&g1="Besuche_von_Würdenträgern" &&fa Besuche von Würdenträgern &&fe &&ax Im ersten Jahrzehnt besuchte uns jedes halbe Jahr irgendein hoher Beamter aus Petersburg. Es waren gewöhnlich Minister des Inneren, Direktoren der Polizeidepartements und verschiedene Generäle. So sind in den langen Jahren unserer Gefangenschaft eine ganze Reihe hochgestellter Persönlichkeiten, die einander im Staatsdienst ablösten, an uns vorübergezogen. Die erste derartige Persönlichkeit, die uns im Jahre 1885 besuchte, war der stellvertretende Innenminister und Gendarmeriechef Orschewski. Sein Besuch ist für mich mit folgender Erinnerung verbunden. Die nächste Zelle neben mir war leer, die zweitnächste bewohnte irgend jemand. Anfangs hörte man abends immer schwere Schritte: fünf vorwärts, fünf zurück! Ich riet hin und her, wer das sein könnte. Nach einigen Wochen verstummten die Schritte; zur Zeit des Spazierganges wurde die Tür der Zelle nicht mehr geöffnet: der Gefangene war erkrankt. Und Tag und Nacht hörte ich jetzt stets ein leises, fast ununterbrochenes Stöhnen, und diese Laute nahmen mir jegliche Ruhe: in meiner nächsten Nähe litt jemand. Wer ist es? Kenne ich ihn? Ich lauschte mit angehaltenem Atem auf jeden Laut, der im Korridor hörbar war, um den Gefangenen zu erkennen. Links die zweitnächste Zelle von mir bewohnte ein Sterbender. Das waren meine[[Besitz]] nächsten Nachbarn. Als daher Orschewski meine[[Besitz]] Zelle betrat und mich fragte, ob ich irgendwelche Beschwerden habe, bat ich, man möchte mich von den unnützen Qualen befreien, das Stöhnen der Kranken und Sterbenden ununterbrochen anzuhören. Dieses Stöhnen verfolge mich Tag und Nacht. Ob man die Kranken nicht etwas weiter von mir unterbringen könne. Orschewski hörte mich schweigend an und verließ ebenso schweigend meine[[Besitz]] Zelle. Die Kranken rechts und links von mir blieben nach wie vor in ihren Zellen. Auch die anderen an Orschewski gerichteten Beschwerden waren resultatlos. Wasili Iwanow beschwerte sich, daß die Gendarmen ihn auf dem Wege zum Karzer geschlagen hatten. Der General wandte sich um eine Bestätigung an den Arzt Sarkewitsch, auf dessen Zeugnis sich Iwanow berief. Dieser Feigling bestätigte die Beschwerde nicht, obgleich er selbst Iwanow nach den Mißhandlungen aus seiner Ohnmacht ins Leben zurückgerufen hatte. Infolgedessen hatte Orschewski für die Beschwerde nur ein Achselzucken. Und auf die Beschwerde eines tuberkulösen Kranken, daß sein abgezehrter Organismus die Arrestantenkost, Kohl und Grütze, nicht vertrage, erwiderte Orschewski lächelnd, daß Grütze eine vortreffliche Speise sei, die er selbst mit Vorliebe esse. In den ersten Jahren war es immer kalt. Es ist möglich, daß das Kältegefühl von der Blutarmut abhing, an der ich litt, jedenfalls mußte ich in der Zelle immer den Halbpelz tragen, den ich beim Spazierengehen anhatte. So war ich auch im Halbpelz, als im Herbst 1885 der Direktor des Polizeidepartements, Durnowo, mit seinem Gefolge meine[[Besitz]] Zelle betrat. Sein Gesicht glänzte vor Zufriedenheit. »Warum sind Sie[[1]] im Halbpelz?« wandte er sich an mich. »Mir ist kalt,« erwiderte ich. »Seltsam, ich finde nicht, daß es hier kalt ist,« entgegnete er. Seine Wangen glühten, der Geruch von Portwein ging von ihm aus. Man merkte, er hatte gut und reichhaltig beim Kommandanten gefrühstückt, in dessen Begleitung er dann seinen Rundgang machte: leicht begreiflich, daß ihm nicht kalt war. »Das Kälte- und Wärmegefühl ist ganz subjektiv,« erwiderte ich ihm trocken. … Noch einmal kam Durnowo zu mir, etwa zwei bis drei Jahre später. Er kam, wie immer, mit ganzem Gefolge, das aus dem Kommandanten, dem Inspektor und mehreren Gendarmerieoffizieren aus der Festung bestand. Das waren die üblichen Vorsichtsmaßregeln, die die hohen Würdenträger bei ihren Besuchen der Festung trafen. »Haben Sie[[1]] Beschwerde zu führen? Wie ist der Gesundheitszustand?« Immer die gleichen offiziellen Fragen. Darauf verließen sie sofort die Zelle. Und plötzlich öffnete sich die Tür noch einmal und Durnowo kam allein zurück. Ich stand in diesem Augenblick noch erregt vom Besuch, wie wir es nach jedem Eindringen in unsere Einsamkeit waren, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Schnellen Schrittes kam er auf mich zu, legte vertraulich die Hand auf meinen[[Besitz]] Arm, und mir freundlich in die Augen blickend sagte er leise: »Langweilen Sie[[1]] sich hier?« Die Augen verrieten mich wahrscheinlich, aber ich sagte: »Nein!« Die Hand, die auf meinem Arm gelegen, hob sich sofort und in ganz verändertem, offiziellem Tone fragte er, während er auf ein Bündel Gemüse zeigte, das auf dem Tisch lag: »Ist das aus dem Garten?« und verschwand dann sofort. Größeren Erfolg hatte Durnowo, der scheinbar große Lust hatte, mit jemand von den Schlüsselburgern zu plaudern, bei Lopatin, der mit ihm ein längeres Gespräch über die Lebensbedingungen in der Festung führte. Diese Herren taten sich keinen Zwang an, wenn es galt, einem Gefangenen eine schwere Nachricht zu überbringen. Nach etwa fünf Jahren seines Aufenthaltes in der Festung teilten sie Janowitsch den Tod von sieben nahen Verwandten mit. Einem anderen erzählte Durnowo, daß dessen Frau sich wieder verheiratet habe. Die übrigen Besucher der Festung bildeten eine bunte Galerie von Typen verschiedenartigsten Charakters. Es besuchte uns der grobe, herausfordernde Soldat, General von Wahl. In meiner Zelle frappierte diesen frommen Christen das Fehlen eines Heiligenbildes, und er fragte den Inspektor, warum keines da sei. »Die Gefangenen nehmen sie ab,« erwiderte er. Ich wollte keinen Streit heraufbeschwören und verschwieg, daß die Gendarmen sie, da wir nicht beteten, abgenommen und höchstwahrscheinlich zu sich nach Hause genommen hatten. Dreimal war bei uns General Schebeko {{[Schebeko]}}. Es war im Jahre 1887, ich hatte eine ernste Beschwerde. Kurz vorher hatten wir Papier und Bleistift bekommen, und ich hatte ein winziges Zettelchen mit ein paar freundlichen Worten meinem Freunde und Kameraden Juri Bogdanowitsch geschrieben. Ich legte den Zettel in den Einband des Buches, den ich aufgetrennt und später mit Schwarzbrot wieder zugeklebt hatte. Das erstemal gelang es uns, und dadurch ermutigt, versuchte ich es noch einmal. Doch dieses Mal mißlang es. Die Gendarmen fanden den Zettel. Der Inspektor Sokolow stürzte vor Wut bebend in meine[[Besitz]] Zelle und schrie mich roh an: »Man behandelt dich menschlich, du verstehst es aber nicht zu schätzen. Zettel willst du schreiben, ich werde dir was!« Als nun Schebeko bei seinem Besuch mich fragte, ob ich mich über etwas zu beschweren habe, erklärte ich, daß, falls Sokolow uns nicht anders behandeln wolle, ich mich zur Wehr setzen werde. Seine grobe Art und Weise, mit uns umzugehen, könnten wir uns nicht mehr gefallen lassen. Darauf erwiderte mir Schebeko mit teilnahmsvoller Stimme: »Sie[[1]] haben das Unglück gehabt, in dieses Gefängnis zu geraten; jeder Widerstand kann ihre Lage nur verschlimmern.« Es scheint, daß nur ich das Glück hatte, von Schebeko so milde behandelt zu werden. Denn in der Zelle Schebalins fragte er den Aufseher: »Was ist das für eine freche Fratze?« Auf eine Beschwerde Trigonis erwiderte er mit Schimpfereien über die Ansprüche der Leute, denen alle Rechte aberkannt seien, und empfahl beim Weggehen dem Aufseher: »Ruten, Herr Inspektor, Ruten!« Ähnlich sprach er in der Zelle eines anderen Gefangenen. Ludmila Wolkenstein schalt er wegen ihres widerspenstigen Benehmens und schloß mit der Drohung: »Die Gefängnisordnung sieht die körperliche Züchtigung vor.« Wir beschlossen, ihn bei seinem nächsten Besuch zu boykottieren und seine Fragen nicht zu beantworten. Ein oder anderthalb Jahre später erschien er wieder in Schlüsselburg. Er ging zuerst zu Ludmila Wolkenstein. »Ihre Mutter,« begann er, allem Anschein nach hatte er ihr etwas über ihre Mutter mitzuteilen. Es war die erste Nachricht, die Ludmila über ihre Mutter bekommen sollte. Aber sie unterbrach ihn: »Von Ihnen will ich gar nichts hören, sogar über meine[[Besitz]] Mutter nicht.« Schebeko verließ die Festung, ohne jemand zu besuchen. Er war allem Anschein nach über unseren Beschluß durch die Gendarmen unterrichtet worden. Der Besuch Swiatopolk-Mirskis {{[Swiatopolk-Mirskis]}} ist in meiner Erinnerung mit folgender charakteristischen Episode verknüpft. Auf Sergej Iwanows Bitte erteilte uns Swiatopolk-Mirski die Erlaubnis, die Erzeugnisse unserer Arbeiten an unsere Verwandten zu schicken. Jeder von uns wollte sein Kunstwerk senden. Auch ich verfertigte für meine[[Besitz]] Mutter eine wunderschöne botanische Sammlung von Algen und Moosen und ein kleines Kästchen aus Nußbaum mit den Initialen meiner Mutter. Aber meine[[Besitz]] Verwandten haben nichts davon erhalten. Man erklärte ihnen im Polizeidepartement, daß man nicht wolle, daß diese Sachen zu »Reliquien« würden. &&x &&am &&g1="Bücher_und_Zeitschriften" &&fa Bücher und Zeitschriften &&fe &&ax Unsere Gefängnisbibliothek war in den ersten Jahren sehr arm. Als wir um Anschaffung von neuen Büchern baten, antwortete man uns höhnisch, es sei kein Geld dazu da. Belletristik gab man uns auch keine, da nach den Worten eines unserer hohen »Besucher« man uns »nicht aufregen« wollte. Aber allmählich, insbesondere dank der Beharrlichkeit Morosows, bekamen wir die Möglichkeit, Neuanschaffungen zu machen. Seit 1895 konnten wir das selbstverdiente Geld für diesen Zweck verwenden. Die Liste der anzuschaffenden Bücher unterlag selbstverständlich der Zensur. Dabei ging es nicht ohne kuriose Zwischenfälle ab. Einmal verbot man uns ein agronomisches Buch, ein anderes Mal eine Darstellung der soziologischen Auffassungen Spencers. Später verbot man uns Gorki und Tschechow {{[Tschechow]}}. Im Jahre 1896, nach dem Besuch Goremykins, beschloß das Polizeidepartement, uns jährlich einen Betrag von 140 Rubeln zur Ergänzung der Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Wie sollten wir Achtundzwanzig die Bücher zum Einkauf wählen? Die Bestimmung der anzuschaffenden Bücher auf Grund einer Stimmenmehrheit trug die Gefahr in sich, daß individuelle Bedürfnisse solcher Genossen wie Lukaschewitsch, Morosow, Janowitsch nicht genügend berücksichtigt würden. Wir entschieden uns, daß jeder beliebig über seinen Teil, also fünf Rubel, verfügen dürfte, im übrigen konnte er sich mit anderen verständigen, um gemeinsam die benötigten Werke anzuschaffen. Wir abonnierten kollektiv die deutsche »Naturwissenschaftliche Wochenschrift«, die englische Zeitschrift »{{Knowledge}}« und andere. Wir alle interessierten uns für wissenschaftliche Neuigkeiten. Das ganze Gefängnis war durch die Mitteilungen über das Radium und Helium aufgewühlt. Die Frage, ob der Äther existiere oder nicht, beschäftigte uns sehr; unsere beiden Naturwissenschaftler Morosow und Lukaschewitsch gingen in dieser Frage auseinander. Mit Enthusiasmus nahmen wir die ersten Mitteilungen über das Fliegen auf. Unsere Wächter-Gendarmen waren durch unsere Gespräche über dieses Thema sehr beunruhigt und befürchteten, wir wären im Begriff, aus der Festung zu fliegen. Von allgemeinen Zeitschriften bekamen wir »{{Russkoje Bogatstwo}}«, »{{Mir Boschi}}« und »{{Russkaja Mysl}}«; alles ein Jahr nach dem Erscheinen und meistens, nachdem man die »Innerpolitische Übersicht« beseitigt hatte. Nur einmal gelang es mir, den »{{Westnik Jewropy}}« (Europabote) für das laufende Jahr zu bekommen Die erste Zeitschrift stand den Narodniki, die zweite den Marxisten, die dritte den Liberalen, die letztere den Liberal-Konservativen nahe. Von Zeit zu Zeit bekamen wir einige andere Blätter. So erfuhren wir 1900 und 1901 vom Erwachen Rußlands, von den Studentenunruhen, Demonstrationen usw.. Von Bedeutung für unser geistiges Leben waren zwei Zeitschriften »{{Chosjain}}« (Wirt), ein Organ der Landwirte, und der »{{Westnik Finansow}}« (Finanzbote), ein Organ, das der Verteidigung der Finanz- und Handelspolitik Wittes gewidmet war; das letztere wurde uns regelmäßig vom Polizeidepartement selbst geliefert. Aus diesen beiden Organen schöpften wir unser ganzes Wissen über die ökonomischen Probleme und die Entwicklung Rußlands. Wir interessierten uns glühend für diese Fragen, und heiße Debatten setzten ein; wenn auch der Mehrheit von uns die Interessen der Landwirtschaft näher waren, so gab es doch auch unter uns Anhänger der Politik Wittes. Sensation rief eine uns vom Kommandanten zum Einbinden gegebene Zeitschrift »{{Nowoje Slowo}}« Marxistisch (Neues Wort) hervor. Seit 15 Jahren, seitdem wir aus dem öffentlichen Leben ausgeschieden waren, hatten wir nichts Neues gehört. Jetzt, mit einemmal, brach über uns wie eine Lawine so viel Neues aus den Blättern dieser Zeitschrift herein. Eine neue Ideologie erklärte den uns teuren Grundsätzen der Narodniki den Kampf. Die neuen Ideen der im Entstehen begriffenen russischen Sozialdemokratie wirkten auf uns wie eine Bombe. Zu unserer Zeit war sogar die Möglichkeit einer Entwicklung des Kapitalismus in Rußland in Zweifel gezogen worden, und nun stand plötzlich vor uns ein Gegner, der in scharfer, kategorischer Form an den uns teuren Ideen, an geliebten Schriftstellern Kritik übte, talentvoll, ja sogar glänzend, neue Ideen verkündete. Dort draußen hieß es: der Bauer muß erst im Fabrikkessel kochen. In unseren Köpfen brauste es. Vieles traf uns schmerzlich, manches verletzte und kränkte, im ganzen aber war der Eindruck erschütternd, weil wir unsere Begriffe und Überzeugungen angegriffen sahen. Alsbald bildeten sich in unserem Kreise zwei Lager. Lukaschewitsch und Noworusski, diese Terroristen des Jahres 1887, die einen neuen 1. März vorzubereiten gedachten, erklärten, sie seien Sozialdemokraten, wenn sie sich auch an die Taktik des »Volks-Willens« hielten. Auch Schebalin, Janowitsch und Morosow schlossen sich ihnen an. Die übrigen, die alten Mitglieder von »Land und Freiheit« und des »Volks-Willens« blieben ihren Anschauungen treu. Heiße Debatten setzten ein, wahrscheinlich nicht weniger heiß als draußen in der Freiheit. Sie[[1]] nahmen manchmal so scharfe Formen an, daß ich mich einst gezwungen sah, die hochgehenden Wellen der Polemik dadurch zu besänftigen, daß ich erklärte, unter den Bedingungen, in welchen wir lebten, sei der Frieden wichtiger als theoretische Streitigkeiten. Als Karpowitsch {{[Karpowitsch]}} im Jahre 1901 zu uns kam, fand er, daß wir alle durch den Zeitgeist berührt seien. Nur Michael Popow stehe fest wie eine Säule zur Lehre der Narodniki. Je reicher wir an Büchern, insbesondere an wissenschaftlichen Lehrmitteln wurden, desto wichtiger wurde für uns das Papier, das wir seit dem Jahre 1887 bekamen. Jetzt war es den Kameraden, die dieses oder jenes Fach speziell pflegten, möglich, das nötige wissenschaftliche Material zu sammeln und auf dem selbstgewählten Gebiete schöpferisch zu arbeiten. In Schlüsselburg schuf Morosow eines seiner wichtigsten Werke: »Die Struktur der Materie«, das in so hinreißender Sprache geschrieben ist, daß es ein wahrer Genuß ist, es zu lesen. Eine Unmenge von Aufsätzen aus dem Gebiete der Chemie, Physik und Astronomie nahm er beim Verlassen der Festung mit sich. Welch ein reiches Material über Statistik Janowitsch mitgenommen hat, habe ich schon erwähnt. Lukaschewitsch, der unter uns über das reichste Wissen auf dem Gebiete der Naturwissenschaften verfügte, arbeitete an einem umfangreichen Werk: »Elementargrundlagen der wissenschaftlichen Philosophie«; beim Verlassen der Festung hatte er davon vier Bände und Material zu weiteren Bänden fertig. Für den Teil dieser Arbeit »Das organische Leben der Erde«, der später im Druck erschien, wurde er von der geographischen Gesellschaft und von der Akademie der Wissenschaften prämiert. Während die genannten Kameraden wissenschaftlich arbeiteten, schufen die übrigen literarisch. Ich erwähnte schon die schönen Memoiren Poliwanows über das Alexej-Vorwerk; Frolenko beschrieb seine Kindheit; Popow bearbeitete seine in den Karabergwerken geschriebenen Erinnerungen und schrieb kleine Erzählungen, in denen er verschiedene Bauerntypen schilderte; Sergej Iwanow schrieb Erzählungen aus dem Leben in Sibirien. Jurkowski seinen Roman »Das Nest der Terroristen«; Morosow erfreute uns mit der schönen Skizze »Die Morgenröte meines Lebens«, in der die Naivität des Kindes sich mit der Romantik des Jünglings vereinte. In einer Polemik gegen einen Artikel von mir, worin ich den hauptsächlichen geistigen Einfluß auf die Generation der siebziger Jahre der Literatur zuschrieb, gab Noworusski eine interessante Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse, die sich nach der Bauernbefreiung herausgebildet und die revolutionäre Bewegung hervorgerufen hatten. Solange man sich der Gesundheit, des Lichts erfreut, schätzt man sie wenig; wie schätzten wir dagegen das Papier, das man sonst im Leben immer zur Verfügung hat! Nur diejenigen, die im Gefängnis gewesen sind, können fassen, was für den Gefangenen der Mangel an Papier bedeutet. Unser Leben in Schlüsselburg war so eintönig, daß, was die Kameraden gaben – ein Gedicht, das erheiterte, oder eine ernste Arbeit, die neue Gedanken anregte – hochwillkommen war. Aber ohne Papier und Feder wäre es unmöglich gewesen, das alles festzuhalten. Unser Leben war so unsäglich arm, so arm in jeder Beziehung. Als Lukaschewitsch seine ersten geologischen Karten zeichnete, verwandte er als schwarze Farbe Lampenruß; um blaue zu haben, kratzte er den blauen Streifen von der Wand seiner Zelle, und als rote benutzte er das eigene Blut. &&x &&am &&g1="Unser_Benjamin" &&fa Unser Benjamin &&fe &&ax Während einer Überschwemmung, erzählt Bret Harte {{[Bret Harte]}} in einer seiner Skizzen, schwemmte eine Welle eine Frau mit einem Kinde in das Lager der Goldgräber von Klondyke. Die Mutter stirbt bald, das hilflose Kind aber wird für die Männer, die auf der Suche nach Gold und Abenteuern sind, zu einer unerschöpflichen Quelle des Glücks und der Freude. Ähnliches geschah uns, als Karpowitsch in die Festung kam. Im Übermaß der Zärtlichkeit tauften wir ihn sogleich unseren Benjamin. Im Februar 1901 kam Karpowitsch aus Berlin nach Petersburg, zwei Tage später begab er sich zur Audienz des Ministers für Volksaufklärung Bogolepow {{[Bogolepow]}}, schoß auf ihn und verwundete ihn am Halse. Unter Bogolepow wurde das nach den Studentenunruhen im Jahre 1899 erlassene Gesetz zum erstenmal angewandt, demzufolge Studenten wegen Teilnahme an den Unruhen unter die Soldaten gesteckt wurden. 183 Studenten der Kiewer und 27 der Petersburger Universität wurden davon betroffen. Diese Maßnahmen, die eine Anzahl Selbstmorde unter den in die Kasernen gesteckten Studenten herbeiführten, rief unter der Intelligenz und der studierenden Jugend die größte Empörung hervor. Sie[[1]] machte auch einen ungeheuren Eindruck auf Karpowitsch, der bis zu seiner Abreise nach Berlin sich an den Studentenunruhen beteiligt hatte und deshalb zweimal aus der Universität ausgeschlossen worden war. Karpowitsch beschloß, den für die barbarischen Maßnahmen verantwortlichen Minister mit der Waffe zu strafen. Er gehörte keiner revolutionären Organisation an, faßte seinen Beschluß ganz allein und machte sich ohne irgendwelche Mithilfe an die Ausführung seines Vorhabens. Bogolepow starb an der erhaltenen Wunde; Karpowitsch aber wurde im März 1901 zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Schlüsselburg gebracht. Karpowitschs Tat war ein im Interesse der gesamten studierenden Jugend ausgeführter Verteidigungsakt. In der Tat, nach seinem Schuß hörte man auf, Studenten unter die Soldaten zu stecken. Durch seine Tat erfuhr die Jugend eine große Belebung, und sie nannte ihn ihren »mutigen Falken«. Schon ein Jahr später trat, wieder aus den Reihen der Jugend, Balmaschow {{[Balmaschow]}} hervor und beging, diesmal schon im Namen der Partei der Sozial-Revolutionäre, ein ähnliches Attentat auf den Innenminister Sipjagin {{[Sipjagin]}}. Seit den Prozessen der Jahre 1887{{/}}88 brachte man 13 Jahre lang niemanden zu uns in die Festung. Wir waren nur noch ein kleines Häuflein geblieben, im ganzen 13 Menschen, darunter neun zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In diesem engen Kreise sollten wir unser Leben ohne Zufluß neuer Menschen verbringen, ewig in demselben Ideenkreise, ohne irgendwelchen frischen, freien Atemzug. Im grauen Gefängnisleben schwanden die Hoffnungen, erloschen die Erwartungen, verblaßten und verwischten sich sogar die Erinnerungen. Wir erwarteten irgendwelche Veränderungen, neue junge Kameraden. Alles vergeblich … Das war unsere allgemeine Stimmung, als Ende März 1901 Antonow uns mitteilte, daß ein »Neuer« gebracht und in die Kanzlei geführt worden sei. Als wir spazierengingen, entstand plötzlich unter den Gendarmen eine Bewegung: sie traten an jeden von uns heran und erklärten, daß diejenigen, die in ihre Zelle oder in die Werkstätten gehen wollten, das sogleich tun müßten. Später würde man niemand den Spaziergang unterbrechen lassen. Wir errieten, daß man den neuen Gefangenen durch den Festungshof ins Gefängnis führen werde, und viele Kameraden eilten in ihre Zellen in der Hoffnung, durch das Fenster den neuen Gefangenen zu sehen. Ich blieb zurück; mir war wie beim Begräbnis eines nahen teuren Menschen zumute. Man begrub lebendig ein junges Leben, voll unverbrauchter Energie und noch unversiegter Kraft. So betraten auch wir vor 17 Jahren diese Festung, um auf diesem langen Weg das Bewußtsein eines nutzlosen Lebens mit uns herumzuschleppen. Dieses Bewußtsein wird auch er, unser neuer Kamerad, mit sich tragen müssen … &&x Nach Antonows Bericht betrat er die Festung hochaufgerichtet und energischen Schrittes. Er war nicht gefesselt, wie wir es gewesen; er trug auch nicht wie wir den Zuchthäuslerkittel mit dem gelben Flecken auf dem Rücken; lächelnd schwenkte er den Hut zum Gruße in der Richtung der Gefängnisfenster. Karpowitschs Erscheinen rief unter uns große Erregung hervor; wir von der alten Generation sollten nun einem Vertreter der Jugend von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, der herangewachsen und gereift war in einer Zeit, als wir schon aus dem Leben geschieden waren. Wie wird unser Zusammentreffen sein? Was werden wir aneinander finden? Werden wir uns verstehen? Was wird er in die Öde des Gefängnisses bringen? Welche Nachrichten, welche Stimmungen? Wer wird uns gegenübertreten? Ein Sohn oder ein Fremder? Im Jahre 1901 war die Gefängnisordnung nicht mehr dieselbe wie im Jahre 1884. Karpowitsch, den man neben uns untergebracht hatte, von uns zu isolieren, war undenkbar. Durch Klopfen und kurze Gespräche im Vorübergehen an der Tür erfuhren wir, was draußen in der Welt vor sich gehe. Da uns das nicht genügte, so baten wir ihn, alles ausführlich aufzuschreiben und in der Erde, wo er spazierengehe, zu vergraben. Später gruben wir es aus und lasen es alle nacheinander. Wir brannten darauf, über alles eingehend zu hören, sowohl über alle Einzelheiten des inneren Lebens in Rußland wie über die Ereignisse und Verhältnisse in Westeuropa. Karpowitsch war dieser Aufgabe vollkommen gewachsen, da er als Student ein reges geistiges Leben geführt und später einige Zeit im Ausland gelebt hatte. Seine frohen Berichte belebten unsere Seelen. Seinen Worten nach war in Rußland alles in Bewegung: die Arbeiterklasse, von deren Existenz man in den achtziger Jahren noch kaum etwas gespürt hatte, bestand ähnlich dem westeuropäischen Proletariat schon als selbständige Klasse. Sie[[1]] trat als öffentlicher Faktor auf, sie forderte Verbesserung ihrer ökonomischen Lage, organisierte Streiks, die Zehntausende von Arbeitern mitrissen, und demonstrierte ihre Kraft auf der Straße. Die Hochschuljugend, die in den siebziger Jahren nur lose miteinander verbunden war, war jetzt in ganz Rußland organisiert und beseelt von einem neuen Geist der Revolte, lehnte sich gegen das Polizeiregiment des Staates auf, der die Universitäten in seinen Fesseln hielt. Die Welle der Studentenbewegungen ergoß sich ununterbrochen über das russische Land und endigte mit vielen hundert Verhaftungen und Tausenden von Verbannungen. In jeder Stadt bestanden jetzt illegale Druckereien, die revolutionäre Blätter, Aufrufe und Flugblätter herausgaben. Nach jedem Hereinfall setzte die Arbeit mit erneuter Energie und Tatkraft ein. »Nach fünf Jahren haben wir die Revolution,« erklärte uns Karpowitsch. Er irrte sich – sie kam schon nach vier Jahren. Aber wir, die wir unter dem lautlosen Verhalten der Volksmassen und dem Schweigen aller sozialen Elemente ins Gefängnis gekommen waren, wußten nicht, ob wir einer solchen Voraussage glauben durften. Wir trauten uns nicht, es zu glauben. Zu unserer Zeit war alles außer uns regungslos geblieben. Alles hatte geschlafen. Waren sie tatsächlich erwacht? Aber warum blieben wir dann allein in unserem lebendigen Grabe? Wenn tatsächlich draußen der Kampf vor sich geht und das Volk sich auf dem Schlachtfeld schlägt, warum sehen wir dann keine neuen Genossen? Warum werden hier nach Schlüsselburg keine neuen Gefangenen geschickt? Platz war ja genug da. Unsere hier verstorbenen Kameraden haben ja Platz gemacht. Und doch kommt niemand an ihre Stelle. Ob Karpowitsch nicht übertreibt? Ob er sich nicht von seiner Begeisterung hinreißen läßt? Das wäre schließlich begreiflich gewesen bei einem Menschen, der soeben vom Kampf losgerissen worden war. Unsere Seelen waren bis aufs tiefste erschüttert. Unser Gefängnisleben war durch seine Ankunft bis auf den Grund aufgewühlt. Wie leicht auch die Gefängnisbedingungen, die Karpowitsch zu ertragen hatte, im Vergleich zu denen waren, unter denen wir ein Jahrzehnt lang zu leben gehabt hatten, so wollte er sich doch mit den Einschränkungen, die ihm auferlegt wurden, nicht abfinden. Er durfte weder in den Werkstätten arbeiten, noch in Begleitung eines Kameraden spazierengehen. Karpowitsch begann einen systematischen Kampf gegen diese Einschränkungen. Wir wußten, daß daran nichts zu ändern war, weil das Regime aus Petersburg vorgeschrieben wurde, und es in dieser Hinsicht unmöglich war, irgendwelche Änderungen durch einen Druck auf den Inspektor zu erzwingen. Aber Karpowitsch versuchte trotzdem durch einen Hungerstreik Änderungen des gegen ihn angewandten Regimes zu erkämpfen. Das erstemal vermochte ihn der aus Petersburg gerufene Militärarzt durch betrügerische Versprechungen dazu zu bewegen, den Hungerstreik aufzugeben. Zum zweitenmal, als er hungerte, weil man uns verboten hatte, während des Spazierganges an der Tür seines »Käfigs« stehen zu bleiben und mit ihm zu sprechen, schlossen wir uns seinem Protest in der Form an, daß wir uns weigerten, spazieren zu gehen. Nach 5 bis 6 Tagen begann uns das Schicksal Karpowitschs sehr zu beunruhigen. Gemäß der Bitte der Kameraden trat ich mit dem Kommandanten in Verhandlungen ein. Der Kommandant lehnte es aber ganz entschieden ab, Unterhaltungen mit Karpowitsch zu gestatten. Da fragte ich ihn: »Und wenn wir trotz des Verbotes mit ihm sprechen werden, wird man dann etwa physische Gewalt gegen uns anwenden?« »Nein,« erwiderte der Kommandant. Da nahmen wir unsere Spaziergänge wieder auf. Ich blieb neben Karpowitschs Käfig stehen und unterhielt mich mit ihm stundenlang. Es blieb dabei. Nach zwei Jahren wurden die Beschränkungen, die ihn betrafen, überhaupt aufgehoben; er wurde nun gleichberechtigtes Mitglied unserer Gefängnisgemeinde. Karpowitsch war nicht einer jener Menschen, die sich in rein intellektueller Arbeit verschließen und ihr ausschließlich leben können. Er widmete sich mit Begeisterung physischer Arbeit, anfangs in der Tischlerei, dann in der Schmiede. Er wurde der unzertrennlichste Kamerad Antonows; unter dessen Leitung wurde er zu einem geschickten Schlosser, und sie stellten zusammen allerlei schöne Sachen her. Wir alten Schlüsselburger, die um zehn bis zwanzig Jahre älter als Karpowitsch waren, verhielten uns zu ihm wie zu einem Sohne. Wir hungerten nach neuen Menschen und liebten ihn zärtlich. Jener jugendliche Übermut, mit dem unser Benjamin, ohne mit der Wimper zu zucken, wie eine Katze auf den Zaun kletterte und in den anliegenden Käfig herübersprang oder auf ähnliche Weise die Gefängnisdisziplin durchbrach, hatte für uns etwas Bestrickendes. Andererseits freuten wir uns, daß zwischen uns alten Revolutionären und ihm, einem Vertreter des jungen Geschlechts, jener Abgrund gegenseitigen Nichtverstehens nicht bestand, dem zu begegnen wir bei der ersten Nachricht von der Ankunft eines neuen Kameraden befürchtet hatten. &&x &&am &&g1="Nach_achtzehn_Jahren" &&fa Nach achtzehn Jahren &&fe &&ax Nach wie vor standen die weißen Mauern der Festung mit den eckigen Türmen, und nach wie vor waren die Festungstore geschlossen. Aber im Innern des Gefängnisses hatte sich alles verändert. Von der einst so zahlreichen »Bevölkerung« war der größte Teil an Skorbut oder Tuberkulose gestorben; einige hatten ihre Strafzeit vollendet, manche waren begnadigt und drei Geisteskranke 1896 in ein Irrenhaus überführt worden. Für die letzten dreizehn bestand nach wie vor dasselbe Personal. Auf jeden Gefangenen kamen etwa 20 bis 25 Wächter, und der Unterhalt jedes Gefangenen kostete nicht weniger als 7000 Rubel jährlich, was zu jener Zeit eine bedeutende Summe war. Die geladenen Revolver hingen nach wie vor im Korridor in den Schränken, aber die strengen Zeiten gehörten der Vergangenheit an. In manchen Zellen hingen noch die »Instruktionen« aus dem Jahre 1884 an den Wänden. Aber tatsächlich war keine Rede mehr davon. Gemeinsamer Spaziergang, Benutzung der Gärten und Werkstätten wurden nicht mehr als Belohnung für »gutes Benehmen« hingestellt. Alle diese »Vergünstigungen« kamen schon lange allen zugute, jede Trennung in Kategorien war verschwunden. Nach unserem Hungerstreik um die Bücher verbesserte sich auch unsere leibliche Kost. Wir bekamen Tee[[Variante1]] und Zucker zu unserer eigenen Verfügung, anstatt des schwarzen weißes Brot, und die zum täglichen Unterhalt bestimmten 10 Kopeken wurden auf 23 erhöht. Seit jener Zeit hörte auch das langsame Aussterben an Unterernährung auf, und die Gesundheit aller hob sich bedeutend. Der Spaziergang von 40 Minuten wurde mit der Zeit immer mehr ausgedehnt. Jetzt konnten wir fast den ganzen Tag draußen sein und gingen, wann wir wollten, vom Spaziergang in die Werkstätten. Eine Zeitlang führte man uns sogar nach dem Abendessen noch hinaus. Welch eine Freude war das für uns, die schon längst vergessen hatten, was ein Sommerabend ist! Wir gingen nur für eine halbe Stunde hinaus. Aber welch wunderbare Stunden waren das! Die Luft, so kühl und feucht vom nahen Fluß, umfächelte weich das Gesicht, und die Brust atmete leicht … Der Himmel voller Sterne; im Westen ging die Sonne glutvoll unter; die Umrisse des Gefängnisses, der steinernen Mauern wurden weniger scharf, verschwammen im Zwielicht und verletzten das Auge nicht so wie bei grellem Tageslicht. Längst vergessene Empfindungen erwachten, alles ringsum war so ungewöhnlich. Auch Licht hatten wir jetzt genug. Licht und Luft. Der obere Teil der Fenster in unseren Zellen konnte immer geöffnet bleiben. Wie oft lauschte ich jetzt dem melodischen Rauschen des Wellenschlags, und mir schien dann, als sähe ich den Schaum der Wellen an den Festungsmauern zerschellen … Die Eintönigkeit jener Tage, die man nur mit Lesen hatte ausfüllen können, war zu Ende. Man sah durch das Gitter die Gesichter der Kameraden, hörte ihre Stimmen, die Genossen arbeiteten draußen gemeinsam, und geistige Arbeit wechselte mit physischer ab. Von 160 bis 170 Bänden war unsere Bibliothek im Laufe der 18 Jahre auf 2000 angewachsen, zum Teil wissenschaftlichen Inhalts, zum Teil schöne Literatur. Die Beziehungen der Gefängnisverwaltung zu uns waren, abgesehen von den Konflikten Martynows und Lagowskis mit dem Inspektor anfangs der neunziger Jahre, korrekt. Es schien, als hätte die hohe Regierung in Petersburg vergessen, daß nur 40 Kilometer von der Hauptstadt wichtige Staatsgefangene in Haft gehalten wurden. Sie[[1]] hatte auch ohne sie genug zu tun. Die machtvolle Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung, die ununterbrochenen Studentenunruhen, das Auftreten des industriellen Proletariats, das seine Existenz laut verkündete, nahm die ganze Aufmerksamkeit der Regierung in Anspruch. Die Revolution trat hinaus auf die Straße, und rote Fahnen flatterten auf den Plätzen Rußlands. Wer sollte da an das »Volks-Wille«-Häuflein der achtziger Jahre denken! Fast ein Vierteljahrhundert war seit dem 1. März vergangen. Die Besuche der Festung durch hohe Würdenträger hörten auf. Die Gendarmen aus dem Alexej-Vorwerk verließen nacheinander den Dienst, wurden pensioniert, und die noch übriggebliebenen wurden grau, taub, hatten sich an die Gefangenen gewöhnt und … wurden weicher. Einst standen sie mit starren Gesichtern beim Rundgang des Inspektors Sokolow durch die Zellen. Niemals ließ sie der Inspektor mit uns allein. Jetzt geschah es bisweilen, daß sich ihre Zungen lösten. Sie[[1]] fürchteten nicht mehr die schwere Verantwortung, sie fürchteten weder Empörung noch die Möglichkeit einer Flucht: die in den Schränken aufbewahrten Revolver waren wahrscheinlich verrostet. Wenn aber die hohe Regierung uns vergessen hatte, welchen Grund sollte die Gefängnisverwaltung haben, uns zu beengen? Die Zügel wurden locker; nur durfte nichts Außergewöhnliches geschehen, das die Petersburger Behörden aufgescheucht hätte, das einen Verweis hätte hervorrufen können. Im Gefängnis, im Umkreis unserer Mauern waren wir die Herren der Situation. Man konnte oft ein Gewirr von Stimmen, Zank und Streit hören, aber sie kamen nicht von der Gefängnisverwaltung, sondern von diesen oder jenen Gefangenen, die besonders erregt oder unbeherrscht waren. Nicht der Inspektor schrie, – man schrie ihn an. In früheren Zeiten bereiteten mir diese Zusammenstöße Entsetzen. Es ist bekannt, wie sie unter Sokolow endigten: Karzer, Zwangsjacke, grausame Mißhandlungen … Jetzt wußte man im voraus, daß diesen Auseinandersetzungen nichts folgen würde … Im allgemeinen herrschte Stille … Alles, was man mit seinen eigenen Kräften und der Kraft der Zeit innerhalb des Gefängnisses erringen konnte, war erobert und erreicht. Der Stachel der durchlebten Leiden verlor seine Spitze. Wir waren Menschen ähnlich, die Schiffbruch erlitten und die der Sturm auf eine unbewohnte Insel geschleudert hat, verloren im unermeßlichen Ozean, ohne Hoffnung, je wieder zur übrigen Menschheit zurückzukehren, denen nichts anderes übrigblieb, als ihre geistigen Kräfte, soweit es ging, aufrechtzuerhalten und ihr friedliches Arbeitsfeld zu bearbeiten. … Der Schleier der Vergangenheit senkte sich über uns. Die lange, schwere Periode der Anpassung war vorbei, wer nicht gestorben, nicht durch Selbstmord zugrunde gegangen, nicht wahnsinnig geworden war, hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden. Das Leid, der Schmerz war überwunden. Es schien unglaublich, daß draußen noch jemand unserer gedachte. Wir konnten es nicht glauben, daß unsere Namen noch in der Erinnerung jener lebten, die nach uns gekommen, die uns persönlich nicht gekannt hatten. &&x &&am &&g1="Die_Achselstücke" &&fa Die Achselstücke &&fe &&ax In unsere Ruhe brach 1902 plötzlich ein Unwetter herein, das unsere, wie es schien, so festen Errungenschaften zertrümmerte wie ein armseliges Spielzeug. Am 2. März, wir waren um 5 Uhr vom Spaziergang zurückgekehrt, die Zellen waren verschlossen, hörte ich plötzlich den Lärm sich nacheinander öffnender Türen, was mir sagte, daß irgend etwas Außergewöhnliches geschehen sei. Der Riegel knarrte endlich auch an meiner Tür, und der Inspektor, begleitet von zwei Gendarmen, betrat die Kammer. »Der Kommandant ist unzufrieden mit der Unordnung im Gefängnis,« sagte er mit wichtiger Miene. »Das muß ein Ende nehmen, und vom heutigen Tage an treten die Instruktionen wieder in Kraft,« schloß er und wandte sich zum Gehen. »Was bedeutet das, welche Unordnung?« fragte ich. »Man hat uns keine Bemerkungen gemacht, Ihre Erklärung ist mir vollkommen unbegreiflich.« »Der Kommandant ist unzufrieden. Die Instruktionen treten mit dem heutigen Tage wieder in Kraft,« wiederholte er. »Mehr kann ich nicht sagen.« »Vielleicht ist draußen etwas geschehen?« fragte ich, wohl wissend, daß jeder Vorfall draußen in der Welt gewöhnlich mit Repressalien im Gefängnis endigt. »Ich weiß nichts.« »Aber woher kommt denn diese Verfügung: aus Petersburg oder von hier?« »Von hier,« erwiderte der Inspektor und wandte sich zur Tür. »Wir können uns der Instruktion nicht unterwerfen,« rufe ich ihm nach. »Sie[[1]] bindet uns an Händen und Füßen. Unter dieser Instruktion kann man nicht atmen: man kann sich an sie unmöglich halten. Sie[[1]] werden sofort den Karzer gebrauchsfertig machen müssen!« »Das werden wir auch,« erwiderte ruhig der Inspektor. Ähnliche Gespräche kamen aus jeder Zelle. Aufgeregt, beunruhigt, wußten wir nicht, was wir davon halten sollten: woher dieser Überfall? Der Zustand im Gefängnis gab nicht den geringsten Anlaß dazu: wir lebten friedlich, störten niemand, und niemand störte uns, warum bedroht uns also die Wiederherstellung des alten Regimes, die Beseitigung all jener kleinen Erleichterungen, die wir im Laufe von so viel Jahren erobert hatten? 18 bis 20 Jahre, ja manche noch länger, waren wir im Gefängnis. Es schien, als könnte man uns die friedliche Arbeit gönnen. Aber nein, wieder wollte man Skandale, Zusammenstöße. Wir konnten nicht mehr die alten Instruktionen ertragen: wir waren keine Neulinge. Unsere Geistesverfassung war nicht mehr die der ersten Jahre. Unsere Nerven waren bis aufs äußerste angespannt und reagierten auf alles aufs heftigste. Voll Unruhe war dieser Abend. Die einen liefen erregt in der Zelle auf und nieder; die anderen lagen unbeweglich auf der Pritsche; man war außerstande, zu lesen, das Buch fiel einem aus der Hand. Manche sprachen auf dem üblichen Wege miteinander. Die Nerven waren wie straff gezogene Saiten: was erwartete uns? Wodurch waren die Repressalien hervorgerufen? Wieder diese Ungewißheit. Wieder waren wir die »Blinden« von {{Maeterlinck}}. Im Gefängnis war alles in Ordnung; bedeutete das also, daß draußen in der Welt etwas geschehen sei? Irgendeine Katastrophe? Ein welterschütterndes Ereignis? Die Phantasie arbeitete fieberhaft, die Erregung wuchs, und in derselben Nacht kam es zu Szenen, wie sie selbst in den ersten Jahren in Schlüsselburg sich nicht abgespielt haben. Gegen 10 Uhr hörte das gespannte Ohr, wie sich am entfernten Ende des Korridors das Schiebefenster einer Zelle in der oberen Etage öffnete und dann wieder zugeworfen wurde. Nach 10 Minuten wiederholte sich das, und man hörte ein kurzes Gespräch. Und zum dritten Male wiederholte sich dasselbe. In der unteren Etage entstand eine Bewegung; dann hörte man wieder dieselben Türen gehen, und die Gendarmen schleppten etwas Schweres hinaus. Es war klar, man schleppte einen menschlichen Körper, Gendarmen trugen jemand an Händen und Füßen. Man hörte Keuchen. In diesem Augenblick standen alle Gefangenen an den Türen ihrer Zellen und lauschten angestrengt; jeder dachte dasselbe: jemand hat sich das Leben genommen, und jeder von uns begann den Wachhabenden zu rufen, um zu erfahren, was geschehen sei. Der Gendarm öffnete zwar das Guckloch an der Tür, antwortete aber auf die Frage mit keinem Laut. Plötzlich erscholl die Stimme des Kommandanten, und man hörte die Worte: »Losbinden!« Also … jemand hat sich erhängt … Mit Händen und Füßen, ja mit Büchern schlugen wir an die Türen und schrien: »Was ist geschehen?« Die Stimme des Kommandanten erwiderte: »Nr 28 (das war Sergej Iwanow) bricht die Disziplin.« Wie, ein Mensch macht einen Selbstmordversuch, und das wird mit »Disziplinbruch« bezeichnet? Die Türen dröhnten. Jemand schrie laut um Hilfe. Ein ohrenbetäubender Lärm erhob sich von oben und unten, rechts und links. Das Gefängnis raste. Und zum dritten Male erscholl die befehlende Stimme des Kommandanten: »Den Arzt!« Raserei ergriff uns, das Gefängnis verwandelte sich in ein Irrenhaus. Halbtot von der überstandenen Nacht trafen wir uns am nächsten Morgen beim üblichen Spaziergang. Iwanows nächste Zellennachbarn erzählten Einzelheiten über das Vorgefallene. Gereizt und erregt über das häufige Hineinschauen in die Zelle, hatte er das Guckloch mit einem Papier verklebt und sich geweigert, es abzunehmen. Vergeblich bemühte sich der Inspektor, ihn dazu zu bewegen. Iwanow weigerte sich hartnäckig; da warfen sich die Gendarmen über ihn, zogen ihm die Zwangsjacke über und fesselten ihn unter den spöttischen Bemerkungen des Kommandanten. Dann schleiften sie ihn in die nächste leere Zelle, die diesmal als Karzer dienen sollte. Aber während des Hinaustragens bekam er einen hystero-epileptischen Anfall, wie später der herbeigerufene Arzt feststellte. Eben dann rief der Kommandant: »Losbinden!« Wir hatten daraufhin angenommen, es habe sich jemand erhängt. Sergej Iwanow lag leblos da, und die Gendarmen bemühten sich, ihn ins Leben zurückzurufen; doch nach ihren vergeblichen Versuchen mußte der Kommandant nach dem Arzt rufen. Aus irgendwelchen Gründen kam er nicht gleich, und als er endlich kam, gelang es ihm nicht sofort, Iwanow zu sich zu bringen. Die Ohnmacht dauerte 40 Minuten. Niedergedrückt hörten wir dieser Erzählung zu. Was sollten wir tun? Solche Szenen konnten sich nun täglich wiederholen? Wir konnten sie nicht mehr ertragen. Widerstand war absolut notwendig, aber in welcher Form? Es war ganz undenkbar, diese Sache ohne Protest hinzunehmen. Man würde uns ersticken; man mußte auf alle Fälle Widerstand leisten. Wir waren ganz verwirrt. Die einen schlugen den üblichen Weg der Selbstgeißelung vor, den Verzicht auf den Spaziergang; die anderen sprachen vom Boykott des Kommandanten; jede Beziehung zu ihm abbrechen, sogar keine Briefe von den Verwandten aus seiner Hand empfangen. Mit gesenkten Köpfen, unbefriedigt gingen wir auseinander, ohne etwas beschlossen zu haben. Ein qualvoller Tag verging. Jeder zerbrach sich den Kopf über die Frage: Was wird weiter sein? Was unternehmen? &&x Am Abend kam mir der Gedanke, der Mutter einen Brief zu schreiben; einige Zeilen eines derartigen Inhaltes, daß das Polizeidepartement den Brief zwar nicht befördern, ihn aber lesen und sich interessieren werde, was in der Festung geschehen sei, und natürlich die Sache nicht ohne Untersuchung lassen werde. Ich schrieb: &&rl=10 &&rr=10 Geliebtes Mütterchen! Ich wollte Dir antworten, aber bei uns ist etwas vorgefallen, was alles über den Haufen wirft. Wende Dich an den Minister des Inneren oder an den Direktor des Polizeidepartements, damit er an Ort und Stelle eine Untersuchung einleitet. 3. III. 1902. Deine Wera &&rl=0 &&rr=0 Ich teilte den Kameraden den Inhalt des Briefes mit, und am gleichen Abend noch übergab ich ihn dem Inspektor. »Man wird diesen Brief dem Departement nicht übergeben,« sagte Morosow. Auch die anderen zweifelten. Nur ich war meiner Sache sicher. Am nächsten Tage saßen alle »zu Hause«; nur einige, darunter auch ich, gingen hinaus zum Spaziergang. Draußen, getrennt durch das Gitter, das die Käfige voneinander abgrenzte, unterhielt ich mich mit Poliwanow. Wir waren traurig und bekümmert. Ich sagte, daß dies ein Fall sei, wo es sich lohne, als Protest sein Leben einzusetzen durch eine der Wera Sassulitsch würdige Tat. Nicht der Tod schrecke mich, aber die Einsamkeit, die Isolierung, im alten Gefängnis für immer eingeschlossen zu werden. Allein mit den Gendarmen. Ohne Bücher … das ist schlimmer als der Tod … Man kann doch nicht zweimal dasselbe durchleben, was wir in den ersten Jahren durchlebt haben. Die Kräfte waren nicht mehr dieselben, ich würde wahnsinnig werden … Wahnsinn … davor graute mir … Aber ich hatte das Bild Wera Sassulitschs ständig vor Augen. Ich unterrichtete Poliwanow von dem Brief, den ich dem Inspektor übergeben hatte. Er schaute mich mit seinen großen, traurigen Gazellenaugen an: »Und wenn dein Brief nicht befördert wird?« fragte er. »Nein, das ist ausgeschlossen,« rief ich, »der Kommandant wird sich nicht unterstehen, den Brief nicht abzuschicken, er wird es nicht wagen. Ich kann diesen Gedanken gar nicht ausdenken.« Poliwanow ging fort, ich blieb. Ich konnte mich nicht von der frischen Luft trennen, sie schien mir berauschend, jetzt um so mehr, wo ich bald auf sie verzichten sollte. Ich konnte doch nicht mehr spazierengehen, wenn die Genossen darauf verzichteten. Wie lange sollten wir jetzt ohne frische Luft bleiben? Monate oder vielleicht noch länger, vielleicht immer? Als ich mich endlich entschloß, in meine[[Besitz]] Zelle zurückzukehren, folgte mir auf dem Fuße der Inspektor und erklärte: »Ihr Brief kann nicht befördert werden. Schreiben Sie[[1]] einen andern.« »Warum?« fragte ich gereizt. »Sie[[1]] müssen ihn befördern, die Zensur obliegt dem Polizeidepartement, nicht Ihnen!« »In Ihren Briefen dürfen Sie[[1]] nur von sich sprechen. So lautet die Instruktion.« »Ich kenne die Instruktion. Schicken Sie[[1]] den Brief ab.« »Nach den Instruktionen darf ich ihn nicht durchlassen; ich werde Ihnen die Vorschriften zeigen,« und damit verließ er die Zelle. Der Inspektor kehrte mit einem Buch in der Hand zurück und las mir die entsprechende Stelle vor. Mit erhobener Stimme sagte ich in befehlendem Ton: »Lassen Sie[[1]] Ihre Paragraphen. Ich weiß, alle Briefe müssen an das Departement geschickt werden: seine Sache ist es, die Briefe zurückzuhalten oder weiter zu befördern.« »Schreien Sie[[1]] nicht. Ich bin höflich, seien Sie[[1]] es auch,« protestierte der Inspektor. »Sie[[1]] würgen uns zuerst, und dann fordern Sie[[1]] Höflichkeit,« rief ich zornig. »Schicken Sie[[1]] den Brief ab!« »Bitte, schreien Sie[[1]] nicht, und schreiben Sie[[1]] einen anderen Brief, dann werde ich ihn befördern.« »Ich werde nicht schreiben.« »In diesem Falle entziehen wir Ihnen überhaupt das Recht auf den Briefwechsel.« In diesem Moment wurde mir der ganze Ernst der Situation klar. Es galt zu handeln. Ich mußte mich sofort entschließen, und doch hatte ich noch gar nicht überlegt, was zu tun sei. Ich mußte unbedingt einige Minuten Zeit gewinnen, mich sammeln, die Selbstbeherrschung wieder gewinnen und dann … Instinktiv suchte ich den Streit in die Länge zu ziehen und fragte, schon wieder beherrscht: »Wofür können Sie[[1]] mir das Recht auf den Briefwechsel entziehen? Ich habe mich gegen nichts vergangen.« »Sie[[1]] weigern sich, den Brief umzuschreiben, und darum entziehen wir Ihnen das Recht auf den Briefwechsel.« Gleichzeitig arbeiteten meine[[Besitz]] Gedanken fieberhaft: der Brief wird nicht abgeschickt … das Departement wird also nichts erfahren. Die Instruktion wird in Kraft treten. Das alte Regime wird wieder hergestellt. – Wir können es aber nicht mehr ertragen! … Die Kameraden … Was wird aus ihnen werden? Und dann fragte ich mich selbst: Wirst du alle Folgen ertragen können? Kriegsgericht, Todesstrafe oder die Schrecken der Einzelhaft, Wahnsinn und Tod … Wirst du es nicht bereuen? Das Geschehene bedauern? Wird deine Kraft für all das ausreichen?« Und langsam, um ganz sicher zu sein, daß es von Seiten des Inspektors keine leere Drohung sei, fragte ich noch einmal: »Also, Sie[[1]] entziehen mir tatsächlich das Recht auf den Briefwechsel?« »Ja,« erwiderte der Inspektor fest. Einem Blitz gleich durchfuhr mich ein Gedanke und beseitigte alles Zögern: » Nur im Handeln erkennst du deine Kraft.« Im nächsten Moment erhoben sich meine[[Besitz]] Hände, ich faßte die Schultern des Inspektors, und mit Aufbietung aller meiner Kräfte riß ich ihm die Achselstücke ab … Sie[[1]] flogen nach rechts und links. Der Inspektor schreit schrill auf: »Was machen Sie[[1]]?« und stürzt aus der Zelle. Der fassungslose Wachtmeister hebt die zerrissenen Achselstücke vom Boden auf. … Nun werde ich sofort in das alte Gefängnis überführt, denke ich, und in fieberhafter Eile benachrichtige ich die Kameraden vom Geschehenen. Ein Sturm erhebt sich im Gefängnis. Aber ich bitte die Kameraden um einen Dienst: ich muß vollkommen Herr meiner selbst sein. Meine[[Besitz]] Selbstbeherrschung bewahren kann ich nur, wenn die Kameraden keinen Aufruhr herbeiführen werden. Er ist jetzt unnötig. Alles, was nötig war, ist getan worden. Nur um eins bitte ich: um Ruhe! Es wurde still. Ein unheimliches Schweigen trat ein. Die Seelen waren erschüttert, und die Angst der Ungewißheit ergriff alle. Und furchtbar war der Schrei Popows, der vom entfernten Ende des Korridors erscholl: »Was geschieht mit Wera?« Das bedeutete die Frage, ob man mich schon abgeführt habe. Das war kein Schrei mehr, sondern ein Geheul. Es erschütterte mich … &&x &&am &&g1="Drohende_Gefahr" &&fa Drohende Gefahr &&fe &&ax Drei Tage waren vergangen; man hatte mich nicht abgeführt. Das Gefängnis schien erstorben und erinnerte an die alten Zeiten, als es sich noch unter der eisernen Faust Sokolows befand. Endlich bekamen wir von Antonow, der den Wachtposten am Fenster inne hatte, eine Meldung: der Militäruntersuchungsrichter war eingetroffen und verhörte in der Kanzlei jeden Gendarmen einzeln. Dann kam die Reihe auch an uns. In Begleitung des Kommandanten, des Inspektors und mehrerer Gendarmen betrat ein hochgewachsener, junger Mensch mit einem strengen, intelligenten Gesicht meine[[Besitz]] Zelle. »Wie konnten Sie[[1]] so etwas tun?« fragte er mich. In den vorhergehenden Tagen hatte ich viel darüber nachgedacht, wie ich mich bei der Untersuchung zu verhalten habe. Ich befürchtete, man werde versuchen, der ganzen Sache einen persönlichen Charakter zu verleihen, sie mit übergroßer Erregung infolge der Entziehung des Briefwechsels zu erklären, und trachten, sie zu vertuschen. Ich wollte aber alles vermeiden, was die Beurteilung meiner Tat mildern konnte: es sollte ganz davon abgesehen werden, daß ich schon 20 Jahre im Gefängnis war, alle persönlichen Motive sollten ausgeschlossen und die Sache als bewußter Protest des ganzen Gefängnisses betrachtet werden. Ich erzählte alle Umstände des Abends und der Nacht des 2. März, berichtete von dem Rundgang des Inspektors, wie er, ohne irgendwelchen Grund anzugeben, uns erklärt hatte, daß im Gefängnis von nun an die alten Instruktionen in ihrer ganzen Strenge wieder in Kraft treten sollten; ich schilderte unser Erstaunen und unsere Unruhe über die Repressalien, zu deren Herbeiführung wir nichts beigetragen hatten; dann die Erregung, die uns ergriff, als plötzlich in der Nacht die Gendarmen, ohne unsere Fragen zu beantworten, jemand hinaustrugen, und wir das Keuchen des Kameraden und die erregten Befehle des Kommandanten hörten: »Losbinden!« … »Den Arzt holen!« Ich erzählte dann von dem Briefe, den zurückzuhalten der Inspektor kein Recht gehabt hätte. Er müßte ihn an das Departement weitergeben, gleichgültig, welchen Inhalts er sei; die Zensur obläge dem Polizeidepartement, und ich hätte ganz genau gewußt, daß es den Brief nicht weiterschicken, sondern nur selbst durchlesen werde. »Vielleicht benahm sich der Inspektor Ihnen gegenüber grob und rief dadurch die Tat hervor?« fragte mich der Untersuchungsrichter. »Nein, er war nicht grob. Er ist überhaupt weich im Umgang, und nicht er, sondern ich erhob die Stimme im Gespräch.« »Vielleicht kränkte oder empörte Sie[[1]] die Erklärung des Inspektors, daß man Ihnen den Briefwechsel entziehen werde?« »Nein. Mir lag nichts mehr am Briefwechsel. Hätte man ihn mir in den ersten Jahren gestattet, so wäre er ein großes Glück gewesen. Aber jetzt, nach soviel Jahren, verursacht er mir nur Schmerz.« »Also, Sie[[1]] wollten die Sache nur der Öffentlichkeit übergeben?« »Ja,« erwiderte ich. Je länger ich sprach, desto weicher und heller wurde das Gesicht des Fragenden. Jetzt verbeugte er sich, und mit den Worten: »Leben Sie[[1]] wohl« verließ er die Zelle. Dann war er bei Popow, und wir erfuhren endlich die Ursache der gegen uns gerichteten Repressalien. Popow hatte den Versuch gemacht, durch einen jungen Gendarmen einen Brief aus dem Gefängnis zu befördern. Er war an seine Mutter gerichtet und vollkommen harmlos. Niemand von uns außer Sergej Iwanow wußte davon. Der Gendarm, ein junger, rotbackiger Bursche, räumte gewöhnlich die Zelle während des Spaziergangs auf. Es gelang Popow, einige Male mit ihm ein paar Augenblicke allein zu bleiben. Der Soldat sprach ihm dann gewöhnlich sein Mitgefühl aus und erklärte sich bereit, ihm einen Dienst zu erweisen: nur die Angst, in das Strafbataillon zu geraten, hielt ihn bisher zurück. Etwas anderes wäre es, wenn er wüßte, daß er zu den »Politischen« kommen werde! Popow beschloß, die Bereitwilligkeit seines Freundes auszunutzen, und übergab ihm den Brief mit der Bitte, ihn in den Postkasten zu stecken. Am selben Tage noch, nicht etwa durch Verrat, sondern durch die Dummheit des Soldaten, geriet dieser Brief in die Hände des Kommandanten. Alles Folgende war nun verständlich … Es begannen qualvolle Tage voller Ungewißheit. Diese Ungewißheit über unser weiteres Schicksal umstrickte uns förmlich. Niemand verließ seine Zelle. Wir stellten allerlei Hypothesen auf. Es hing etwas in der Luft. Der Kommandant {{Obuchow}} bat uns, um Gotteswillen alle scharfen Instrumente, über die wir verfügten, abzuliefern. Dabei sagte er, daß er uns in einer Woche verlasse, ebenso der Inspektor. So erfuhren wir, daß eine völlige Veränderung des Verwaltungsapparates bevorstehe. Das sprach dafür, daß unsere Sache für richtig angesehen wurde und günstig enden werde. Ende März meldete uns Antonow, daß der neue Kommandant angekommen sei. Und tatsächlich erschien er bald bei uns. Es war ein alter Bekannter, der Offizier Jakowlew, der in der Peter-Paul-Festung uns während der Besuche unserer Angehörigen überwachte, der Perowskaja auf das Schafott begleitet hatte und der Gehilfe Sokolows im Alexej-Vorwerk gewesen war. Er verlas uns ein Dokument, das eigentlich nichts besagte. Es schien, als wolle man uns in etwas beschränken, etwas entziehen, uns bestrafen. Tatsächlich aber bestand das Wesentliche darin, daß die Zellen nachts wieder beleuchtet sein sollten und es verboten wurde, in den Kammern Glassachen zu haben. Popow entzog man den Spaziergang zu zweien für einen Monat; mich trafen keinerlei Repressalien, nur die Entziehung der Korrespondenz blieb in Kraft. Die Kameraden jubelten, denn sie hielten die Angelegenheit für erledigt. &&x Am nächsten Tag gingen wir wieder spazieren. Auch ich betrat denselben »Käfig«, wo ich vor einem Monat spazierengegangen war. Aber in welchem seelischen Zustand? In diesen vier Wochen hatte ich soviel durchlebt, und das Durchlebte war so brennend, so scharf gewesen. Allein geblieben, befestigte sich in mir die Bereitschaft, dem Schicksal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten: zu sterben oder in irgendeine Kasematte für immer allein eingemauert zu werden. Bereit sein, hart wie ein Stein, zum Stein zu werden. An nichts anderes zu denken. Auch nicht an das Mitgefühl der Kameraden. Überhaupt nichts Weiches aufkommen zu lassen, weder in den Kameraden noch in mir selbst – alles zu ersticken, was rühren und erweichen könnte. Die furchtbaren Träume, die mich in den ersten Jahren so gequält hatten, kamen wieder, nur in anderer Art: ich sah beständig Aufruhr und Empörung im Gefängnis. Ich sehe deutlich, wie Popow dem Inspektor einen Schlag versetzt. Ein schreckliches Handgemenge mit den Gendarmen, die ihn schlagen; die Szene Myschkins, der Weihnachtstag 1884 ersteht von neuem: es ist 7 Uhr abends. Das Geklirr des fallenden Geschirrs, Lärm, Getrampel und der Schrei: »Schlagt mich nicht, schlagt mich nicht! Tötet mich, aber schlagt mich nicht!« Oder vor mir steht Lukaschewitsch, der liebe, sanfte Lukaschewitsch von gigantischem Wuchse, und mit den Augen, die reinen, klaren Augen eines Kindes. Er sandte mir einen wunderbar zarten Brief, voll Ergebenheit und rührender Anhänglichkeit. Und nun sehe ich im Traum, wie diese weiche Seele vom Protest erglüht, vom Protest für mich. Rasend stürzt er sich auf seine Gegner; eine Bande Gendarmen werfen ihn zur Erde, treten ihn mit Füßen, diesen schönen, starken Menschen. Ich erwache voll Entsetzen. Es ist mir, als steckte in meiner Kehle eine spitze Nadel. Das Atmen wird schwer, der Halskrampf Sergej Iwanows hat jetzt auch mich erfaßt Und viele, viele Jahre später, wenn ich durch irgend etwas stark erschüttert wurde, stellte sich sofort dieser Halskrampf als Überbleibsel der durchlebten Erschütterung ein! Oder mir träumt, daß ich sterbe; die schwere Grabplatte beklemmt meine[[Besitz]] Brust; die Kälte des Steines erfaßt mich von allen Seiten. Ich fühle deutlich, wie allmählich meine[[Besitz]] einzelnen Organe absterben und langsam mein Inneres erstarrt. Ich erwache endlich mit einem Schrei, und ein unaufhaltsamer Tränenstrom bricht aus meinen[[Besitz]] Augen … So sind sie, diese schweren Tage und qualvollen Nächte; wieder diese qualvollen Nächte. Am Tage meines ersten Spaziergangs ist Lukaschewitsch im Nebenkäfig. Ich weiß eigentlich nicht, warum, aber eben er ist es, den ich jetzt zum erstenmal wiedersehen will. Er ist allein. Mit zweien zusammentreffen wäre schwerer. Ich kann gar nicht sprechen; die Stimme ist wieder verschwunden, wieder dünn und hoch geworden, gerade so wie in den schwersten Zeiten. Nur schwer lösen sich einzelne Worte von meinen[[Besitz]] Lippen. Stumm lasse ich mich auf meinen[[Besitz]] improvisierten Stuhl am Zaun nieder, und wir schweigen. Ich hatte die ganze Zeit das Kriegsgericht erwartet und fühlte mich dem Tode von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Ich erwartete ihn fortwährend, bereitete mich auf ihn vor. Denn bereit muß man sein, um im gegebenen Moment nicht zu zucken. Und vier Wochen dieser Todeserwartung konnten nicht anders als verheerend wirken. Eine eigenartige Freude erfüllte mich; ich war innerlich froh, daß ich in mir die Kraft zu einem energischen Protest gefunden hatte. Mir schien, daß für mich, die zu ewigem Kerker Verurteilte, das beste Ende das Schafott sei. Sterben im Gefängnis … den Alterstod sterben, wäre das nicht schrecklich? Wenn man sich auch mit aller Kraft an den Gedanken klammert, daß der schwere Gefängnisaufenthalt derselben Freiheitsidee dient, so ist es doch nur ein passiver, kraftloser Zustand. Welche Unbeweglichkeit, welche Erstarrung! Das Beste im Menschen ist irgendwo in die Tiefe verscheucht, darf sich nicht entfalten; versteckt, erstickt scheint es, als ob es überhaupt schon verschwunden sei. Zweifel an sich und den Kameraden stellen sich ein, und da einem von der Menschheit nur ein kleines Häuflein geblieben, beginnt man, das Hohe, das Schöne, das in der Menschheit ist, zu vergessen, verliert die Empfindung für das Große. Die Begeisterung und Liebe, die durch nichts genährt wird, die keinen Ausweg hat, ist an der Wurzel durchschnitten. Und das Leben, das elende, trübe Leben schleppt sich endlos hin … bis zum Tod auf der Gefängnispritsche. Nein. Lieber auf dem Schafott! Nicht leidend, sondern handelnd, im Protest für seine Freunde, seine Kameraden … Und was nun? Wieder haben sie mir die Möglichkeit, zu sterben, entrissen! Zwangen mich, mich auf den Tod vorzubereiten, quälten, verstümmelten mich und ließen mich dann leben … Es war schwer, ins Leben zurückzukehren … Tage, Wochen gingen hin. Alles schien erledigt zu sein. Die Instruktionen wurden nicht wieder in Kraft gesetzt. Eines Tages bemerkten wir, daß man im alten Gefängnishof irgendwelche Vorbereitungen traf. Plötzlich kam die Nachricht: Frolenko sah aus dem Fenster, wie man das Schafott herausschleppte. Im Gefängnis entstand große Aufregung. Antonow sagte: »Wir müssen uns von Wera verabschieden.« Im Dunkel des Gefängnisses nimmt alles gesteigerte, verzerrte Dimensionen an; das Leben ist auch sonst voller Gespenster – bei uns war es ein einziges Gespenst. Wieder die Ungewißheit. Wieder sind wir die »Blinden« und irren tastend umher; die Augen geschlossen, die Hände vorgestreckt und bei jedem Schritt in Gefahr, in den Abgrund zu stürzen. Ja, die Gendarmen haben das Schafott aufgestellt, und wir wissen nicht, für wen. Wenn das Schafott da ist, so wird auch die Hinrichtung kommen. Wen wird man hinrichten? Für wen ist das Schafott? Die Ungewißheit erreichte ihr Ende in der Morgenröte des 4. Mai. &&x &&am &&g1="Die_Hinrichtung" &&fa Die Hinrichtung &&fe &&ax Am 3. Mai frühmorgens um 7 Uhr gab mein Nachbar Antonow das beunruhigende Signal: Schauen Sie[[1]]! Ich stürzte ans Fenster. Vom Festungstor bewegte sich ein eng zusammengedrängter Haufen von Menschen in Uniformen, und in ihrer Mitte: eine Person im Halbpelz. Wir begriffen: man hatte einen Gefangenen in die Festung gebracht. Gemischte Gefühle ergriffen mich: Schmerz um das junge Leben, das man jetzt gleich in unserem brüderlichen Grab begraben wird, und ein freudiges Gefühl, daß ein Hauch frischer Luft, Kampfesluft, auch zu uns dringt, jene Luft des Kampfes von dort jenseits der Mauern. Aber der stechende Schmerz um das junge Leben war stärker als die Freude. Doch der Gefangene wurde nicht zu uns in das Gefängnis gebracht, man führte ihn in die Kanzlei. Nachmittags sagte Antonow finster: »Auf dem Hof ist ein Geistlicher.« »Was ist denn da dabei?« fragte ich verständnislos. »Es wird eine Hinrichtung stattfinden,« erwiderte düster Antonow. Seit dem Jahre 1884 hatten auf dem Hof der Zitadelle mehr als einmal Hinrichtungen stattgefunden; man tötete Minakow und Myschkin; dann Stromberg und Rogatschew, und im Jahre 1887 fünf Personen aus dem Prozeß Lukaschewitsch und Noworusski. Aber alle diese Hinrichtungen fanden heimlich statt. Man ging dabei so geheimnisvoll zu Werke, daß wir davon weder etwas sahen noch hörten. Die matten Fensterscheiben, die dicken Wände des Gebäudes und die frühe Morgenstunde, wenn alles ringsum noch schlief, ließen gar nicht ahnen, daß in der Nähe etwas Ungewöhnliches geschehe. Jetzt war es ganz anders. Die Fensterscheiben waren durchsichtig; wir sahen, daß jemand in die Festung gebracht wurde, und man konnte ihn auf dem Gefängnishof nicht anders als an unseren Fenstern vorüberführen; wir mußten ihn sehen. Jetzt schleicht sich der Wachtmeister, mit einer Schnur in der Hand, verstohlen an den Fenstern, an die Mauer gedrückt, vorbei, ängstlich besorgt, daß man ihn nicht sehe … Verstohlen folgt ihm ein Gendarm, der unter dem Mantel Säge und Beil trägt. Sicherlich wird man »ihn« während der Nacht bei uns vorüberführen. Aber wir werden nicht schlafen, um ihn wenigstens mit den Augen zu begleiten. Aber die Gendarmen überlisteten uns. Niemand von uns sah, wo und wann der Verurteilte in der dunklen Nacht hinaufgeführt wurde. Um 3 Uhr morgens begann es zu tagen. Auf dem Gefängnishof waren weiße Häuser sichtbar, die Wohnungen der Verwaltung. Daneben ein heller Streifen, der Weg. Auf der anderen Seite, mitten im Hof, stand eine weiße Kirche und schwarze, noch ganz kahle Bäume. Tot und öde mutete dieser Hof an beim anbrechenden Tageslicht, das auf den öden, menschenleeren Raum seine gelblichen Schatten warf. Hintereinander erschienen im Hof: der Inspektor, sein Gehilfe, der Kommandant, der Garnisonschef, der Arzt, der Geistliche, die Gendarmen. Sie[[1]] gingen in einer Gruppe den Weg entlang in der Richtung des Gefängnistores. Abseits, wie ein Ausgestoßener, ein Verpesteter, mit einem Gendarmen vor und einem hinter sich schritt ein starker Kerl. Es war der Henker … Sie[[1]] gingen alle vorüber und verschwanden im Tor der Zitadelle. Wieder war alles öde und tot und versank im fahlen Zwielicht des anbrechenden Tages. So vergingen 40 Minuten – die letzten in »seinem« Leben. Langsam, müden Schrittes entfernte sich der Geistliche, gebeugt unter der Last des soeben Durchlebten. Er ließ sich auf die Bank neben der Kirche nieder. Wieder trat lautlose Stille ein, erfüllt von Todesahnung … Es ist vorüber … Und wieder erscheinen der Kommandant, der Inspektor, die Gendarmen und ein Herr in der Uniform des Justizbeamten. Wieder schleppt sich abseits der Ausgestoßene, der Verfemte, der dicke Mann im Tuchmantel. Als sie das Tor unseres Hofes durchschritten, wandte sich einer von jenen, die den Henker mieden und vor einer Berührung mit ihm zurückwichen, der Mann, der die » Justiz « hier vertrat, mit dem Gesicht zu uns, zu unseren Fenstern, wo er unsere an die Scheiben gepreßten Gesichter sehen mußte. Er wandte uns sein wohlgenährtes Gesicht zu und lächelte selbstzufrieden. Es war ein freches, sattes, zufriedenes und herausforderndes Gesicht. Aber einer von den Gendarmen, der die Obrigkeit zum Platz der Hinrichtung begleiten mußte, griff sich plötzlich im Zitadellentor an die Brust und stammelte: »Euer Wohlgeboren – ich kann nicht! Lassen Sie[[1]] mich gehen! Ich kann es nicht aushalten! – Ich kann nicht!« Es war die Hinrichtung Balmaschows, der den Innenminister Sipjagin getötet hatte. &&x &&am &&g1="Das_gebrochene_Wort" &&fa Das gebrochene Wort &&fe &&ax Etwa ein Jahr war seit jenen fieberhaften März- und Apriltagen des Jahres 1902 vergangen. Nach 300 grauen Gefängnistagen verwischte sich allmählich in der Seele das so schmerzhaft Erlebte. Am 13. Januar 1903 saß ich ruhig in meiner Zelle und ahnte nicht im leisesten, daß sich mir das Schicksal schweren Schrittes näherte; es näherte sich meiner Tür, klopfte und sprach: »Geh hinaus.« Im Korridor wurden Schritte laut, die Riegel knarrten; die Tür ging auf, der Kommandant mit seinem Gefolge trat ein. Mit halb erhobener Hand und theatralischer Stimme sprach er langsam: »Seine Majestät der Kaiser … hat das Flehen Ihrer Mutter vernommen … laut seinem höchsten Befehl ist das lebenslängliche Zuchthaus für Sie[[1]] auf 20 Jahre ermäßigt worden.« Bei den Worten »Seine Majestät der Kaiser«, die besonders akzentuiert wurden, durchflog mich der Gedanke: die nachträgliche Strafe für die Achselstücke. Das wäre für mich leichter gewesen als das, was ich dann zu hören bekam. Ich stand betäubt. Fest überzeugt, daß hier ein Mißverständnis vorliege – denn meine[[Besitz]] Mutter kannte doch genau meine[[Besitz]] Ansichten in dieser Hinsicht, und sie konnte nicht, durfte nicht um Gnade für mich bitten –, stellte ich die gedankenlose Frage: »Ist das eine allgemeine Maßnahme oder bezieht sie sich nur auf mich?« »Nur auf Sie[[1]],« knurrte unwillig der Kommandant und setzte dann hinzu: »Jetzt dürfen Sie[[1]] Ihren Verwandten schreiben.« Ich wollte aber gar nicht schreiben. Ich war empört, verletzt, meine[[Besitz]] erste Regung war, jede Beziehung zur Mutter abzubrechen. Zu ihr, der Geliebten, die Beziehungen abbrechen! Zu ihr, von der die Trennung mir soviel Leid gebracht hatte! Anderthalb Jahre waren vergangen, seitdem ich ihr das letztemal geschrieben hatte, und ihr letztes Schreiben hatte ich vor zwölf Monaten bekommen. Was war während dieser Zeit zu Hause vorgefallen? Was wußte die Mutter von mir während dieser erzwungenen Unterbrechung des Briefwechsels? Ich begriff nicht, beherrschte mich jedoch und erwiderte: »Mögen meine[[Besitz]] Verwandten zuerst an mich schreiben, ich werde dann antworten.« Die Zelle schloß sich; ich blieb allein. Mit bitteren Gefühlen teilte ich den Kameraden das über mich hereingebrochene Unglück mit – denn eine Begnadigung bedeutete für mich ein Unglück. Woher brach es über mich herein? Wie konnte meine[[Besitz]] Mutter, meine[[Besitz]] tapfere, starke Mutter um Gnade für mich »flehen«? Ohne Tränen, ohne das geringste Schwanken begleitete sie ihre zwei Töchter eine nach der anderen nach Sibirien, und als sie von mir Abschied nahm, war sie es ja, die mir das Wort gab, nie um irgendwelche Milderungen für mich zu bitten. Was war mit ihr geschehen, mit ihr, auf die ich doch gerechnet hatte wie auf mich selbst? Was war geschehen? Was veranlaßte sie, das beim Abschied feierlich gegebene Wort zu brechen? Was war in den letzten anderthalb Jahren geschehen? Qualvolle, unbeantwortete Fragen … Die Mutter hatte gegen meinen[[Besitz]] Willen gehandelt: ich wollte unter keinen Umständen Gnade; gemeinsam mit meinen[[Besitz]] Kameraden wollte ich mein und ihr Schicksal bis zu Ende tragen. Jetzt hatte die Mutter, ohne mich zu fragen, gegen mein Wissen und ohne meine[[Besitz]] Einwilligung in mein Leben eingegriffen. Konnte man einen Menschen stärker verletzen? Wie durfte sie so handeln? Sie[[1]], die immer fremde Überzeugungen, fremde Persönlichkeiten so geachtet hatte, die das auch mir eingeschärft hatte. So roh, so eigenmächtig ein fremdes Leben gestalten, einen fremden Willen derartig in Stücke brechen zu wollen. Ich fühlte mich durch die kaiserliche Gnade erniedrigt. Und wer hatte es getan? Die Mutter, die geliebte, so hochgeschätzte Mutter … Sie[[1]] hat mich erniedrigt, aber auch sich selbst. Wie weh tat der Trost der Kameraden: »Du bist doch nicht schuld daran!« Ununterbrochen bohrte der qualvolle Gedanke: Was konnte mit der Mutter geschehen sein? Warum wurde ihr Mutterherz schwach? Hatte sie etwa erfahren, daß ich, die vor 18 Jahren Verurteilte noch einmal verurteilt werden sollte? Daß man die vor 18 Jahren zum Tode Verurteilte noch einmal zum Tode verurteilen wird? Vielleicht erfuhr sie es – und wurde schwach. Ist sie etwa durch die Trennung und die Ungewißheit schwach geworden? Hielt sie etwa nicht aus und vergaß das Wort, das ich ihr beim Abschied abgenommen hatte? Es war unerträglich schmerzhaft, in der Blindheit der Gefängniseinsamkeit darüber zu grübeln. Denken müssen, daß sie sich selbst untreu geworden, sich verraten hatte, und daß ich fern und unsichtbar nicht rufen konnte: »Halt ein!« Ich konnte die Hand nicht zurückhalten, die das Gnadengesuch eingereicht. Nach drei Tagen kam die Aufklärung … Die Mutter schrieb: schrieb einen Abschiedsbrief; sie lag im Sterben … seit drei Monaten schon stand sie nicht mehr auf, zweimal hatte man sie operiert. »Krebs,« setzten die Schwestern hinzu. Soeben noch war ich außer mir gewesen, bereit zum Bruche mit dem Liebsten, das an der Schwelle des Todes stand. Was tun? Konnte etwa die Tochter der sterbenden Mutter bittere Vorwürfe schicken? … Ich mußte antworten. Meine[[Besitz]] Antwort war vielleicht der letzte Brief, der die Mutter unter den Lebenden traf. Das harte Herz wurde beim Gedanken an die sterbende Mutter demütig. Alle Vergehen, die ich je in der Vergangenheit ihr gegenüber begangen, erwachten in meiner Erinnerung. Alles Gute, was ich von ihr empfangen, erstand vor mir. Ich dachte an die Kindheit, als sie die ersten Ansätze meines Geistes, meiner Persönlichkeit pflegte; ich dachte daran, daß sie in der furchtbaren Zeit vor der Verhaftung meine[[Besitz]] beste moralische Stütze gewesen war; an die Freude, die mir die seltenen Zusammenkünfte im Gefängnis vor der Verhandlung verschafften, die ich im Umgang mit ihr in den entscheidenden Tagen des Gerichtes empfunden hatte. Alles wurde wach. Viel, sehr viel hatte sie mir gegeben. Und ich, was gab ich ihr? Anfangs durch die frühe Heirat und später durch die revolutionäre Tätigkeit mit ihren Folgen von ihr getrennt! Nichts als Leid. Und wieviel Leid! Rücksichtslosigkeit, Egoismus, der der Jugend eigen ist; Mangel an Verstehen … Manches scharfe Wort … manches verletzende Lächeln … mancher kleine Nadelstich aus jugendlichem Übermut … alles wachte auf und peinigte die erwachte Erinnerung. Nichts, absolut nichts hatte ich im Leben gegeben. Jetzt war der Tag der Abrechnung gekommen. Und nichts blieb übrig, als in Reue und Liebe vor ihr auf die Knie zu fallen und, ihre geliebten Hände mit heißen Tränen benetzend, um Verzeihung zu bitten … Und ich bat um Verzeihung. Ihre Antwort enthielt die unvergeßlichen Worte: »Ein Mutterherz trägt erlittenen Kummer nicht nach.« &&x &&am &&g1="Die_Angst_vor_dem_Leben" &&fa Die Angst vor dem Leben &&fe &&ax Also in 20 Monaten sollte ich nach 22jähriger Gefangenschaft die Schlüsselburger Festung verlassen. 20 Monate lagen noch vor mir, in denen ich genug über die Zukunft grübeln konnte. Eine ungeheure sittliche Aufgabe ist vor mir erstanden. Das Schicksal hat mir ein seltsames Los beschieden: ein zweites Leben; aber ich betrete es nicht wie ein ahnungsloses, unwissendes Kind, vor dem noch alle Möglichkeiten liegen, auch nicht wie ein Jüngling, der hinter sich nichts, vor sich noch alles hat. Ich hatte hinter mir eine lange, komplizierte Vergangenheit; eine schwere Last drückte auf meinen[[Besitz]] Schultern; der kurze, glühende Weg des revolutionären Kampfes, dann der lange, eisige der Einkerkerung. Und mit einer solchen Bürde auf dem Rücken soll ich von neuem ins Leben treten. Ich bin jetzt 50 Jahre alt und kann noch ganze 20 leben. Wie werde ich diese Jahre ausnutzen? Womit sie ausfüllen? Womit sie erhellen und erleuchten? Meine[[Besitz]] Blicke waren immer zum Himmel gerichtet, sie müssen es auch weiter bleiben, aber nur, um Lichtstrahlen für die Erde zu gewinnen. Was kann ich dieser Erde bringen? Was werde ich ihr geben? Wie qualvoll waren diese Fragen, die ununterbrochen Tag und Nacht an der Seele nagten. Niemand vermochte mir bei der Lösung dieser Fragen zu helfen; weder die Bücher, noch die Kameraden, auch nicht ein Freund. Allein, in gänzlicher Abgeschiedenheit, von niemand gesehen und gehört, mußte ich versuchen, diese qualvollen Fragen zu lösen. Es war ein letztes Gericht – ein Gericht gegen mich selbst, ein Gericht für die Zukunft … Ich fühlte mich in einer Lage wie ein Mensch, der unbedingt schwimmen muß, obgleich er es nicht versteht. Einst, vor langer Zeit, verstand er es, verlernte es aber und begreift nicht, was er mit sich anfangen soll. Vor[[Präposition]] ihm, rings um ihn das Meer, nichts als das Meer; unter ihm eine Erdscholle, die von allen Seiten vom Wasser umspült ist. Allmählich spülen die Wellen Stück für Stück dieser Scholle weg. Ob er kann oder nicht, er muß schwimmen. Und er denkt darüber nach, solange er noch Zeit hat, wie, auf welche Weise er schwimmen soll. Überlegt die Körperbewegungen, wie er die Hände und Füße bewegen, in welcher Richtung er schwimmen soll, wo ist das Festland, und wie groß ist das Maß seiner Kräfte? Er fürchtet sich und zweifelt an sich, fürchtet die Launen des Meeres, zögert: was wird er tun, wie wird er handeln? Und niemand kann ihm helfen, kann ihm raten, wie er, ins Wasser fallend, sich halten soll. Und so erhob sich jetzt auch vor mir die Frage, was jenseits dieser Mauern mit mir geschehen werde, wie, welcher Sache und wozu ich überhaupt noch leben sollte. &&x &&am &&g1="Die_Mutter" &&fa Die Mutter &&fe &&ax Während diese Gedanken meine[[Besitz]] Seele, mein Gehirn zernagten, starb meine[[Besitz]] Mutter. Die Schwestern hatten die Genehmigung bekommen, mir alle 3 bis 4 Wochen kurze Nachrichten über den Verlauf ihrer Krankheit zu geben. Bis zu ihrem Tode, der im November 1903 eintrat, lebte ich im Laufe von 10 Monaten in einer furchtbaren Nervenanspannung. Die sich oft widersprechenden Nachrichten über zeitweilige Besserung, dann wieder Verschlimmerung ihrer Krankheit bereiteten mir unsagbare Qualen. Der Gedanke an die Sterbende verließ mich nie, und die Nachrichten aus Petersburg brachten statt Beruhigung, wie die Schwestern geglaubt hatten, nur eine Verschärfung der Schmerzen, der Unruhe. Es schien, als ob ein geheimnisvolles Band zwischen meiner Zelle in der Festung und dem Zimmer in Petersburg, wo meine[[Besitz]] Mutter lag, existierte; wenn sich meine[[Besitz]] Stimmung etwas hob, dann tröstete mich der Gedanke, der Mutter gehe es besser; wenn mich die Unruhe stärker ergriff, war ich überzeugt, die Mutter liege in Todesschmerzen. Am 15. November 1903 schloß sie die Augen für immer. Die um mich besorgten Gendarmen, die mich nicht hatten aufregen wollen, wie der Inspektor später erklärte, übergaben mir den Brief, in welchem die Schwestern mir den Tod mitteilten, nicht. Anstatt des Briefes teilte mir der Inspektor die Todesnachricht mündlich mit, wobei er alles durcheinander brachte und mir sagte, die Mutter sei in Petersburg beerdigt worden. Ich wußte, daß Petersburg der Mutter immer fremd gewesen war; nichts als die Ausbildung der Kinder verband sie mit der Stadt. Lieb und teuer war ihr das Dorf Nikiforowo {{[Nikiforowo]}} im Gouvernement Kasan, wo unser »altes Haus« stand und alles an ihre und unsere Kindheit, an Freuden und Schmerzen unseres gemeinsamen Lebens erinnerte. Dort, neben dem Vater und unserer Wärterin, wollte sie liegen … Ob ich sie noch sehen werde? … Nein, ich werde sie nicht sehen … nicht sehen … nein … ich werde sie sehen … so hatte ich im Laufe von 10 Monaten ununterbrochen geraten, beim Gedanken, ob sie bis zum 28. September 1904, dem Tage, wo ich die Festung verlassen sollte, leben werde. Jetzt hatte das Raten ein Ende. Die Mutter hatte meine[[Besitz]] Entlassung nicht erlebt, sah mich nicht wieder. Vielleicht war es so besser: sie hätte mich in dem Alter wiedergesehen, in dem sie selbst stand, als wir uns trennten. Und auch ich hätte nicht mehr dieselbe wiedergesehen, die ich im Jahre 1884 zum letztenmal umarmte; ich hätte eine andere gesehen, eine ganz Veränderte, verändert durch 20 Jahre und durch die furchtbare Krankheit. Die Nervenanspannung ließ plötzlich nach; ich brach völlig zusammen und verfiel in einen Zustand, in dem man weder sehen noch hören noch sprechen will; wo man keine Worte mehr hat, wo überhaupt nichts weiter als eine grenzenlose körperliche Schwäche und eine absolute Lethargie die Seele ergreift … So verging der Dezember, der Januar, und es kam der März. Der März hatte diesmal eine für Petersburg ganz ungewöhnliche Witterung. Es waren helle, immer klare Tage; die Sonne wärmte ungewöhnlich stark. Ich lag ganze Tage auf dem von besorgten Kameraden ganz primitiv hergerichteten Liegestuhl. Niemand störte mich; ringsum unter dem wolkenlosen Frühlingshimmel war es ruhig. Die Sonne sandte ihre heißen Strahlen; der erschöpfte Körper und die erschöpfte Seele schlummerten. Im Februar bekam ich den im November zurückgehaltenen Brief der Schwestern. Sie[[1]] schrieben, daß die ganze Familie die Mutter nach Nikiforowo begleitet und dort begraben hatte, so wie sie es sich gewünscht habe. Am 9. März antwortete ich ihnen: &&rl=10 &&rr=10 Meine[[Besitz]] Teueren! Ich will nichts von unserer Mutter schreiben, auch nichts – wozu an Eueren Nerven zerren? – von meiner Stimmung: sie ist lauter Trauer und Erschöpfung. Trauer, weil Mutter 21 Jahre lang das Zentrum meiner Empfindungen gewesen ist. Erschöpfung, weil ich ein ganzes Jahr vor ihrem offenen Grabe gestanden, in beständiger Unruhe, Aufregung und Sorge. Für mich ist der Gedanke tröstlich, daß Ihr sie bis zur äußersten Grenze, die dem Menschen möglich ist, begleitet habt, und daß sie nicht im kalten und unfreundlichen Petersburg liegt, sondern in ihrem geliebten Nikiforowo, das auch uns allen immer lieb gewesen und jetzt noch teurer, noch lieber geworden ist. Ich hielt es immer für ein Glück für jeden Menschen, ein Plätzchen zu haben, das mit Kindheitserinnerungen verknüpft ist, wo er zuerst die Weite des Himmels und die der Wiesen lieben gelernt; wo sich verschiedene Familienereignisse abspielten und wo die verstorbenen Angehörigen ruhen … Ich denke oft an Euch und stelle mir in Gedanken vor, wie Ihr nach Nikoforow fuhrt, und diese Gedanken rufen unaufhaltsam Tränen hervor … &&x &&rl=0 &&rr=0 &&am &&g1="Am_Vorabend" &&fa Am Vorabend &&fe &&ax Die Zeit verging, und immer mehr näherte sich der Tag des Umschwungs in meinem Leben, das Verlassen der Festung. Der Gedanke an diesen Moment gab mir nie auch nur die geringste Freude. Nie, nie! Ich wandte mich an einen Kameraden, der gleichzeitig mit mir die Festung verlassen sollte, mit der Frage, »ob er den Hauch der bevorstehenden Freiheit fühle, ob er fühle, daß er an der Grenze einer freudigen Umwälzung seines Lebens stehe?« »Nein,« erwiderte er mir, »ich fühle nichts, ich bin wie aus Holz.« Ebenso freudlos blickte ein anderer Kamerad, der nach 22jähriger Haft entlassen werden sollte, in die Zukunft. Die Freiheit kam für uns zu spät. Mein Nachbar und Freund sprach mir vom weiten, unbegrenzten Himmel, von den Sternen der Nacht, vom Umgang mit der Natur und vom Glück, das ich in diesem Umgang finden werde. Ich aber dachte damals weder an den unbegrenzten Himmel noch an die Sterne. Ich erwog in meiner Seele das Ziel und den Sinn des Lebens … Und was können mir Himmel und Sterne sein, wenn ich nicht weiß, wovon leben und wozu leben! Wie grenzenlos hatte ich mich in den ersten Jahren nach dem »freien« Himmel und seinen Sternen gesehnt! Jetzt war auch diese Sehnsucht tot. Die Seele war wie erstarrt, erfroren, aller Durst nach Schönheit, nach der Welt war verschwunden – nur eine grenzenlose Leere war geblieben … Ein einziges Mal nur durchfuhr mich plötzlich ein Zittern, ein unklares Vorgefühl der Freiheit, der Pulsschlag des Lebens: Es war Abend; etwa gegen 10 Uhr. Ich saß am Tisch mit dem Gesicht zum Fenster; wie immer hatte ich den Rücken der Tür zugewendet, um dem lästigen Hereinblicken der Gendarmen durch das Guckloch zu entgehen. Es war Ende Juli, und bis zum Verlassen der Festung blieben nur noch 60 Tage. In der dumpfen Zelle fühlte ich deutlich den erfrischenden Hauch der feuchten Luft von draußen hereinwehen. Plötzlich hörte ich das Plätschern eines Schiffrades im Wasser und bald darauf den Pfiff eines Dampfers. Ich erbebte. Vor[[Präposition]] meinen[[Besitz]] Augen erstand die Erinnerung an eine Wolgafahrt. Ich stand in der Dunkelheit auf dem Verdeck und versuchte vergeblich zu unterscheiden, wo das Wasser aufhörte und das Ufer begann. Nur ganz, ganz hoch glühten in der Dunkelheit einzelne kleine Lichter in den Fenstern der Hütten. Viel, sehr viel kleine Lichterchen, verstreut in den Bergen … Ach, diese dunkle Nacht auf der Wolga, auf dem Dampfer! Das Geräusch der Räder, das Pfeifen …, die Lichter und das Knarren des Holzes … Freiheit … das Leben in der Freiheit! … Ein Zittern durchlief mich … Die Erinnerung an die Vergangenheit, die Hoffnung oder das Vorgefühl der Zukunft – die Wolga, der Dampfer, die Nacht und die Lichter, das Drängen der Menschen an der Anlegestelle … Ja, der mächtige und herrliche Zug zur Freiheit! Das Ersehnte … Dann ist alles wieder still, innen wie außen. Es ist, als ob nichts geschehen wäre … Im Juli bekam ich zum letzten Mal einen Brief von den Schwestern. »Es ist zwar der letzte,« schrieb ich ihnen zur Antwort, »und doch ist mir, nachdem ich ihn gelesen, wie immer schwer und traurig zumute … Ihr schreibt, mein letzter Brief habe Euch bekümmert. Aber was tun? Wenn ich gar nicht geschrieben hätte, hättet Ihr Euch beunruhigt und offizielle Anfragen gemacht. Also mußte ich irgendwie damit fertig werden. Und jetzt gehört er der Vergangenheit an. Ihr schreibt mir, daß das Denkmal auf dem Grab der Mutter in der Gestalt einer Kapelle erbaut werden wird. Mir würde ein Kreuz und eine Umzäunung mehr sagen … Aber der hauptsächlichste Schmuck sind meiner Ansicht nach doch die Pflanzen und Bäume. Im Winter schaut öfter der Mond zu mir herein und versetzt mich stets in eine besondere Stimmung, die ein Echo jener wunderbaren Sommerspaziergänge ist, die ich einst auf dem Lande in Gesellschaft gemacht habe … Aber in diesem Winter hat sich alles verändert. Der Mond war ganz besonders aufdringlich, und ich sah dann immer Schneefelder und unseren Friedhof in Nikiforowo: es glänzt der kalte Schnee, ein eisiger Wind heult, und hoch oben derselbe Mond, der auch zu mir hereinschaut. Und mir schien dort alles so öde, nackt und kalt und unheimlich … Dann dachte ich, wie gut es doch wäre, den Friedhof mit jungen Tannen zu bepflanzen, die immer, Sommer und Winter, grünen würden. Dann würde es doch nicht mehr so traurig sein, und die ganze Ortschaft würde viel in ihrem Aussehen gewinnen durch diese kleine, grüne Insel, eingerahmt von Bäumen. Die Tannen sind dort so schlank und schön, das Auge erquickt sich an ihnen. Anspruchslos gedeihen sie auf jedem, auch dem magersten Boden; es sind meines Erachtens die schönsten Bäume unserer Flora. Ich liebe die Tannen seit meiner Kindheit dank der schönen Tannenalleen, die unsere Mutter in {{Christoforowka}} auf dem Wege zur fernen Laube gepflanzt hat … In einer Novelle von Tschechow charakterisiert der Verfasser die Nichtswürdigkeit seines Helden, und das, was er ihm zuletzt noch vorwirft, lautet: kein Bäumchen hat er gepflanzt, kein einziges Gräschen gezogen. Unsere Mutter stand in der Beziehung sehr hoch: sie suchte immer die Erde zu schmücken, überall dort, wo sie je gelebt, ließ sie sie schöner zurück, als sie sie gefunden. Ihr werdet Euch wahrscheinlich wundern, daß ich am Vorabend eines so wichtigen Umschwunges in meinem Leben den Brief nicht mit Gesprächen über die Zukunft ausfülle. Aber in meinem Kopf ist es wüst, eine innere Arbeit vollzieht sich in mir, die ich schriftlich schwer formulieren kann. Wenn man sich außerhalb des Lebensprozesses befindet, dann wird man von einem geheimnisvollen Gefühl ergriffen, und das Leben scheint rätselhaft und kompliziert … Man möchte in die Zukunft schauen, das Schicksal erkennen, ihm Antworten entreißen, aber alles ist vergeblich. Die Fragen bleiben unbeantwortet; alles ist in Nebel gehüllt und verrät nichts von dem, was sein wird … Mein äußeres Leben geht seinen alten Gang, und ich beschäftige mich nach wie vor, aber allmählich liquidiere ich meine[[Besitz]] Angelegenheiten und bringe nach und nach alles in Ordnung. Lebet wohl, ich küsse Euch alle, die Großen und die Kleinen. Was kommen soll, wird kommen!« &&x &&am &&g1="Die_verbrannten_Briefe" &&fa Die verbrannten Briefe &&fe &&ax Nur noch vier Tage sind mir bis zum Verlassen der Festung geblieben. Ich sitze in meiner Zelle am Tisch vor meinen[[Besitz]] aufgehäuften Papieren und weine und lache abwechselnd. Der Kommandant hat mir soeben erklärt, daß die ganzen Hefte, die ich mitnehmen will, dem Polizeidepartement zur Zensur unterbreitet werden müssen. »Von Schlüsselburg darf kein Wort erwähnt werden. Nach der Durchsicht bekommen Sie[[1]] sie zurück.« Mechanisch wiederholte ich das Gehörte: »Kein Wort über Schlüsselburg. Später bekommen Sie[[1]] sie zurück!« Zum letzten Mal sehe ich meine[[Besitz]] Manuskripte durch und schreite dann an die Vernichtung dessen, was mir einst so viel Trost und Freude gab. Fieberhaft arbeitet meine[[Besitz]] Hand und löscht die teueren Zeilen meiner Kameraden aus, die mich so oft gerührt und gestärkt haben. Nie mehr werde ich sie sehen, und eigenhändig muß ich diese schnöde Arbeit tun, sie vernichten. Noch einmal lese ich jeden Zettel, durchdrungen vom Bewußtsein, daß es das letztemal ist. Hier ein ganzer Stoß: ernste, scherzhafte, rührende. In ihnen spiegeln sich die durchlebten Gefängnisfreuden, Mißverständnisse, Versöhnungen, Dankbarkeitskundgebungen, verschiedenartige, denkwürdige Minuten unseres Lebens wider. Hier diese schöne, feine Handschrift: ganze literarische Aufsätze Lopatins. Da – Lukaschewitsch, der liebe Lukaschewitsch! Er ist so groß und so gut – mit seinen durchsichtigen Kinderaugen. Ich würde unter tausenden seine Handschrift erkennen. Dazu eine geologische Karte als Geschenk. Dann wieder ein Zettel von ihm, datiert vom März 1902, der mich tief rührt und mich hoch erhebt. Soll ich ihn tatsächlich auch verbrennen? Tränen fließen aus meinen[[Besitz]] Augen. Ein Zettel von Pochitonows Hand, als er noch gesund war. Da – einer von Wasili Iwanow, nachdem ich ihn für den unpassenden Scherz, daß Lagowski weggeführt worden sei, beleidigt hatte. Hier wieder eine Zeichnung von Lopatins Hand: eine Säule, auf ihr ein Mäuschen (ich), unten ein Löwe (Lopatin) und dazu der Wahlspruch: Ich diene, aber bediene nicht. Oh, du stolzer Löwe Lopatin! Wieder Lukaschewitsch: ein paar Zeilen mit der Zeichnung eines bunten Vogels. Gedichte und Zettel von Noworusski. Ein Zettel in englischer Sprache von Popow. Es ist unmöglich, sich des Lachens zu enthalten; in einem komischen Kauderwelsch dankt er mir für das Obst aus meinem Garten. Morosows Gedichte. Vieles, vieles andere. Ernst und scherzhaft, – zart und gütig! Ich lese, und ein Gefühl der Freude und Dankbarkeit für alle Liebe, mit der die Leidensgenossen mich beschenkt haben, erfüllt mich. Es scheint mir wunderbar, wie sie unter diesen Bedingungen, die so geeignet waren, böse und hart zu machen, so viel nie versiegende, aktive Liebe und Zärtlichkeit bewahren konnten, um sie mir mit nie abnehmender Wärme und Energie zu spenden. Ich verglich sie mit mir selbst: wie unvorteilhaft war für mich der Vergleich! So oft schien es mir, daß ich nichts, entschieden gar nichts mehr lieb habe. Es schmerzte mich, daß ich nicht jene Güte in mir habe, die unter allen Umständen eine Quelle der Wärme für die Umgebung ist. Alle meine[[Besitz]] Schätze haben vor mir Revue passiert. Schon sind sie zerrissen; ich zünde das Zündhölzchen an, nichts als ein Häuflein Asche ist von all dem übriggeblieben. Ich habe etwas verloren, etwas zu Grabe getragen. Ein Stück menschlicher Seele, die Widerspiegelung der Seele, die mir ergeben war, sich mir hingegeben hatte. Lebt wohl, teuere Freunde! Lebt wohl, ihr, die ihr mir so viel gegeben habt, lebt wohl, ihr, die ihr mir eure Liebe für das Wenige, das ich euch gab, gespendet habt. &&x &&am &&g1="Hüte_Dich" &&fa »Hüte Dich« &&fe &&ax Am 28. September 1904 waren 20 Jahre seit meiner Verurteilung verflossen, und an diesem Tage sollte ich Schlüsselburg verlassen. Aber am Vorabend wurde mir mitgeteilt, daß ich nicht am nächsten, sondern erst am übernächsten Tage, d. h. am 29. September, fortgeführt werden sollte. Ich aber hatte in der Erwartung der bevorstehenden Abreise mich von den Kameraden schon verabschiedet: es blieben ihrer in der Festung noch neun zurück. Alles, was man sich gegenseitig hatte sagen wollen, war gesagt, alle Wünsche waren ausgesprochen, und die kleinen Bitten und Aufträge dem Gedächtnis eingeprägt worden. Da, ganz unerwartet – ein Aufschub: ganze 24 Stunden, die mit nichts mehr auszufüllen waren als mit verhaltener Erwartung. Als wir uns am 27. verabschiedeten, beherrschten wir uns alle; wir durften uns doch von unseren Gefühlen nicht übermannen lassen und beim letzten Abschied, der für immer galt, nicht schwach werden. Der eine schluckte Tränen, dem anderen versagte die Stimme. »Nein, nein, es darf nicht sein!« sagte ich und wandte mich ab, um meine[[Besitz]] Tränen zu verbergen. »Sie[[1]] werden sicherlich beim Verlassen Schlüsselburgs weinen,« sagte mir ein paar Tage vor meiner Abreise ein Kamerad. »Wieso?« widersprach ich heftig. »Warum? Wie sollte man weinen, wenn man diesen Ort verläßt?« O weh! Nicht während des Verlassens, aber später auf dem Dampfer, als die Türme und weißen Mauern der Festung meinen[[Besitz]] Augen entschwanden, weinte und schluchzte ich voll Verzweiflung. Als ich jene Worte sprach, hatte ich nur an das steinerne Grab gedacht, in dem ich so viele Jahre geschmachtet hatte, und nicht an die lebendigen Menschen, die ich gegen meinen[[Besitz]] Willen verlassen mußte. Und als ich jetzt an sie dachte, ergriff mich Kummer und Verzweiflung. Kummer um jene, die hoffnungslos in der Festung zurückgeblieben, Verzweiflung über den unersetzlichen Verlust, der über mich hereingebrochen. Ja, ich verlor Menschen, mit denen ich unter ganz außerordentlichen Verhältnissen, eng verbunden, 20 Jahre gelebt hatte. Im Laufe von 20 Jahren waren diese Menschen die einzigen, mit denen mich die Bande der Brüderlichkeit und der Solidarität, der Liebe und Freundschaft verknüpften. Bei ihnen fand ich Halt, Trost und Freude. Die Welt war mir verschlossen, alle menschlichen Bande zu ihr zerrissen, und sie, nur sie hatten mir die Familie, die Gesellschaft, die Partei, die Heimat und die ganze Menschheit ersetzt. Ich hatte Grund genug zum Weinen, zu verzweiflungsvollem Schluchzen! Jene blieben schmachtend in der Hoffnungslosigkeit zurück, vielleicht, um in ihr zu sterben, und ich, die seelisch von allem entblößt war, trat in eine neue Periode meines Lebens ein, die Befreiung, Auferstehung heißen sollte, aber als verspätete und einsame Freude wie ein Hohn wirkte. Am 29. September 1904 um 4 Uhr öffnete der Wachtmeister meine[[Besitz]] Tür, und ich überschritt zum letztenmal die Schwelle. Ernst, gesammelt, freudlos durchschritt ich den Korridor. Festen, gewohnten Schrittes gehe ich den bekannten Weg, so wie ich ihn unzählige Male gegangen; ich gehe, als ob mich der übliche Spaziergang oder die Arbeit in der Werkstatt erwarte und nicht die große Umwälzung in meinem Leben, – die Rückkehr ins »Leben«. Doch kaum habe ich die gewohnten Grenzen überschritten und bin in die Wachstube eingetreten, da erfaßt mich ein Schwindel. Der Körper verliert sein Gleichgewicht, der Boden schwankt unter meinen[[Besitz]] Füßen, und die Wand, nach welcher ich vergeblich greifen will, flieht vor mir. Unter Tränen rufe ich: »Ich kann nicht gehen, die Wand bewegt sich! – ich kann nicht gehen!« Die mich begleitenden Gendarmen stützen mich und trösten mich mit der Erklärung, das komme von der frischen Luft. Diese Worte, die sich auf die Luft in einem Zimmer beziehen, das nie gelüftet wird, und in dem Jahr für Jahr zwölf Soldaten der Garnison, die jetzt in Reih und Glied dastehen, sich Tag und Nacht aufhalten, bringen mich sofort wieder zur Besinnung. Einen Moment noch, – und wir gehen hinaus. Ich wende mich noch einmal um, schicke die letzten Grüße in der Richtung der Festung. Dort stehen die Kameraden, eng an die Fensterscheiben gepreßt, und schwenken weiße Tücher zum letzten Gruß: »Lebt wohl! Lebt wohl!« Der Dampfer, der mich nach Petersburg bringen soll, ist noch nicht da; ich muß in der dumpfen, stickigen Kanzlei warten, wo der Kommandant und seine Untergebenen sich befinden. »Vielleicht wollen Sie[[1]] Tee[[Variante1]], Wera Nikolajewna?« fragt mich der Kommandant. Wera Nikolajewna! Im Laufe von 20 Jahren hatte ich hier bei diesen Menschen keinen Namen. 20 Jahre lang war ich nur eine Nummer. Nr 11 nannte man mich gewöhnlich; vor etwa 10 Minuten war ich noch Nr 11 … und nun plötzlich: Wera Nikolajewna! Nein, ich will ihre Liebenswürdigkeit nicht! &&x Eine Stunde, vielleicht auch mehr, vergeht. Endlich erscheint der Inspektor: ein unangenehmer, kleinlicher Mensch, gegen den wir alle einen Widerwillen hegten. »Bitte,« sagt er, und wir gehen zum Festungstor hinaus. Nur einige Schritte noch, – und das Gefängnis, wo die Kameraden zurückbleiben, entschwindet meinen[[Besitz]] Augen. Ich wende mich nicht um, ich fürchte mich davor; ich muß unter allen Umständen meine[[Besitz]] Fassung bewahren. Rechts vom Tore liegt der Ladoga-See. Die Sonne wirft ihre Strahlen über ihn, und in den zurückgeworfenen Strahlen glänzt er wie Quecksilber. Vorne sieht man die dunkle Newa; ihre Gewässer, auf denen sich kleine Wellen bilden, glänzen bleiern. Mitten im Strom steht unbeweglich der Dampfer, auf dem anderen Ufer sieht man in rosarotem Schimmer die trüben Umrisse einer Ortschaft. Alles ist schön; ich bin mir dieser Schönheit bewußt, aber ich fühle sie nicht, ich freue mich ihrer nicht, ich bin nicht hingerissen, und ich wundere mich selbst, daß ich so kalt bin und nur beobachte. Die Sonne steht am freien, unbegrenzten Horizont. Ich empfinde nichts bei diesem Anblick. Dunkle Wolken ziehen nach dem Westen. Ich denke: welcher Farbe entspricht diese Wolke? Ich bestimme: Neutraltinte. Ich schaue mir das genau an, und ein sonderbarer Gedanke kommt mir in den Kopf: welcher mir bekannten Illustration aus einer Zeitschrift ähnelt diese Landschaft wieder? In Begleitung des Inspektors und mehrerer Gendarmen fahre ich im Kutter zum Dampfer: keine Seele ist auf ihm sichtbar. »Polundra« {{[Polundra]}} lese ich, und die Bezeichnung prägt sich mir ein. »Polundra« bedeutet im Matrosenjargon »Hüte dich«, erklärte mir einige Tage später während des Wiedersehens mein Bruder Nikolai. Wie oft hat mir später das Wort »Polundra« das Herz beklemmt … An der Schwelle eines neuen Lebens, nach allem, was gewesen, ruft mir das Schicksal anstatt eines freundlichen Begrüßungswortes sein drohendes »Hüte dich« entgegen. Wollte es mich warnen, keine Illusionen zu haben? Wollte es sagen: »Nicht genug. Noch manches steht dir bevor?« Die unheilverkündende Warnung quälte mich und weckte Unruhe und Trauer in mir. Auf dem Dampfer fragte ich den Inspektor, wohin man mich führe. Er erwiderte: »Gestern habe ich Ihre zwei Kameraden in das Untersuchungsgefängnis gebracht, Sie[[1]] aber kommen in die Peter-Pauls-Festung.« Das Herz zog sich mir zusammen: wieder in die Festung! Der herrliche Kai der Newa war hell erleuchtet, als »Polundra« gegen 10 Uhr abends an der Peter-Pauls-Festung anlegte. Es dunkelte mir vor den Augen, und ich sah nichts mehr vor mir. Zwei Gendarmen faßten mich am Arme und führten mich vom Schiff. An der Landungsbrücke erwartete uns ein Wagen … Die eisernen Tore der Festung sind mir bekannt. Vor[[Präposition]] 20 Jahren ging ich hier heraus, jeder Hoffnung bar, und nur der mitleidige Blick des Festungssoldaten begleitete meine[[Besitz]] Gestalt im grauen Sträflingsmantel mit dem gelben Fleck auf dem Rücken. Ich kenne auch die Treppe und den langen Korridor; durch ihn ging ich alle zwei Wochen einmal zum Wiedersehen mit Mutter und Schwester. Hier ist die Zelle Nr 43, in der ich fast zwei Jahre bis zur Verhandlung verbracht hatte. Aber wir schritten an ihr vorbei; ich wurde in einer anderen Zelle, in einem anderen Korridor untergebracht. Die Zelle war groß, aber niedrig. Anstatt der Petroleumlampe brannte ein elektrisches Lämpchen. Es war so unangenehm in der neuen Umgebung. Doch kaum hatte ich mich auf die Pritsche gesetzt und meine[[Besitz]] Gedanken sammeln wollen, als das Schloß rasselte und schnellen Schrittes ein hoher Mann in mittleren Jahren in Offizierskleidung die Zelle betrat. Sein Gesicht war blaß und farblos, die Augen unangenehm. »Hier bei uns werden Sie[[1]] es gut haben,« empfahl er meine[[Besitz]] neue Wohnung. »Nicht mehr dasselbe wie früher: elektrisches Licht und alle Bequemlichkeiten,« sagte er und zeigte mit der Hand auf die Lampe und das WC, das ohne Deckel war. Was bedeutet das, frage ich mich beunruhigt. Allem Anschein nach rechnet dieser Herr darauf, daß ich noch lange seine Gastfreundschaft genießen werde. Soll ich, anstatt nach Sibirien geschickt zu werden, hier bleiben, bin ich nur aus einer Festung in die andere überführt worden? Er begann indessen mich mit Fragen über Schlüsselburg zu überschütten. Wie ich dort gelebt? Ob ich Bücher, Zusammenkünfte mit den Verwandten gehabt habe? Zu alledem setzte er sich, ohne mich zu fragen, auf meine[[Besitz]] Pritsche, einen Fuß über den anderen geschlagen. Ich war im Gefängnis menschenscheu geworden; ich war nie mit jemand allein in meiner Zelle geblieben, mich erschreckte dieser unbekannte, aufdringliche Mensch, der sich da so familiär auf meine[[Besitz]] Pritsche setzte. »Gehen Sie[[1]] fort! Fort!« rief ich zornig aus und sprang auf. Der Inspektor hatte wohl einen solchen Empfang nicht erwartet, sprang auf und verschwand im nächsten Augenblick. &&x Endlich bin ich allein, kann mich aber nicht beruhigen. Wieviel hatte ich an diesem Tage durchlebt, und wieviel Unbekanntes stand mir noch bevor. Werde ich fortgeführt, oder bleibe ich hier? Wie werde ich meine[[Besitz]] Angehörigen wiedersehen? Die Mutter ist tot, – hat es nicht erlebt. Es ist besser so. Welch ein Wiedersehen wäre das geworden? Sie[[1]] – auf dem Sterbebett; von Gendarmen begleitet wäre ich zu ihr gekommen … Was hätten wir uns da sagen können: die sterbende Mutter und die Tochter, die nach zwanzig Jahren das Gefängnis verläßt. Kein Mensch könnte ein solches Wiedersehen ertragen … Und die Gendarmen an der Tür … Ich kann mich nicht beruhigen; auf welche Weise den Gedanken entfliehen? Wenn ich wenigstens ein Buch hätte, um mit fremden Gedanken die eigenen zu betäuben! Ich klopfte an die Tür. »Wachhabender, bitte, besorgen Sie[[1]] mir ein Buch; ich kann auf einer neuen Stelle nicht schlafen!« »Ich weiß nicht,« erwiderte der Gendarm, »die Bibliothek ist geschlossen, aber ich werde fragen.« Nach einer Viertelstunde erschien ein Unteroffizier mit schönem, intelligentem Gesicht. Er reichte mir ein Buch, und im selben Augenblick fiel ein Blatt heraus. Ich hob es auf, und, o Wunder, vor mir ist das schöne Porträt Nadsons {{[Nadsons]}}. Ich blättere in seinen Gedichten. Nadsons Poesie befriedigt mich nicht. Zu sehr fühle ich in ihr den Mangel an Tatkraft, und das stößt mich ab. Aber meine[[Besitz]] Stimmung schlägt um: der schwache Wille Nadsons weckt meine[[Besitz]] Kraft. Ich fürchte nichts mehr; die Angst hat mich verlassen. Heute wird nichts mehr geschehen, und morgen – an morgen will ich nicht denken! … Ich stelle das Porträt vor mich auf den Tisch, an den Wasserkrug gelehnt: mit mir ist ein Freund, ich bin nicht mehr allein. Die Glocken der Peter-Pauls-Festung singen, sie singen dasselbe Lied, das sie vor 20 Jahren gesungen … Ich schlummere ein. Die dunklen Wellen der Newa rauschen, der weiße Dampfer »Polundra« fährt ins Unbekannte. Aber ich weiß noch nicht, daß »Polundra« »Hüte dich« bedeutet. &&x &&am &&g1="Das_erste_Wiedersehen" &&fa Das erste Wiedersehen &&fe &&ax Drei Tage waren schon vergangen, und ich wartete noch immer auf das Wiedersehen mit meinen[[Besitz]] Angehörigen. »Sie[[1]] werden sie am vorgeschriebenen Besuchstag für Angehörige sehen,« sagte mir der Inspektor. Das war herzlos; doch war es weise. Die Erwartung, wie fieberhaft sie auch ist, kann nicht ewig andauern. Die Anspannung ließ nach, und am vierten Tage war ich fast ruhig geworden und hörte auf zu warten. Ich vertiefte mich ins Lesen. Ich las {{Carlyle}}: »Helden und Heldenverehrung«. Endlich, am vierten Tage, betrat gegen 1 Uhr der Inspektor meine[[Besitz]] Zelle. »Halten Sie[[1]] sich bereit, Ihr Bruder und Ihre Schwestern sind da; Sie[[1]] werden gleich zum Wiedersehen geführt.« Und als er mein erblaßtes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ich habe ihnen gesagt, daß sie sich so verhalten sollen, als ob nichts gewesen wäre!« Als ob nichts gewesen wäre! Es war herzlos, doch war es weise. Das bedeutete ein ganzes Programm. Ein Programm – nicht nur für die Geschwister, sondern auch für mich. Das Programm lautete: verstellt euch. Spielt gemeinsam die Komödie: »Als ob nichts geschehen wäre«. Stürzt nicht zu Boden, schlagt nicht den Kopf an den Boden, schluchzt nicht in seelischen und körperlichen Krämpfen. Legt eine Maske an! Erstickt jede Flamme der Seele! … Man führte mich durch lange, öde Korridore, Treppen und unbekannte Gänge. Und wieder wurden meine[[Besitz]] Schritte unsicher, und die Hände suchten einen Halt, indem sie sich an die Wände klammerten. Die Tür öffnete sich. Da saßen der Bruder und die Schwestern. Da saß ein breitschultriger Herr in mittleren Jahren, ein schöner Ingenieur, der seinen Weg im Leben machte, – mein Bruder, der in meiner Erinnerung als rotbackiger, bartloser Jüngling lebte. Da saßen stattliche Damen, Familienmütter, die Jahrzehnte voll lebendiger Erlebnisse hinter sich hatten, – meine[[Besitz]] Schwestern, die ich als zarte junge Mädchen gekannt. Und hier stand ich, wie im Dickensschen {{[Dickensschen]}} Roman die irre Alte gestanden in Brautkleidern, die ihre Uhr vor vielen Jahren auf der Zahl XII stehen ließ, als am vereinbarten Trauungstage der Bräutigam sie treulos im Stich gelassen und zur Trauung nicht erschienen war. Mein Leben war vor 20 Jahren stehengeblieben, und auch ich lebte der sinnlosen Illusion, die Lebensuhr stehe noch immer auf zwölf. Mein Bruder setzte mich vor sich hin. Er nahm meine[[Besitz]] Hände in die seinen. So hielt er sie die ganze Zeit. Regungslos schaute ich fast nur ihn an: er hatte sich am wenigsten verändert, und ich suchte, wollte den früheren, frischen, bartlosen Peter wiederfinden. Ich mußte unter allen Umständen etwas Bekanntes, Nahes, Verwandtes finden. Allmählich begann ich die zarten Umrisse aus der fernen Vergangenheit wiederzufinden. Ich fing an, das wiederzuerkennen, das zu finden, was ich suchte. Es schien, als fände ich in der trüben Ferne in Chaos und Unklarheit, 20 Jahre zurückgreifend, einen feinen Faden, an dem ich meine[[Besitz]] Erinnerungen anknüpfen und die Vergangenheit mit der Gegenwart, dieser für mich so unglücklichen Stunde, verbinden könnte. … Worüber wir sprachen? Ich erinnere mich nicht. Leere Worte ohne Inhalt fielen nacheinander von unseren Lippen und erklangen gleich falschen Münzen, die man auf einen Marmortisch wirft. Die Lichter erloschen, man spielte das Stück: »Als ob nichts gewesen wäre!« »Das Wiedersehen ist zu Ende!« ertönte die Stimme des Inspektors … In dieser Nacht fühlte ich mich an der Schwelle des Wahnsinns: unzusammenhängende Worte, chaotische Sätze, durch nichts miteinander verbunden, rasten durch mein Gehirn. Sie[[1]] überstürzten sich, flogen wie aus einem Sack geschüttete weiße Papierschnitzel auf, und Funken tanzten, wie nach einem Faustschlag, vor meinen[[Besitz]] Augen. Und gleichzeitig fragte das Bewußtsein wie ein objektiver Beobachter voll Angst und Entsetzen: Was ist das? Wird das etwa so bleiben, und werde ich wahnsinnig? Das Werk wurde im Einverständnis mit der Verfasserin etwas gekürzt.